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Die Krise als politisches Moment? Einschätzungen zur Gegenwart und Zukunft der Europäischen Union

11.01.2017
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Prof. Dr. Wilhelm Knelangen

eu flag mediamodifier pixabay 1Foto: Mediamodifier, Pixabay


Eine Krise ohne Beispiel?

Dass regelmäßige Krisen die Entwicklung der europäischen Integration prägen und sogar ein produktives Element sind, um die notwendige politische Energie für die Vertiefung der Unionspolitik freizusetzen – das gehörte bis vor wenigen Jahren zum Standardrepertoire in Publizistik und Wissenschaft, wenn es um die Frage ging, wie es um die Zukunft des Einigungsprojektes bestellt ist (Kirt 2001, Kühnhardt 2009). In der Tat: Das politische Europa gründete sich seit den Anfängen auf Widersprüchen, die sich immer wieder in Integrationskrisen manifestierten. Erinnert sei etwa an das prekäre Miteinander von supranationalen und intergouvernementalen Elementen, die schwierige Balance zwischen gemeinsamem Handeln einerseits und handfesten nationalen Interessen andererseits, das ungeklärte Verhältnis zwischen der EU als Staatenunion und einem Europa der Bürger sowie nicht zuletzt das asymmetrische Verhältnis von ökonomischer und politischer Integration.

Es wird gleichwohl zu den Erfolgsgeheimnissen der europäischen Einigung gezählt, dass es die Mitgliedstaaten nicht darauf angelegt haben, diese Widersprüche in einem großen verfassungspolitischen Wurf aufzulösen. Nach dem Prinzip einer funktionalen und inkrementellen Integration ging es vielmehr nur mit kleinen oder allenfalls mittelgroßen Schritten voran, die den einen schon fast zu weit, den anderen aber nicht weit genug reichten. Dieser Logik entsprechend war es stets die Krise von heute, die die Grundlage für den Kompromiss von morgen legte. Und dieser Kompromiss war seinerseits der Ausgangspunkt für die Reformdebatte von morgen. Der Versuch der frühen 2000er-Jahre, mit dem Entwurf einer europäischen Verfassung, genauer: eines Vertrages über eine Verfassung für Europa, aus diesem Muster auszubrechen und die EU neu zu begründen, ist bekanntlich gescheitert.

Dennoch: Die EU hat sich beständig weiterentwickelt, sie hat Kompetenzen hinzugewonnen, sie hat sich institutionell ausdifferenziert und sie ist an Mitgliedern gewachsen. Mäße man den gegenwärtigen Stand der europäischen Einigung an dem, was die Gründungsgeneration in den frühen 1950er-Jahren für durchsetzbar gehalten hat, dann käme man nicht umhin, den Integrationsprozess als eine Erfolgsgeschichte zu beschreiben – das auch deshalb, weil in den Diskussionen über die Zukunft der Weltpolitik ein höheres Maß an Gemeinsamkeit und Kooperation regelmäßig als notwendig angesehen wird, um die globalen Herausforderungen zu meistern. In Europa ist der gemeinsame Markt vollendet, in zahlreichen flankierenden Politiken ist ein bemerkenswerter gemeinschaftlicher Besitzstand geschaffen worden, für die meisten Mitgliedstaaten gibt es eine gemeinsame Währung, in der Außen- und Sicherheitspolitik sind wenigstens Ansätze zu gemeinsamem Handeln erkennbar. Kaum ein Politikbereich kann genannt werden, in dem die Union nicht eine mehr oder minder große Rolle spielen würde. Der institutionelle Dualismus zwischen der supranationalen Kommission und dem intergouvernementalen Rat ist in den vergangenen 30 Jahren zu einem Dreiecksverhältnis erweitert worden, in dem sich das Parlament zu einem (fast) gleichberechtigten Gesetzgeber entwickelt hat. All das ist bemerkenswert, und es war, wie gesagt, in den Anfängen der europäischen Zusammenarbeit nicht unbedingt zu erwarten.

Und doch: Es hat sich etwas verändert. Nach dieser Rhetorik ist die EU offenkundig zu einem Opfer ihres eigenen Erfolges geworden. Oder anders formuliert: Es scheint Bedingungsfaktoren des Erfolges zu geben, die heute und in der Zukunft nicht mehr produktiv, sondern im Gegenteil destruktiv wirken und eine Fortsetzung des bisherigen Entwicklungspfades grundlegend infrage stellen. Sowohl in der politischen Debatte als auch im wissenschaftlichen Diskurs herrscht deshalb weitgehend Einigkeit darin, dass sich die EU in einer Krise befindet – an einem Wendepunkt, an dem alte Gewohnheiten und Gewissheiten als nicht mehr tragfähig gelten und neue ideelle, strukturelle und politische Grundlagen gefunden werden müssen. Dabei lässt sich die gegenwärtige Krise durchaus mit anderen Krisen vergleichen (Kaelble 2013), doch es spricht viel dafür, dass wir es aktuell mit einer anderen Qualität zu tun haben als beispielsweise im Falle der Krise des „leeren Stuhls“ in den 1960er- oder während der Eurosklerose in den 1980er-Jahren.

