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Wer steht für Russlands Zukunft? Ein kritischer Blick auf das System vs. Sympathie für die Menschen

05.01.2017
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Autorenprofil
Wilhelm Johann Siemers, Dipl.-Politologe

 

Die Bücher „Das System Putin“ und „Generation Putin“ sind aus sehr unterschiedlichen Perspektiven geschrieben: Igor Eidman ist russischer Soziologe und Cousin des ermordeten Politikers Boris Nemzow. Als Kommunikationsdirektor beim Allrussischen Meinungsforschungszentrum (WZIOM) deckte er Fälschungen von Forschungsergebnissen zugunsten des Kremls auf. Um seine Familie zu schützen, ging er 2011 nach Deutschland. Eidman lebt seitdem im Exil und kritisiert mit soziologischer Tiefenschärfe die Politik seines Heimatlandes. Sein Buch „Das System Putin“ ist als Weckruf an die Europäer zu verstehen, die, so Eidman, die Gefährlichkeit des russischen Präsidenten Wladimir Putin unterschätzen. Der deutsche Journalist Benjamin Bidder wirbt für Verständnis gegenüber Russland. Er war von 2009 bis 2016 Moskau-Korrespondent für SPIEGEL ONLINE und betrachtet Russland aus der Außenperspektive. In seinem Buch porträtiert er junge Erwachsene im Zeitraum von 2011 bis 2016. Diese gehören zur „Generation Putin“ (20), sind also nach 1991 geboren. Sie wurden während der Regierungszeit Putins erwachsen und entwickelten in dieser Zeit ihr Politikverständnis. Sein Buch ist ein Appell, Russland politisch nicht zu isolieren. „Wer nicht versteht, was in Russland passiert, wird aus Furcht auf Abgrenzung setzen, wo kluge Annäherung richtig wäre“ (11), schreibt er. Eidman würde widersprechen: „Viele Menschen, die heute im Fahrwasser der Strömung ‚Russland verstehen‘ oder ‚Putin verstehen‘ schreiben, setzen dabei buchstäblich die von Moskau geschaffenen PR-Strategien um.“ (231)

Putinismus als Neuauflage des Faschismus
Eidman kritisiert das System Putin von innen auf Basis seiner Tätigkeit als Soziologe. Das politische System Russlands kategorisiert er mit den Begriff Putinismus und definiert: „Putinismus bezeichnet das autoritäre Regime Putins, das sich auf das korrupte Beamtentum und die Oligarchie stützt und in vieler Hinsicht einer faschistischen Diktatur ähnelt (aggressive, auf Annexion ausgerichtete Außenpolitik, Dominanz des staatlich-monopolistischen Kapitals in der Wirtschaft, von Geheimdienst, Polizei und Militär geprägte Regierungsstrukturen, Chauvinismus und Traditionalismus in der totalen staatlichen Propaganda.“ (115) Für Eidman ist der Putinismus eine Neuauflage des Faschismus im Europa der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er vergleicht ihn mit dessen deutscher Variante. „Vieles an der deutschen Geschichte der Jahre 1918 bis 1938 deckt sich mit der Geschichte Russland in den Jahren 1991 bis 2015.“ (110) So findet er Parallelen zwischen der Weimarer Republik und der Regierungszeit des ersten russischen Präsidenten Boris Jelzin oder in Adolf Hitlers und Wladimir Putins Aufstieg zur Macht.

Aggressive Außenpolitik
Der Krieg in Südossetien 2008, die Annexion der Krim und der Krieg in der Ost-Ukraine sind für Eidman Zeichen der aggressiven Außenpolitik Russlands. „Das Vorgehen der russischen Regierung erinnert an die deutschen und italienischen Annexionen und Überfälle unmittelbar vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges.“ (22) Mit diesem Vergleich möchte Eidman die Gefahr verdeutlichen, die Europa durch Russlands Außenpolitik droht, und fordert eine stärkere Containment-Politik. „Putins Politik besteht darin, mithilfe von Erpressung beim Westen Zugeständnis um Zugeständnis zu erwirken und so, wenn auch nicht de jure, so doch immerhin de facto die Anerkennung der Ergebnisse seiner fortschreitenden Expansion zu erreichen.“ (197) Eidman erkennt einen simplen Grund für diese expansive Außenpolitik: Das Regime habe langsam an Unterstützung in der Bevölkerung verloren, wie die Wahlen 2011 und die damaligen Proteste wegen Wahlmanipulationen zeigten. Daher greife Putin in die alte Trickkiste der Diktatoren und zettele kleine siegreiche Kriege an, um seine Popularität wiederherzustellen. Ideologisch sei die Bevölkerung auf eine solche Politik schon eingestimmt. „Die Ideologie des Putinismus beinhaltet die Idee einer ‚russischen Welt‘, in der Russland dominiert, und impliziert die ‚Sammlung der russischen Erde‘, also die Möglichkeit der Annexion von Gebieten, in denen Russen leben.“ (118) Als Schlüsselfigur in der europäischen Containment-Politik gegenüber Putin hofft Eidman auf die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Propaganda und Umgang mit Andersdenkenden
Ein weiteres Merkmal dafür, dass es sich beim Putinismus um einen Faschismus handelt, sieht Eidman in der Propaganda und im Umgang mit den Oppositionellen. In Russland sei das mächtigste Medium der Masseninformation das Fernsehen und es diene als Instrument, um die öffentliche Meinung zu manipulieren. Die Propaganda werde innen- und außenpolitisch genutzt. So werde innenpolitisch ein Gegensatz zwischen der moralischen Mehrheit und der feindlichen Minderheit der Oppositionellen in solcher Heftigkeit konstruiert, dass Eidman feststellt: „Die Dehumanisierung des Gegners ist ein charakteristisches Mittel der Diktatur, das darauf abzielt, bei dem Bürger eine positive Einstellung zum Terror zu schaffen.“ (77) Beispiele seien die Morde an Anna Politkowskaja und Boris Nemzow. Auch außenpolitisch werde ein altes Feindbild reaktiviert. „Die ideologische Weltsicht Putins und seines Umfelds basiert auf der Theorie der ewigen Konfrontation zwischen Russland und dem Westen.“ (196) Und dieser Konflikt sei schicksalshaft und unabhängig von irgendwelchen zeitlichen Umständen.

