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Jenni Brichzin: Politische Arbeit in Parlamenten. Eine ethnografische Studie zur kulturellen Produktion im politischen Feld

24.04.2017
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Autorenprofil
Jakob Eichner
Baden-Baden, Nomos 2016


Die Qualität politischen Handelns hängt entscheidend vom Tun der politischen Akteure ab. Während viele Parlamentarier*innen ein positives Bild ihres Berufsstandes zeichnen und ihre „hohe spezifische Beanspruchung“ betonen, betrachtet die Öffentlichkeit das politische Treiben mitunter kritisch. Beispielsweise wird Parlamentarier*innen „Arbeitszurückhaltung“ (16) unterstellt. Um zu einer wissenschaftlichen Bewertung des parlamentarischen Prozesses zu gelangen, muss untersucht werden, was genau die Tätigkeit von Abgeordneten ist. Hier setzt die Dissertation von Jenni Brichzin an. Sie möchte über eine deskriptive Analyse der politischen Praxis hinausgehen und unter Bezugnahme auf Pierre Bourdieu, Jürgen Habermas und Hannah Arendt eine komplexe Sicht auf die Parlamentsarbeit einnehmen.

Das Buch ist aus zwei Gründen lesenswert. Zum einen zeigt Brichzin eindrücklich den Wert der Ethnografie für die Politikwissenschaft: Ihre Untersuchung basiert auf einer ethnografisch-fundierten Beobachtung verschiedener Parlamente in Deutschland, angefangen vom Stadtteilparlament über Stadtrat und Landtag bis zum Bundestag. Dabei hat sie acht Abgeordnete in ihrem Arbeitsalltag begleitet und bei unterschiedlichen Tätigkeiten beobachtet. Dazu zählen parlamentarische Sitzungen in der Fraktion, im Ausschuss, im Plenum, Besprechungsrunden, Öffentlichkeitsveranstaltungen sowie der Kontakt mit Bürger*innen, Lobbyist*innen und Journalist*innen. Die ethnografisch-rekonstruktive Herangehensweise ermöglicht es ihr, eine nur schwer zugängliche soziale Sphäre analytisch zu durchdringen und die im sozialen Feld wirksamen Muster zu erkennen, die auf „implizite[m], in praktischer Erfahrung erworbene[m]“ (91) Wissen beruhen.

Mithilfe des so gewonnenen Datenmaterials trifft Brichzin konkrete Aussagen über die Produktion und Reproduktion von sozialer Ordnung in Parlamenten. Hierin liegt der zweite spannende Aspekt ihrer Studie. Brichzin versteht mit Bourdieu Politik als „eine Praxis der gerichteten Einflussnahme auf symbolische Ordnung“. Das politische Feld wird dabei zu der gesellschaftlichen Sphäre, in der um die „Deutungshoheit in einer Gesellschaft“ gekämpft wird. Dabei versteht sie den politischen Prozess als eine produktive Leistung. Er wird gar zu einem schöpferischen Akt. Abgeordnete leisten „Arbeit im konkreten Sinn“ (74). Für diese Sichtweise (als Arbeit) sprechen nach ihrer Lesart zwei Punkte: Parlamentarische Praxis ist zum einen mit Mühen und Anstrengungen verbunden und belastet die Parlamentarier*innen kognitiv, physisch und psychisch. Somit weist sie Übereinstimmungen zu anderen Formen der Arbeit auf. Zum anderen sind die handelnden Akteure „weder schlichte Transmitter noch neutrale Moderatoren gesellschaftlicher Interessenkonflikte“. Die parlamentarischen Akteure sind für Brichzin vielmehr die „maßgeblichen Produktivkräfte im Prozess der kulturellen Produktion“ (207).

Die Herstellung, Transformation und Stabilisierung der symbolischen Ordnung geschieht in drei unterschiedlichen Modi. In dem des politischen Spiels stehen sich Regierungsmehrheit und Opposition in „Form eines ‚rituellen Antagonismus‘“ (181) gegenüber. Ziel dieses Spiels ist es, die öffentliche Meinung für sich zu gewinnen, um so symbolische Deutungsmacht zu erlangen. Die überwiegende Mehrheit der Themen, mit denen sich Parlamente beschäftigen, sind jedoch von keiner großen öffentlichen Tragweite. Im Angesicht des permanent knappen Zeitbudgets werden diese Themen schnell abgehandelt. Hierbei fällt besonders deren rasche und konfliktarme Bearbeitung über ideologische Grenzen hinweg auf.

Sind politisches Spiel und Themenabfertigung konträre Arbeitsstrategien, tritt der dritte Modus ergänzend hinzu. Die politische Gestaltung ist der Moment, in dem Abgeordnete kreativ und schöpferisch tätig werden. Dann wird von dem Potenzial Gebrauch gemacht, die gesellschaftlichen Gegebenheiten durch die Produktion von neuen Symbolen zu verändern. So lässt sich politische Arbeit im Parlament als Vorgang der gerichteten Einflussnahme auf symbolische Ordnung begreifen. Parlamente sind somit nicht einfach Institutionen der gesellschaftlichen Problemlösung, sondern in ihnen wird erst ausgehandelt, „was überhaupt als Problem gesehen werden soll“ (262) und welche Lösungsvorschläge angemessen sind.

Wenn Bürger*innen die parlamentarische Praxis in ihrer Komplexität nicht würdigen, dann liegt das nicht am mangelnden Wissen über politische Sachverhalte, sondern an der Diskordanz der Strukturen parlamentarischer und alltäglicher Praxis. Die erheblichen Missverständnisse beim Aufeinandertreffen von Parlamentarier*innen und Bürger*innen ergeben sich aus einer „generalisierenden Relevanzhaltung der parlamentarischen Akteure und der involviert-singularisierten Relevanzhaltung“ (252) der Bürger*innen, aus der parlamentarischen Interaktionsordnung, die für Außenstehende respektlos und unhöflich anmutet, sowie aus der inhaltlichen Überfrachtung und dem knappen Zeitbudget, die einer ausführlichen Bearbeitung häufig entgegenstehen. Zum Missverständnis parlamentarischer Praxis trägt zudem ein normatives Bild von Parlamenten bei, das die „Idee vom demokratischen Prozess am Leben [erhält], die in der Vorstellung der unmittelbaren Manifestation eines vorgängigen Volkswillen im Tun der politischen RepräsentantInnen gründet“. Für Brichzin gibt es jedoch keinen „vorgängigen und ebenso fixierbaren Volkswillen“ (282), sondern dieser Wille ist ein Produkt, der erst im politischen Prozess hervorgebracht werden muss.

 

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