Das kann schon daran abgelesen werden, dass in der politischen Sprache und in der sozialwissenschaftlichen Literatur von einer Mehrfachkrise, von einer multiplen Krise oder – sprachlich wenig gelungen – von einer Polykrise die Rede ist. Während es in der Vergangenheit hieß, die EU befinde sich in einer Entscheidungskrise, einer Krise der Handlungsfähigkeit, einer ökonomischen Krise, einer Erweiterungs-, Vertrauens-, Legitimations-, Haushalts- oder einer Verfassungskrise, so überlagern sich jetzt gleich mehrere Krisen. Es ist aber nicht der multiple Charakter an sich, sondern die Tiefe beziehungsweise das Ausmaß der Krise(n) ist ohne Beispiel in der Integrationsgeschichte. Offenbar geht es ums Ganze, wie schon die Wortwahl von führenden Akteuren der europäischen Politik signalisiert, denen es ja eigentlich eher darum gehen dürfte, in ihrer Sprache nicht zu überzeichnen. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker spricht von einer „Existenzkrise“, Bundeskanzlerin Angela Merkel von einer „kritischen Situation“, Außenminister Frank-Walter Steinmeier warnt vor einem Ende der EU. Diese Sichtweise wird in der wissenschaftlichen Literatur vielfach geteilt, denn das Argument, dass es sich diesmal um die „finale“ Krise der EU handeln könnte, an deren Ende die Organisation zerbricht oder sich in einen ganz anderen Aggregatzustand transformiert, findet sich im Krisendiskurs zu oft, als dass es sich nur um eine rhetorische Überdramatisierung handeln könnte. Der Brexit, der von der britischen Bevölkerung beschlossene Austritt Großbritanniens aus der EU, macht hier den entscheidenden Unterschied, denn angesichts der Wahlerfolge von euroskeptischen und rechtspopulistischen Parteien in fast allen Mitgliedstaaten ist nicht auszuschließen, dass dem Beispiel weitere folgen werden – mit unabsehbaren Folgen für die Stabilität und den Bestand der EU. Auch deshalb wird mit großen Sorgen auf die nächsten Wahlen in den Mitgliedstaaten geschaut, vor allem auf die französische Präsidentschaftswahl, bei der eine erklärte Gegnerin des Projekts Europa offenbar reale Chancen auf den Sieg hat. Nicht zuletzt handelt es sich auch deshalb um eine besonders brisante Krise, weil sie eingebettet ist in ein internationales Umfeld, das sich geopolitisch und ökonomisch im Umbruch befindet, deshalb beständig Herausforderungen für strategisches Handeln der EU hervorruft und damit die fragilen Legitimationsgrundlagen der Union schonungslos offenlegt.

Zu den Begleiterscheinungen der entschiedenen Nicht-Festlegung und des expliziten Kompromiss-Charakters des Integrationsprozesses gehört, dass wir auch nach gut 70 Jahren Integrationsgeschichte nicht sagen können, um was es sich bei der EU eigentlich handelt. Was sich in der politischen Welt als eine Vielfalt von Interessen und Perspektiven darstellt, die von einer strikten Souveränitätswahrung bis zur Schaffung eines europäischen Bundesstaates reicht, ist in der sozialwissenschaftlichen Europaforschung eine ausdifferenzierte und verzweigte Landschaft von Theorien, die mit jeweils eigenem Recht und guten Argumenten beanspruchen, über die Organisation, ihre Politiken, die Strukturen des Politikprozesses oder über die Dynamik des Integrationsprozesses gültige Aussagen zu treffen (Bieling/Lerch 2012). Das alte Bild vom Elefanten, der von Menschen an verschiedenen Stellen jeweils zutreffend beschrieben wird, ohne dass diese das Tier insgesamt erfassen können (Puchala 1971), gibt weiterhin einen guten Eindruck, womit wir es bei der Integrationsforschung zu tun haben. Die Tragfähigkeit ihrer Analysen ist in hohem Maße abhängig von den erkenntnistheoretischen Grundlagen, den erkenntnisleitenden Interessen, den theoretischen Grundannahmen, sicher auch der politischen Grundhaltung und nicht zuletzt dem empirischen Gegenstand.

Die Krise des politischen Versagens

Schon aus diesem Grund überrascht es wenig, dass in der Literatur keine Einigkeit darüber besteht, was die Krise ausmacht und welche Ursachen sie hat. Überhaupt ist die Debatte der vergangenen Jahre kaum noch zu überblicken, sodass im Folgenden eine – zwangsläufig subjektive – Auswahl an jüngeren Beiträgen getroffen wird. Dabei wird deutlich, dass die Sichtweisen recht weit auseinander liegen, sich aber auch so etwas wie eine Schnittmenge erkennen lässt, die die Beiträge miteinander verbindet.

Für Klaus Busch (2016), der an der Universität Osnabrück Europäische Studien gelehrt hat und seit einigen Jahren europapolitischer Berater der Gewerkschaft ver.di ist, lässt sich die Krise der EU vor allem an ihrem politischen Versagen erkennen, denn die Union sei weder in der Lage, die Eurokrise zu meistern, noch gelinge es ihr, eine überzeugende Antwort auf die Flüchtlingsbewegungen zu formulieren. In zwei Teilen in „Das Versagen Europas“, in denen er grundlegende Informationen mit zuweilen zugespitzten Schlussfolgerungen verbindet, zeigt er zunächst die Dimensionen dieses Versagens auf. Die Währungsunion habe eklatante Konstruktionsmängel, die sich insbesondere an dem Missverhältnis einer supranationalisierten Geldpolitik und einer weiterhin national verantworteten Fiskalpolitik festmachen ließen. Während der Eurokrise sei es nicht gelungen, diese Mängel zu beseitigen, sondern die seit der Einführung des Euro gültige Logik der Wettbewerbsstaaten habe sich fortgesetzt. Die harte Sparpolitik, die den südlichen Mitgliedstaaten auferlegt worden sei, habe die Krise noch einmal verschärft, weil sie gerade nicht zu Wachstumsimpulsen, sondern zu Rezession und höherer Arbeitslosigkeit geführt habe. Vor allem aber, und darauf läuft Buschs Analyse auch mit Blick auf die europäische Politik gegenüber den Flüchtlingen hinaus, habe das Handeln der EU zu einem massiven Vertrauensverlust (nicht nur) in den südlichen Mitgliedstaaten geführt. Die Wahlerfolge von rechts- und linkspopulistischen Parteien, die Stimmverluste von EU-freundlichen Parteien und namentlich die Brexit-Kampagne verdeutlichten, dass die Akzeptanz der Union äußerst fragil geworden sei.