Unberechenbarer Herrscher Putin
Eidman hält Putin nach Josef Stalin für den gefährlichsten Herrscher in Russlands Geschichte. Putin verberge seine Verbrechen hinter Lügen und habe die machiavellistische Auffassung, dass der Zweck die Mittel heilige. Dazu komme ein Schuss Irrationalität. „Ich rate dazu, die Wahrscheinlichkeit unangemessener Handlungen aufseiten Putins & Co. nicht zu unterschätzen. Diese Leute leiden unter dem Trauma, dass Russland seine Rolle als Weltmacht verloren hat [...].“ (49 f.)

DachpartyParty auf einer Dachterrasse in Sankt Petersburg. Foto: Karosa

 

Die nach 1991 Geborenen
Ein solches Trauma des verlorenen Großmachtstatus haben die nach 1991 geborenen Russen nicht. Benjamin Bidder porträtiert diese „Generation Putin“. Er stellt Lena aus der westrussischen Stadt Smolensk vor, sie verehrt Putin und träumt von einer Karriere in der Präsidentenadministration. Das war 2011. Als Bidder sie einige Jahre später wiedertrifft, haben sich ihre Prioritäten verschoben. Aus der Politkarriere ist nichts geworden, aber dafür hat sie einen lukrativen Job in einem Versicherungsunternehmen. Auch die junge Dissidentin Wera wollte Russland verändern, aber von den Straßenbarrikaden aus. Sie kämpfte gegen Windmühlen. Nun versucht die Russin, in Kiew die Ukraine demokratischer zu machen. Marat hingegen bleibt Russland treu, vielleicht gerade weil er schon viel von der Welt gesehen hat. Er ist Roofer, gehört zur Szene der Dachkletterer. Für ihn ist die Freiheit wichtig. Von der großen Freiheit träumt Taissa. Die Tschetschenin in Grosny möchte gerne eine Karriere im Modebereich machen. Momentan arbeitet die Mutter eines Sohnes jedoch als Buchhalterin. Auch Diana aus der Schwarzmeerstadt Sotschi möchte Russland verändern, aber ihr geht es um wirtschaftlichen Fortschritt. Einen großen Traum hat Alexander. Der geistig Behinderte lebt in einer Psychiatrie und möchte es schaffen, irgendwann eine eigene Wohnung zu haben. Anhand dieser Lebensläufe spiegelt Bidder die Geschichte Russlands im letzten Vierteljahrhundert wider. Das gelingt ihm gut, weil er in die persönlichen Geschichten wichtige Hintergrundinformationen einwebt.

Hoffnungsträger oder verlorene Generation?
Ob die „Generation Putin“ nun die Hoffnungsträgerin eines demokratischen Russlands ist oder eine verlorene Generation, lässt Bidder offen. Allerdings haben einige russische Soziologen Zweifel daran, dass die heutige Jugend Russland demokratisch verändern wird. Bidder zitiert die Soziologin Anna Schelnina. Für sie ist Russlands Jugend eine Generation von Drückebergern, die politische Verantwortung scheuen. Die jungen Leute seien in einer apolitischen Konsumgesellschaft aufgewachsen, kaum politisiert und hätten weder Vor- noch Feindbilder. So stellt Bidder fest: „Der Westen hat in der ‚Generation Putin‘ also nicht nur seine Funktion als absolutes Feindbild verloren, sondern ist auch auf dem Weg, kein Vorbild mehr zu sein.“ (224) Junge Russen seien zwar ähnlich konservativ wie ihre Eltern, doch strebten sie nicht nach Sicherheit, sondern nach Freiheit. Darunter verstehen sie, „ihr Leben nach eigenen Vorstellungen gestalten zu können.“ (230) Diese Freiheit nehmen sich Alexander Medwedew aus Sankt Petersburg und Wera Kitschanowa aus Moskau.

