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Stephan Lessenich: Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis

01.03.2017
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Autorenprofil
Martin Repohl, M.A.
München, Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag 2016

Spätmoderne Wohlstandsdemokratien beruhen auf zwei essenziellen Grundnarrativen, die unabdingbar für das Funktionieren der kapitalistischen Lebensweise sind: 1. Wachstum ist unbegrenzt möglich und 2. ein bestimmtes Maß an sozialer Ungleichheit legitim, solange alle vom Wohlstand profitieren können. Diese Selbstbeschreibungen einer Wohlstandgesellschaft finden daher allzu oft ihren Ausdruck in politischer Rhetorik. Dennoch ist es in Anbetracht von Klimawandel, globalen Migrationsbewegungen, sich dramatisch verschärfender sozialer Ungleichheit und erstarkendem Rechtspopulismus offensichtlich, dass sie nicht nur nicht die kapitalistische Funktionsweise adäquat wiedergeben, sondern die negativen strukturellen Auswirkungen einer ganzen Lebensweise im Sinne einer Selbstversöhnung zu verschleiern suchen.

Stephan Lessenich, Professor für Soziologie an der Universität München und Special-Fellow am DFG-Kolleg für Postwachstumsgesellschaften an der Universität Jena, unterzieht dieses Modell westlicher Wohlstandsgesellschaften einer scharfsinnigen Kritik. So bezeichnet er dieses Modell als „Externalisierungsgesellschaft“, die zu ihrer Selbststabilisierung die negativen Effekte ihrer Lebensweise systematisch in andere Weltregionen auslagert. „Es geht um die andere Seite der westlichen Moderne, um ihr ‚dunkles Gesicht‘, um ihre Verankerung in den Strukturen und Mechanismen kolonialer Herrschaft über den Rest der Welt. Es geht um Reichtumsproduktion auf Kosten und um Wohlstandsgenuss zu Lasten anderer, um die Auslagerung der Kosten und Lasten des ‚Fortschritts‘“ (17). Gemeint ist also eine Auslagerung der negativen Effekte von Produktionsweisen, Lebensentwürfen und Gesellschaftsstrukturen, hin zu weniger bevorteilten Gruppen und Ländern. Dies bedeutet aber nicht nur eine soziale Ungleichheit zwischen Externalisierungsgewinnern und -verlieren, sondern setzt ebenso eine immanente Beziehung zwischen beiden voraus, denn die Gewinner können eben nur auf Kosten der Verlierer ihre Positionen erlangen und behaupten. Der Begriff „Externalisierung“ beschreibt also ein so vielschichtiges wie komplexes Phänomen. Daher ist es konzeptuell folgerichtig, wenn der Autor diesen Begriff als umfassendes und integratives Konzept formuliert, mit dem schließlich sowohl strukturelle, prozessuale und praktische als auch psychologische Aspekte in den Blick genommen werden können.

Zunächst beschreibt Lessenich „Externalisierung“ als eine soziale Praxis. Sie ist demnach ein Habitus, „den die Mitglieder der Externalisierungsgesellschaft wie selbstverständlich an den Tag legen und der ihre Lebensführung ganz alltagspraktisch bestimmt“ (62). Als vorbewusste habituelle Einstellung erfordert dies jedoch eine Verdrängung der Folgen des eigenen Tuns, eines verallgemeinerten „Nicht-wissen-Wollens“ (67). Und so wird weder danach gefragt, warum sich der Wohlstand vermeidlich immer weiter steigern lässt, noch „wie es kommt, dass es so bleibt“ (67). Diese Praxis ist jedoch nur erfolgreich, wenn sie strukturell eingebettet ist. Daher nimmt Lessenich neben der individuellen Perspektive auch die der Weltgesellschaft ein, um diese in Anlehnung an kapitalistische Weltsystemanalysen als Zusammenspiel asymmetrischer Macht- und Ausbeutungsbeziehungen betrachten zu können. Dies bedeutet zum einen, dass der Kapitalismus für den Erhalt seines Wachstums auf immer neue Landnahmen angewiesen ist, und zum anderen, dass die externen Effekte nicht nur nicht in die eigene Bilanzierung eingehen, sondern auch, dass ihre Externalisierung als ungleicher Tausch Teil der Ausbeutungsbeziehung selbst ist. Besonders deutlich wird dies in der Bilanzierung von Umweltschäden, treten diese doch am Ort der Produktion auf (beispielsweise als Abwässer der Textilindustrie) und müssen dort von den ohnehin ökonomisch benachteiligten Arbeitern und Arbeiterinnen zusätzlich getragen werden – während in den hiesigen Wohlstandszonen die Umweltqualität sogar verbessert werden kann.

Dem Autor gelingt es in der Zusammenschau von individuellem Handeln und strukturellen Erfordernissen die Statik hierarchischer Modelle sozialer Ungleichheit zu überwinden und so den relationalen Charakter ihrer Dynamik in den Vordergrund zu stellen. Dies bedeutet vor allem ein In-Beziehung-setzen „zwischen der Macht der einen und der Machtlosigkeit der anderen, dem Nutzen hier und dem Schaden dort, den Chancen an dieser und den Risiken an jener Stelle, unserem eigenen Leben und dem Leben der anderen“ (49). In diesem Anspruch liegt die besondere Leistung des Autors, denn es geht hier nicht um die Etablierung einer weiteren Bindestrichsoziologie, sondern um die Ergründung einer zutiefst ungleichen und ungerechten Machtbeziehung. Daher entwickelt Lessenich nicht nur einen theoretisch informierten und präzise strukturierten Analyserahmen, sondern wendet diesen auch zur Erläuterung verschiedenster Beispiele an. Diese machen auf drastische Weise deutlich, dass nicht nur Umwelteffekte externalisiert werden, sondern auch, wie externer Flächenverbrach durch Landgrabbing die Nahrungsmittelversorgung ganzer Länder gefährden kann und wie ein globales Mobilitätsregime die Bewegungsfreiheit der Benachteiligten beschränkt. Auch im Bereich des Digitalen ist Externalisierung eine gängige Praxis, wie das Beispiel Commerical Content Moderation zeigt: So müssen Beschäftigte, häufig in Südostasien, die sozialen Netzwerke von verstörenden Inhalten und Bildern säubern, die dort täglich verbreitet werden. Die psychischen Folgen wie Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen müssen auch hier von den Ausgebeuteten selbst getragen werden. Diese Beispiele verdeutlichen aber auch, dass sich strukturelle Rückkopplungseffekte immer schwerer vermeiden lassen, wie gerade die globalen Migrationsbewegungen und der Klimawandel eindrücklich vor Augen führen.

Lessenich legt mit „Neben uns die Sintflut“ eine glänzend geschriebene, leicht verständliche, aber ebenso soziologisch fundierte wie präzise formulierte Arbeit vor, die im besten Sinne einer kritischen Soziologie nicht nur informieren, sondern auch zum gesellschaftlichen Nachdenken anstoßen will. Denn eines wird mit der Lektüre unmissverständlich klar: „Wir leben nicht über unsere Verhältnisse, sondern über die Verhältnisse der anderen – und zugleich unter unseren Möglichkeiten, nämlich unseren Möglichkeiten zur Änderung der Verhältnisse“ (196).

 

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