Busch diskutiert anschließend mögliche Wege aus der gegenwärtigen Lage, die er als die „größte Integrationskrise seit Anfang der 1950er-Jahre“ (67) bezeichnet. Einem Supranationalisierungsschub, mit dem die Schieflage der Währungsunion zugunsten einer gemeinsamen Fiskal- und Schuldenpolitik korrigiert werden könnte, gilt offenkundig Buschs Sympathie, doch die Realisierungschancen eines solchen Sprungs nach vorne schätzt er als sehr gering ein. Eine Re-Nationalisierung der Währung brächte nicht nur enorme ökonomische Nachteile für alle Beteiligten mit sich, sie bliebe auch nicht folgenlos für die politische Integration. So kommt Busch zu einem recht skeptischen Schluss: Es sei schon viel damit gewonnen, wenn es der EU gelinge, sich weiter „durchzuwursteln“ (86). Weil die EU die strukturellen Probleme im gegenwärtigen Integrationsmodus nicht effektiv lösen könne, bleibe das Dilemma zwischen dem eigentlich notwendigen Supranationalisierungsschub und dem „Ende durch die Rückkehr des Nationalstaats“ (87) bestehen. Damit könnten die Probleme der Währung und der Migration zwar nicht wirklich gelöst werden, doch immerhin bleibe die europäische Frage damit offen.

Die politischen Folgen der Konstitutionalisierung

Während Busch die Krise im Kern auf das materielle Handeln der EU und die inhaltliche Ausrichtung der Brüsseler Politik zurückführt, legt Dieter Grimm (2016) in seinem Band „Europa ja – aber welches?“ ein besonderes Augenmerk auf die institutionellen Grundlagen des politischen und rechtlichen Systems der EU. Grimm, Staatsrechtslehrer und ehemals Bundesverfassungsrichter, war es, der mit einem vielfach zitierten Aufsatz (Grimm 1995) zur Verfassungsfähigkeit Europas eine skeptische Gegenposition zur gleichsam verfassungsoptimistischen Sicht von Jürgen Habermas (1999) formuliert hatte. Da die EU kein Staat sei, da sie kein Staatsvolk besitze, da es keine europäische Öffentlichkeit gebe, fehlten ihr die elementaren Voraussetzungen für eine Verfassung. Weil das neue Buch Beiträge enthält, die in den vergangenen Jahren in Zeitungen, Zeitschriften und Sammelbänden erschienen sind, handelt es sich um zwölf für sich abgeschlossene Kapitel, die aber insgesamt um eine Kernthese kreisen. Das zentrale Problem der EU ist für Grimm eines der Demokratie, das sich allerdings nicht etwa in mangelnden Kompetenzen des Europäischen Parlaments manifestiert. Wesentlich ist für ihn vielmehr die schleichende Konstitutionalisierung, die der Europäische Gerichtshof vorangetrieben habe. Die Luxemburger Richter hätten die Gründungsverträge wie eine Verfassung interpretiert, die gegenüber nationalem Recht Vorrang besitze und unmittelbar angewendet werden könne. Im Unterschied zu nationalen Verfassungen waren die Verträge allerdings nicht nur eine Grundordnung, sondern sahen seit jeher politische Handlungsaufträge vor. Durch die Auslegung des Gerichtshofs sei der von den Mitgliedstaaten durchaus beabsichtigte Transfer von souveränen Kompetenzen massiv verstärkt worden, ohne dass es dafür eine ausdrückliche demokratische Legitimation gegeben habe. Der Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten sei dadurch immer kleiner geworden. Mehr noch: Im Ergebnis habe eine Entmachtung des Gesetzgebers stattgefunden, dieser werde für die Verwirklichung der Vertragsziele gewissermaßen gar nicht mehr benötigt. Warum haben sich die Mitgliedstaaten gegen diese Entwicklung nicht zur Wehr gesetzt? Zum einen, so Grimm, hätten sie die Tragweite der einmal getroffenen Entscheidungen nicht überblicken können. Zum anderen setzten die Entscheidungsregeln in der EU (Einstimmigkeit oder qualifizierte Mehrheit) einem Kurswechsel enge Grenzen.

Das Resultat dieses Prozesses ist für Grimm eine „Entpolitisierung“ (45) der europäischen Politik. Weil viele politische Fragen bereits in den Verträgen (rechtlich) geklärt und weil die Verträge zudem durch die Rechtsprechung des EuGH konstitutionalisiert sind, fehlen die Voraussetzungen für eine effektive politische Auseinandersetzung über die politische Richtung der EU. Wenn Grimm deshalb eine Repolitisierung der Union fordert, so heißt das für ihn ausdrücklich nicht eine weitere Supranationalisierung oder die Einführung einer Mehrheitsdemokratie parlamentarischen Musters. Vielmehr greift er auf die Argumentation zurück, die bereits in dem Aufsatz zur Verfassungsfrage die Feder führte. Grimm verweist auf das Fehlen einer demokratischen Öffentlichkeit und eines Parteiensystems. Das Demokratieproblem ist erst mit der Einführung von qualifizierten Mehrheitsentscheidungen im Rat richtig aufgetreten, denn seitdem wird von den Mitgliedstaaten erwartet, dass sie Regeln der EU auch dann anwenden, wenn sie ihrem Zustandekommen ausdrücklich widersprochen haben. Dafür sind aber die Legitimationsgrundlagen nur schwach, zumal es der EU an klaren Verantwortlichkeitsstrukturen mangelt, die die Basis für demokratisches Regieren sind.