Hartnäckiger Optimist
Bidder erzählt von Alexander Medwedew aus dem Psychoneurologischen Internat Nr. 3 (PNI Nr. 3) am Rande von Sankt Petersburg. Man merkt, dass sich Bidder in diesem Bereich aus seiner Zeit als Zivildienstleistender auskennt. Alexander, den alle Sascha nennen, sitzt im Rollstuhl und ist geistig behindert. Aber er ist zielstrebig und ein hartnäckiger Optimist. Sein großes Ziel ist es, irgendwann die Psychiatrie zu verlassen und in einer eigenen Wohnung oder im betreuten Wohnen ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Dafür trainiert er seine Fähigkeiten und versucht, zusammen mit Freiwilligen des Vereins „Perspektive“ seinen Wunsch auch gegenüber den Sozialbehörden juristisch durchzusetzen. In der PNI Nr. 3 ist er Vorsitzender des Bewohnerrates und wurde von Jahr zu Jahr selbstständiger. „Sascha hat sich bei einer Sparkasse ein Konto einrichten lassen und eine Girokarte beantragt. Er geht im Supermarkt einkaufen, besucht auf eigene Faust Freunde in der Stadt. Er hat drei Monate lang einen Computerkurs belegt. Sein Leben ist heute ungebundener, als er sich das jemals hätte ausmalen können.“ (261) Insofern, so Bidder, habe sich der Umgang mit behinderten Menschen in Russland verändert.

Von den Moskauer Barrikaden auf den Kiewer Maidan
Wera Kitschanowa war überzeugt, „dass sich Russland schnell von unten verändern lässt“ (85). Das war im Herbst 2011, als die Moskauer wegen der Fälschungen bei den damaligen Dumawahlen auf die Straße gingen. Bald jedoch ebbten die Proteste ab. „Wera glaubt, dass die Anführer der Opposition eine historische Chance vergeben haben.“ (161) Nach ihrer Zeit auf den Moskauer Barrikaden widmete sich Wera der Kommunalpolitik in ihrem Stadtteil Süd-Tuschino. Bald musste sie erkennen, dass Andersdenkende und Oppositionelle Anfeindungen ausgesetzt sind. Auf öffentlichen Anhörungen wurde sie angebrüllt und als Verräterin bezeichnet. Sie merkte, dass Russland sie krank machte, und ging, als die Proteste auf dem Maidan aufflammen, in Kiew auf die Barrikaden. Jetzt möchte sie einen Beitrag zur demokratischen Entwicklung der Ukraine leisten. Sie hofft, dass demokratisierte Länder wie Georgien und die Ukraine einen positiven Ausstrahlungseffekt auf Russland haben könnten. Doch nach dem Rezept, wie sich Russland wirklich verändern lässt, sucht sie noch immer.

Innen- und Außenansicht
Die Bücher von Eidman und Bidder bieten eine sich ergänzende Lektüre. Sie helfen, Russland kritisch genug zu sehen, aber auch Sympathie für die Menschen zu empfinden. Eidmans Generalkritik an Putin fordert die politische und wissenschaftliche Diskussion heraus. Bidders Protagonist ist nicht Wladimir Putin, im Mittelpunkt stehen vielmehr junge Menschen mit ihren Träumen und Hoffnungen, die auf der Suche nach ihrem Platz im Leben sind. Unter ihnen wird aber wohl niemand dabei sein, der der neue Hoffnungsträger für Russland sein kann.

 

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Bibliografische Angaben

 

Igor Eidman

Das System Putin. Wohin steuert das neue russische Reich?

München, Ludwig 2016

Benjamin Bidder

Generation Putin. Das neue Russland verstehen

München, Deutsche Verlags-Anstalt 2016

 

Aus der Annotierten Bibliografie


Thomas Kunze / Thomas Vogel

Das Ende des Imperiums. Was aus den Staaten der Sowjetunion wurde

Berlin: Ch. Links Verlag 2015; 325 S.; 2., aktual. Aufl.; brosch., 20,- €; ISBN 978-3-86153-894-3
Vor 25 Jahren zerfiel die Sowjetunion nach fast 70‑jähriger Existenz, aus den Unionsrepubliken entstanden fünfzehn unabhängige Staaten. So unterschiedlich diese heute auch sind, haben sie doch eine verbindende Vergangenheit: Es ist die sowjetische Kultur des 20. Jahrhunderts. Deshalb werden diese Staaten oft als postsowjetischer Raum bezeichnet. Der Historiker Thomas Kunze und der Journalist Thomas Vogel waren in den vergangenen Jahren viel in diesen Ländern unterwegs und möchten helfen, den postsowjetischen Raum mit seinen Gemeinsamkeiten und ...weiterlesen


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