Wäre es angesichts dessen nicht besser, das Projekt Europa um der Demokratie willen zu beenden? Teile der Brexit-Bewegung begründeten ihren Austrittswunsch damit, dass die demokratische Willensbildung anders nicht gerettet werden könne. Grimm plädiert für eine Fortsetzung der Integration, da es angesichts von Interdependenz und Globalisierung keine Alternative zur Kooperation gebe. Um aber mehr Zustimmung und Akzeptanz zu gewinnen, hält er einerseits ein neues Austarieren der Kompetenzen zwischen Brüssel und den Mitgliedstaaten für angezeigt. Andererseits plädiert er dafür, „alle nicht verfassungsartigen Bestimmungen auf einfaches Recht hinabzustufen, also im Wesentlichen den gesamten AEUV“ (27). Dann bestünde die Möglichkeit, politisch über die gemeinsamen Probleme zu entscheiden und Fehlentwicklungen entgegen zu arbeiten. Das würde in der Praxis freilich nicht nur eine Entmachtung des Gerichtshofs bedeuten, sondern unter den gegebenen Entscheidungsregeln würde auch die Wahrscheinlichkeit steigen, dass die Mitgliedstaaten in Sachfragen überstimmt würden, für die sie sich gegenwärtig auf den nur einstimmig zu ändernden Vertrag berufen können. Trotzdem verdient die Anregung eine ernsthafte Diskussion, denn der vielfach zu hörende (und auch aus Buschs Analyse deutlich zu vernehmende) Ruf nach mehr Politik in Europa stößt aktuell aus den von Grimm überzeugend herausgearbeiteten Gründen an konstitutionelle Grenzen.

Ein Widerspruch kann wohl auch darin gesehen werden, dass Grimm die eingangs genannte Strategie des Inkrementalismus als ein zentrales Problem für die Integration betrachtet. Die EU zahle einen hohen Preis für das Prinzip der immer wieder vertagten Grundentscheidung. Den Bürgern könne nicht klar sein, wohin die Reise in Europa geht, während sie gleichzeitig feststellten, dass staatsähnliche Strukturen geschaffen würden. Ob es den dazugehörigen Staat und die dafür notwendigen Legitimationsstrukturen geben soll, bleibt aber offen. Die Politik der kleinen Schritte ist daher für Grimm „ein Schleichweg zur Verschleierung der Prinzipienfrage“ (253). Das trifft zu, kann aber eben auch als ein Ausdruck prinzipieller Offenheit und damit als ein in Zukunft politisch auszufüllender Handlungsspielraum betrachtet werden – was jetzt als verbindliche Verfassungsgrundlage festgezurrt würde, bliebe auch für die Zukunft zementiert.

Alles auf Anfang? Die EU als Republik – oder als solidarische Union

Eine immer wieder zu hörende Aufforderung als Antwort auf die gegenwärtige Krise besteht darin, nun nicht zu verzagen, sondern gleichsam nun erst recht auf eine Fortsetzung der Integration zu setzen. Auf ein bloßes Weiter-So setzt allerdings niemand, denn dass die aktuelle Misere Ursachen hat, die auch in der EU selbst zu suchen sind, ist weithin unbestritten. Auch Brendan Simms und Benjamin Zeeb (2016) plädieren für einen großen Sprung in Richtung einer politischen Union, denn ohne eine kollektive Kraftanstrengung drohe die EU zu zerbrechen. Eine „vollständige parlamentarische Schulden- und Verteidigungsunion“ sei der einzige Weg, um die Krise zu lösen – und historische Beispiele wie die schottisch-englische Union oder die Vereinigten Staaten von Amerika hätten bewiesen, dass Unionen erfolgreich sein könnten, wenn in kritischen Situationen Entscheidungen mit strategischer Weitsicht getroffen würden.

Eine radikale Antwort auf die Politik der kleinen Schritte, die den Integrationsprozess bislang kennzeichnet, gibt die Politikwissenschaftlerin und Publizistin Ulrike Guérot in ihrem Plädoyer für eine Europäische Republik (Guérot 2016). Eingangs folgt sie dem (auch häufig von Euroskeptikern vorgetragenen) Argument, so wie bisher könne es mit der EU nicht weitergehen, das derzeitige Modell gehöre abgeschafft. In ihrer Analyse der Konstruktionsfehler der EU kommt sie zu einem vernichtenden Urteil: Die EU genüge fundamentalen demokratischen Ansprüchen nicht und werde in der gegenwärtigen Verfassung niemals funktionieren. Dass sich die Union überhaupt bis in die heutige Zeit habe entwickeln können, sei nur mit historischen Sonderbedingungen zu erklären. Die bipolare Weltordnung des Ost-West-Konflikts habe es den Westeuropäern erlaubt, sich im Schatten von Kaltem Krieg und dynamischer Wirtschaft auf sich selbst zu beschränken. Gegenüber den neuen regionalen und globalen Herausforderungen versage das alte Muster aber. Die aktuelle Krise der Union ist für Guérot im Kern eine selbstproduzierte Krise, denn die Verfasstheit (mit den eingangs erwähnten Widersprüchen beziehungsweise nicht gelösten Konfliktlagen) erlaube es der EU nicht, das Reformpotenzial zu entwickeln, das notwendig wäre, um sich aus dieser Falle zu befreien. Die EU sei im Kern unpolitisch, weil sie politische Fragen – hier kann man Grimm heraushören – in konstitutionelle überführt habe. Zudem biete sie wenig Identifikationspotenzial, denn die Vertragslage habe die Union mit einem neoliberalen Grundzug imprägniert – das Ganze fern jeder demokratischen Gesetzgebung.

Vor allem sind es für Guérot die Mitgliedstaaten, die dem notwendigen Durchbruch im Wege stehen, weil sie den „Rubikon eines politischen Europas nie überschritten“ (21) hätten und stattdessen eifersüchtig über ihre Souveränität wachten. Das ist überhaupt die zentrale These von Guérot: Am Anfang des Integrationsprozesses habe die Absicht gestanden, mit der gemeinsamen Entscheidungsfindung den Nationalstaat zu überwinden. Daran will sie anknüpfen, wenn sie als „radikale Utopie“ (21) eine Neugründung der EU fordert, eine Republik, in der die bürgerliche Gleichheit vor dem Gesetz mit der politischen Gleichheit (gleiches Wahlrecht) und die Orientierung am Gemeinwohl miteinander verbunden sind. Die Nationalstaaten spielen in dieser Republik keine Rolle mehr, an ihre Stelle treten Regionen und Provinzen, die auf europäischer Ebene durch Senatoren repräsentiert werden. Hinzu kommt eine repräsentative Kammer, die von den Bürgern der europäischen Republik frei gewählt wird.

Wohlgemerkt: Entworfen wird hier nicht eine Reform, wie sie das Ergebnis einer Regierungskonferenz sein könnte, sondern Guérot beschreibt eine Revolution, die die europäische Republik als eine neue Stufe der Entwicklung der Staatlichkeit in Europa zum Ziel hat. Keine Frage: Guérot spitzt zu, sie überspitzt auch, denn sie bemüht sich an vielen Stellen weniger darum, vermittelndes und differenzierendes Vokabular zu verwenden als klar und deutlich herauszustellen, worum es ihr geht. Da ist es ein Kunstgriff, von vornherein eine Neugründung und eine Revolution in den Raum zu stellen. Kritisch einwenden kann man, ob durch die radikale Absage an das gegenwärtige Integrationsmodell nicht im Grunde das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird. Auch kann man bezweifeln, ob die EU tatsächlich ein Projekt zur Überwindung der Nationalstaaten war. Doch wenn es zutrifft, dass sie am Rande des Scheiterns steht, dann ist es tatsächlich an der Zeit, in historischen Größenordnungen zu argumentieren statt sich in den Einzelheiten kleiner Reformschritte zu verlieren. Insoweit ist Guérot eine wichtige Positionierung in der Krisendebatte gelungen, denn ihr Buch zwingt zur Positionierung, wie ernst man es denn mit dem Projekt Europa meint.

Könnte nicht auch die Rückkehr zum Nationalstaat eine sinnvolle Alternative sein? In einer binären Logik, die scharf zwischen der EU und dem eigenen Staat unterscheidet (und damit die für die Integration charakteristische Verflechtung des Mehrebenensystems übersieht), wird eben das mittlerweile in allen Mitgliedstaaten von euroskeptischen Parteien gefordert, sei es durch den Austritt des eigenen Landes, die Auflösung der EU oder mindestens durch die Beendigung der supranationalen Politikgestaltung. Ist eine Renationalisierung vielleicht sogar politisch geboten, um wenigstens in zentralen Bereichen die Erwartungen der Bürger an verantwortliches Regieren zu erfüllen? In einem Beitrag für Die Zeit mit dem plakativen Titel „Europa braucht die Nation“ kritisieren Martin Höpner, Fritz Scharpf und Wolfgang Streeck – derzeit beziehungsweise ehemals am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung tätige Sozialwissenschaftler – im Herbst 2016, dass die Entscheidungsprozesse der EU nicht nur den demokratischen Anforderungen nicht genügen, sondern es der Union auch an Handlungsfähigkeit mangelt. Um das Demokratieproblem anzugehen, fordern die drei Autoren – mit ähnlicher Begründung wie Grimm – die Macht des Gerichtshofs zu begrenzen. Die Mitgliedstaaten sollten in der Zukunft nur noch an legislative Akte von Rat und Parlament gebunden sein, aber nicht mehr an künftiges Richterrecht. Vor allem schlagen Höpner et al. vor, die gemeinsame Währung Euro schrittweise aufzulösen und in ein System fester, aber anpassungsfähiger Wechselkurse zu überführen. Dieses System entspräche im Kern dem Europäischen Währungssystem, das von 1978 bis zur Einführung des Euro bestanden hatte. Das gebe den EU-Mitgliedern ihre wirtschaftspolitische Handlungsfähigkeit zurück, da Währungsanpassungen die Wettbewerbsfähigkeit steigern könnten und „das verhasste supranationale Überwachungs- und Korrekturregime“ überflüssig werden würde.

Widerspruch zu dieser linken Variante eines währungspolitischen Ausstiegs mit wohl weitreichenden Folgen für das gesamte Projekt der EU formuliert eine Autorengruppe um Klaus Busch, dessen Studie zur Krise der EU oben bereits vorgestellt wurde. In ihrer Streitschrift für eine „solidarische Union“ (Busch et al. 2016) lassen auch die beteiligten Wissenschaftler, Politiker und Publizisten aus dem rot-rot-grünen und gewerkschaftlichen Spektrum keinen Zweifel daran, dass die Krise der EU im Wesentlichen auf Funktions- und Strukturdefizite der Währungsunion einerseits und auf eine fehlerhafte und deshalb gescheiterte Reformpolitik im Zeichen der Krise zurückzuführen ist. Wie auch für Höpner et al. ist für die Gruppe um Busch die Krise des Euro gewissermaßen die Mutter der multiplen Krise. Im Unterschied zu den USA sei in der EU das neoliberale Paradigma autoritär gegen die Bürgerinnen und Bürger sowie die Regierungen durchgesetzt worden. Die Argumentation ist aus Buschs Studie zum „Versagen“ bekannt: Die Austeritätspolitik habe in den südlichen Mitgliedstaaten zu massiven wirtschaftlichen Problemen geführt, die sich in einer hohen Staatsverschuldung und einem dramatischen Anstieg der Arbeitslosigkeit geäußert habe. Damit sei das Wohlstandsversprechen der Integration gebrochen und das Vertrauen in die Legitimation der EU unterminiert worden. Auf dieser Grundlage hätten Nationalismus und Populismus in vielen Mitgliedstaaten ihren Siegeszug angetreten.

Den Vorschlag von Höpner et al. hält die Gruppe dennoch für einen Irrweg, denn er unterschätze die Einbettung der europäischen Staaten in die internationalen Finanzmärkte, die einer nationalen Strategie der Wirtschaftspolitik enge Grenzen setze. Zum anderen, damit zusammenhängend, zeige die Erfahrung, dass eine Abwertung der Währung gerade nicht zu einer fortschrittlichen Wachstums-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik führe. Im Gegenteil: Um den von der Abwertung erwarteten Wettbewerbsvorteil erzielen zu können, bestehe ein starker Druck, die Löhne und Sozialausgaben zu senken. Die Gruppe um Busch entwirft stattdessen ein Reformprogramm für eine „solidarische EU“ mit mehreren Säulen (Kap. 5): (1) ein Ende der Austeritätspolitik, stattdessen eine expansive Fiskalpolitik und Investitionsprogramme als „Motor für den überfälligen sozial-ökologischen Umbau“ (57); (2) die Schaffung einer „Ausgleichsunion“ (58), die über differenzierte Zielkorridore für ausgeglichene Leistungsbilanzen sorgen soll; (3) eine gemeinschaftliche Schuldenpolitik; (4) eine Sozialunion mit einer der wirtschaftlichen Leistungskraft entsprechenden Koordinierung der sozialen Sicherungssysteme; (5) eine schärfere Finanzmarktregulierung und eine Koordinierung in der Steuerpolitik.

Erkennbar wird hier wiederum: Für Busch et al. muss eine Bekämpfung der Krise bei der sozioökonomischen Basis der Integration ansetzen. In welcher institutionellen Ordnung eine solche Politik durchgesetzt werden könnte, wird demgegenüber nur knapp skizziert. Notwendig sei eine „demokratisch legitimierte Europäische Wirtschaftsregierung“ (76). Dass die inhaltlichen und institutionellen Perspektiven einer solchermaßen „solidarischen“ EU kurzfristig nicht durchzusetzen sind, ficht die Autorengruppe nicht an. Denn auch für das Renationalisierungsprogramm von Höpner et al. gebe es keine politische Durchsetzungschance. Wenn es, so kann man schließen, doch beim Muster des Inkrementalismus bleibt, dann werden es weiter nur kleine Schritte sein, die die Mitgliedstaaten gehen – vielleicht in die von Busch et al. beschriebene Richtung.

Die Feinde Europas

Claus Leggewie (2016) geht das Problem der Krise von einer anderen Seite an, denn er stellt die Frage, von welchen politischen Ideen eine effektive Bedrohung der freiheitlichen Demokratie und des westlichen Liberalismus, aber auch des supranational vereinten Europas ausgeht. Dabei bleibt er nicht bei den mal deutlicher, mal moderater auftretenden Rechtspopulisten und Euroskeptikern stehen, sondern er stellt die Kampfschriften von drei Autoren vor, die in radikaler Weise die westliche Lebensweise ablehnen und einen völkisch-autoritären Nationalismus vertreten. Mit Gramsci vermutet Leggewie, dass es sich hierbei zwar um Ansichten handelt, die gegenwärtig nur eine sehr begrenzte Zustimmung finden, die aber über kurz oder lang den Eingang in das politische Denken der Mitte finden können. „Wären sie auch nur teilweise erfolgreich, stünde am Ende ein radikal anderes, autoritäres, fundamentalistisches Europa – statt kulturellem Pluralismus weiße Suprematie, statt Religionsfreiheit Gottesstaat, statt Demokratie Autokratie, statt Gleichberechtigung Patriarchat, statt Individualität Unterwerfung“ (11). Konkret geht es zuerst um Anders Breivik, der 2011 bei einem Anschlag 77 Menschen in Norwegen umgebracht hat. Dieser wird von Leggewie nicht als Massenmörder in den Blick genommen. Er analysiert seinen Text „2083 – eine europäische Unabhängigkeitserklärung“, weil er in ihm die Grundlagen eines identitären Abschottungsdiskurses findet, der bereits in die Mitte der europäischen Gesellschaft vorgedrungen sei. Ähnlich geht er mit dem russischen Publizisten Alexander Dugin um, der in seinen Schriften für eine „eurasische Union“ eintritt und offenbar großen Einfluss auf das politische Denken Wladimir Putins besitzt. Die Abwehr des westlich-amerikanischen politischen Denkens, die Besinnung auf einen eurasischen geopolitischen Kern (unter Führung Russlands) und eine geistig-moralische Revision auf der Grundlage traditioneller „Werte“ sind Versatzstücke, die auch in der Bundesrepublik (nicht nur) von manchem „Russenversteher“ geteilt werden. Am offensichtlichsten ist die Europafeindschaft schließlich bei den Dschihadisten vom Schlage des Islamischen Staates und der al-Qaida, dessen Propagandisten Abu Musab al-Suri sich Leggewie ebenfalls vornimmt. Auch hier gilt, dass nur wenige die Gewaltfantasien al-Suris teilen, aber es gibt wiederum Grenzflächen. Die Abgrenzung von der westlich-säkularen Lebensweise trifft auch im Westen auf einiges Wohlwollen.

Indem Leggewie sich den radikalen Positionen widmet, von denen die bürgerliche Euroskepsis meilenweit entfernt zu sein scheint, schießt er auf den ersten Blick übers Ziel hinaus. Und doch schärft die Lektüre seines Textes das Bewusstsein dafür, was den gegenwärtigen Krisendiskurs nährt. „Europa hat Feinde“ (13), das ist sein Ausgangspunkt, und diese Feinde nimmt Leggewie ernst, indem er den Kern ihres politischen Denkens rekonstruiert und in ihrer Wirkungsabsicht einordnet. Die drei Exponenten kommen aus unterschiedlichen Kontexten, doch sie haben das gleiche Feindbild: „Europa in seiner dreifachen Gestalt als Wertegemeinschaft, gemeinsamer Markt und politische Union“ (15). Leggewie warnt: Das, was heute marginal erscheine, könne schon morgen eine Breitenwirkung entfalten. Europa sei aufgefordert, den Erzählungen der Angst ein neues Narrativ der Hoffnung und des Aufbruchs entgegenzustellen.

Muss die Integrationsgeschichte umgeschrieben werden?

Einer der interessantesten Beiträge zur Krise der EU stammt von Luuk van Middelaar, dessen Buch ursprünglich (in niederländischer Sprache) bereits 2009 veröffentlicht wurde. Nun liegt seine Studie „Vom Kontinent zur Union“ in deutscher Sprache vor (van Middelaar 2016) und ist offenbar lediglich durch ein ausführliches Vorwort ergänzt worden. Wie auch der Untertitel anzeigt, verbindet das Buch eine historische Darstellung mit systematischen Überlegungen zu den Entwicklungsbedingungen der Integration. Van Middelaar ist Professor für Europäische Studien an der Universität Leiden, war aber zuvor viele Jahre als Berater und Redenschreiber in den politischen Arenen der EU tätig, unter anderem für den damaligen Präsidenten des Europäischen Rates Herman van Rompuy. Dennoch ist sein Buch keine anekdotische Schilderung des Arbeitsalltags in Brüssel, sondern es leistet einen wertvollen Beitrag dazu, die Vielstimmigkeit und Widersprüchlichkeit der aktuellen Debatte besser zu verstehen.

Van Middelaar betrachtet die Unionswerdung als einen Prozess, in dem ein politischer Körper entsteht, dessen Konturen freilich nicht abschließend geklärt sind. Prägend für diesen Prozess sind daher Widersprüche und politischer Streit, der sich wesentlich daraus ergibt, dass unterschiedliche Akteure über Unterschiedliches sprechen, wenn sie das Wort vom europäischen Projekt im Mund führen. Da gibt es erstens den Diskurs vom Europa der Staaten, das durch traditionelle zwischenstaatliche Politik und eine zentrale Rolle von Regierungen und Diplomatie gekennzeichnet ist. Daneben gibt es aber zweitens den Diskurs des Europas der Bürger, in dem die europäischen citoyens im Mittelpunkt eines föderalen politischen Systems mit einer transnationalen Öffentlichkeit stehen. Schließlich benennt er den Diskurs vom Europa der Behörden, das von effektivem Regieren, einer starken Bürokratie und strikten Regeln handelt. Während van Middelaar diese drei Diskurse als elementare Sprechweisen über Europa einführt, identifiziert er, daran anknüpfend, für die aktuelle Debatte Mischdiskurse: den Supranationalismus (eine Mischung von Behörden- und Bürgerdiskurs), der die Entstehung eines föderalen politischen Systems mit starken europäischen Kompetenzen diagnostiziert beziehungsweise auf dessen Entstehung setzt; den Intergouvernementalismus (eine Mischung von Behörden- und Staatendiskurs), nach dem die EU weiterhin ein Geschäft der Außenpolitiken der Regierungen und der Brüsseler Verwaltung ist; schließlich den Konstitutionalismus (Staaten- und Bürgerdiskurs), der im Unterschied zu Grimm weniger die supranationale Rechtsprechung als die Idee einer europäischen Verfassungsordnung umfasst. Mit diesen Diskursachsen gelingt es van Middelaar, eine gute analytische Grundlage für seinen Durchgang durch die Integrationsgeschichte zu legen. Sie sind überdies hilfreich, um die Stoßrichtungen in der aktuellen politischen Diskussion einordnen zu können.

Das gilt auch für die Betrachtung der Frage, ob Europa eigentlich als eine politische Entität besteht, beziehungsweise was die EU in ihrem Wesen ausmacht. Wie wir eingangs bereits festgestellt haben, wird diese Frage seit Jahrzehnten diskutiert – ohne greifbares Ergebnis. Für van Middelaar ist das kein Wunder, denn er macht drei unterschiedliche Sphären Europas aus, in denen je eigene Gesetze und Ordnungsmuster gelten. Die „äußere Sphäre“ betrifft die Gesamtheit aller Staaten des Kontinents, die Welt der Staatenpolitik. Die „innere Sphäre“ ist die Gemeinschaftsebene, also das Brüsseler politische System. Die „Zwischensphäre“ wird schließlich durch die Verflechtung der Ebenen gebildet, die Nationalstaaten haben sich dabei zu Mitgliedstaaten entwickelt, in denen sich die Welt der Souveränität mit der Gemeinschaftswelt vermischt und in denen die Gemeinsamkeiten wachsen, die sich aus der Mitgliedschaft ergeben.

Es ist die Spannung zwischen diesen drei Diskursen und Sphären, die zu unterschiedlichen Zeiten in verschiedener Intensität das Projekt der Integration begleitet hat. Im Unterschied zu klassischen Darstellungen zur Integrationsgeschichte widmet van Middelaar der Frage des Publikums, des Volkes, gut ein Drittel seines Buches. Denn, so stellt er fest, wie jede andere „institutionelle Tatsache“ wird sich auch die EU auflösen, „sobald nicht mehr kollektiv an sie geglaubt wird“ (349). Mit diesem Problem ist die Union ungleich stärker konfrontiert als nationalstaatliche Systeme. Woher aber soll die Zustimmung zur Union kommen? Auf welchem Wege kann eine europäische Öffentlichkeit etabliert werden, die für die Stabilität der EU als „politischer Körper“ unerlässlich ist? Auch hier differenziert van Middelaar drei Strategien, die miteinander konkurrieren: eine deutsche Strategie, die auf eine kulturelle Identität setzt, also letztlich auf die Entstehung eines europäischen Staatsvolkes mit gemeinsamer Geschichte, Symbolen und Kultur; eine römische Strategie, die sich durch die Vorteile und den Nutzen auszeichnet (Output-Legitimation), und schließlich die athenische Strategie, die auf aktive Zustimmung und Partizipation der Menschen setzt. Es bereitet Freude, van Middelaar zu folgen, wenn er die einzelnen Strategien ausleuchtet und hinsichtlich ihrer Umsetzungsperspektiven diskutiert. Er ist kein Pessimist, sondern er erwartet, dass der Einigungsprozess weitergeht. Die Krise deutet er als eine Form der „Europäisierung der nationalen Politik“ (18), in der die Varianten und Alternativen deutlicher hervortreten als in der Vergangenheit. Schwierig sei der Prozess aber – und mit seiner Ausleuchtung der Deutungsachsen fällt es leichter zu verstehen, warum das so ist.

(Keine) Bilanz

An diesem Punkt kann eine Bilanz ansetzen: Eine Dimension der Krise besteht auch darin, dass es keine Einigkeit darüber gibt, was ihren Kern ausmacht. Auf der einen Seite wird als zentrales Legitimationsproblem die mangelnde demokratische Grundierung der supranationalen Politikgestaltung angesehen und als Alternative ein entschiedenes Zurück zum Nationalstaat gefordert. Auf der anderen Seite wird ein qualitativer Sprung zu einer Europäischen Republik gefordert, in der die Nationalstaaten nicht einmal mehr die Rolle von Gliedstaaten spielen sollen, weil diese den Durchbruch zu repräsentativ-parlamentarischen Entscheidungsprozessen verhindert haben. Ebenso gibt es unterschiedliche Ansatzpunkte, wenn auf der einen Seite institutionelle Aspekte (Partizipation, Verantwortlichkeit, Kompetenzverteilung der Organe) angesprochen, auf der anderen Seite aber die Politiken der EU einer materiellen Kritik unterzogen werden (Eurokrise und ihre Auswirkungen, Versagen in der Flüchtlingspolitik). Eine gesonderte Würdigung erfährt in vielen Beiträgen der Europäische Gerichtshof, der sich selbst zum Integrationsmotor ermächtigt hat – und dadurch als ein Problem für die demokratische Legitimation angesehen wird. In der politischen Wirklichkeit wird es darauf ankommen, zwischen diesen verschiedenen Polen tragfähige Kompromisse zu finden. Und an einer Stelle könnten die Analysen tatsächlich recht behalten: Es ist an der Zeit, die gegenwärtige Krise als einen politischen Moment zu begreifen, in dem es ganz elementar nicht nur um die Richtung, sondern auch um den Bestand des Integrationsprozesses geht.

Literatur

Bieling, Hans-Jürgen/Lerch, Marika (Hrsg.) (2012): Theorien der europäischen Integration. Wiesbaden: Springer VS.

Busch, Klaus (2016): Das Versagen Europas. Die Euro- und die Flüchtlingskrise sowie die „Brexit“-Diskussion. Eine Flugschrift. Hamburg: VSA.

Busch, Klaus/Troost, Axel/Schwan, Gesine/Bsirske, Frank/Bischoff, Joachim/Schrooten, Mechthild/Wolf, Harald (2016): Europa geht auch solidarisch! Streitschrift für eine andere Europäische Union. Hamburg: VSA.

Grimm, Dieter (1995): Braucht Europa eine Verfassung? In: Juristenzeitung 50, S. 581-591.

Grimm, Dieter (2016): Europa ja – aber welches? Zur Verfassung der europäischen Demokratie. München: C.H. Beck.

Guérot, Ulrike (2016): Warum Europa eine Republik werden muss! Eine politische Utopie. Bonn: J.H.W. Dietz Nachf.

Habermas, Jürgen (1999): Braucht Europa eine Verfassung? Eine Bemerkung zu Dieter Grimm. In: Ders.: Die Einbeziehung des Anderen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 185-191.

Höpner, Martin/Scharpf, Fritz W./Streeck, Wolfgang (2016): Europa braucht die Nation. In: Die Zeit 39.

Kaelble, Hartmut (2013): Spirale nach unten oder produktive Krisen? Zur Geschichte politischer Entscheidungskrisen der europäischen Integration. In: Integration 3, S. 169-182.

Kirt, Romain (2001): Die Europäische Union und ihre Krisen. Baden-Baden: 2001.

Kühnhardt, Ludger (2009): Crises in European Integration. Challenges and Responses 1945–2005. Oxford: Berghahn.

Leggewie, Claus (2016): Anti-Europäer. Breivik, Dugin, al-Suri & Co. Berlin: Suhrkamp.

Puchala, Donald (1971): Of blind men, elephants and international integration. In: Journal of Common Market Studies 10, S. 267-284.

Simms, Brendan/Zeeb, Benjamin (2016): Europa am Abgrund. Plädoyer für die Vereinigten Staaten von Europa. München: C. H. Beck.

Van Middelaar, Luuk (2016): Vom Kontinent zur Union. Gegenwart und Geschichte des vereinten Europa. Berlin: Suhrkamp.

 

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Einige der betrachteten Werke:

 

Klaus Busch
Das Versagen Europas. Die Euro- und die Flüchtlingskrise sowie die "Brexit"-Diskussion. Eine Flugschrift
Hamburg, VSA-Verlag 2016

 

Dieter Grimm
Europa ja – aber welches? Zur Verfassung der europäischen Demokratie
München, C. H. Beck Verlag 2016

 

Klaus Busch  /  Axel Troost  / Gesine Schwan  /  Frank Bsirske / Joachim Bischoff  / Mechthild Schrooten  /  Harald Wolf
Europa geht auch solidarisch! Streitschrift für eine andere Europäische Union
Hamburg, VSA Verlag 2016

 

Klaus Leggewie
Anti-Europäer - Breivik, Dugin, al-Suri & Co.
Berlin, Suhrkamp Verlag 2016 (edition suhrkamp)

 

Luuk van Middelaar
Vom Kontinent zur Union - Gegenwart und Geschichte des vereinten Europa
Berlin, Suhrkamp Verlag 2016


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