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Johannes Becker / Clemens Fuest: Der Odysseus-Komplex. Ein pragmatischer Vorschlag zur Lösung der Eurokrise

02.05.2017
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Autorenprofil
Dr. Jens Wassenhoven
München, Hanser Verlag 2017

Die Währungsunion als Odyssee – Odysseus lauscht, gebunden am Mast, dem Gesang der Sirenen. Johannes Becker, Direktor des Instituts für Finanzwissenschaft der Universität Münster, und Clemens Fuest, Präsident des Ifo Institutes in München, nutzen dieses Bild, um ihre Sicht auf die Eurokrise zu beschreiben und Lösungsvorschläge zu präsentieren.

Odysseus sei vor dem Betreten des Floßes zu Beginn seiner wechselhaften Reise unsicher gewesen, ob dieses halten werde. Ebenso seien die Zweifel an der Haltbarkeit der Währungsunion den Gründervätern von fachlicher Seite früh und vielfach warnend zugerufen worden. Der Sturm der großen Rezession 2008 habe ein bis heute bleibendes Leck geschlagen.

Die Idee der Einführung des Euro wurde von Ökonomen früh kritisiert. Auch von politischer Seite wurden kritische Stimmen laut, die erklärten, dass der Euro zu weit von dem Konzept eines optimalen Währungsraums entfernt sei, um dauerhaft existieren zu können. Dennoch und im Bewusstsein dieser Schwäche wurde der Euro als „Schlussstein“ der europäischen Einigung eingeführt.

Bis zum Jahr 2007 ermöglicht es der Euro den teilnehmenden Staaten, günstige Kredite aufzunehmen, die, in hohem Maße ausgeschöpft in Spanien, Italien, Irland, Portugal und Griechenland, jedoch hauptsächlich konsumptiv verwendet werden. Bevor die Pleite der Lehman-Bank die Krise eskalieren lässt, haben diese Länder einen hohen Schuldenberg angehäuft und durch gesteigerte Lohnkosten ihre Wettbewerbsfähigkeit gesenkt. In der Krise beginnt nun eine Kapitalflucht aus den betroffenen Staaten. Griechenland kann sich nicht mehr an den Kapitalmärkten refinanzieren. Das gleiche Problem ereilt in kleinerer Tragweite Italien, Spanien, Portugal und Irland. Die Euro-Staaten geben ein Beistandsversprechen ab und Deutschland verabschiedet im Mai 2010 zusammen mit den anderen Euro-Staaten eine Rettungsarchitektur, eine Bankenregulierung und einen Mechanismus zum Umgang mit Staatsschulden.

Als Ursache der Eurokrise machen die Autoren eine mangelnde Bankenregulierung, wirkungslose Schuldenregeln und fehlende Rettungsinstitutionen aus. Die Banken nehmen vor der Krise zu viele Risiken (zum Beispiel Sub-prime-Derivate) in ihre Bilanzen auf. Zudem haben einige Banken eine Größe erreicht, die ihr Scheitern mit schwerwiegenden Folgen für die mit ihr verknüpfte Volkswirtschaft versieht. Was auf der privatwirtschaftlichen Seite in den Banken passiert, wird auch von den Euro-Staaten betrieben: Es werden zu viele Schulden aufgenommen. Die Maastricht-Kriterien, die auch gemacht wurden, um dies zu verhindern, werden von den Staaten nicht angewandt. Als die Krise dann eintritt, bestehen keine Institutionen, die darauf reagieren können. Es gibt keinen Notfallplan, der sagt, was zu tun ist. Es gibt keinen Konsens der Euro-Staaten, welcher Schritt in so einer Situation der richtige ist. Eine „Leerstelle in der Architektur der Währungszone“ (97) ist erreicht.

Die Autoren erkennen an dieser Stelle eine Reihe von Phänomenen etwa in der Entscheidungsfindung in Brüssel, im Auseinanderfallen von Haftung und Kontrolle, die für sie im Odysseus-Komplex ihren Ausdruck finden: ein mangelnder Wille zur Selbstbindung. Von dieser Diagnose ausgehend formulieren sie ihr Fünf-Punkte-Programm, um die Eurozone auch in Zukunft zu stabilisieren. Erstens, die Umsetzung der Bankenregulierung sollte forciert werden. Banken sollten nicht mehr über Gebühr in Staatstiteln engagiert sein dürfen, insbesondere nicht in denen ihres Heimatstaates. Die Bankenaufsicht müsste aus der EZB herausgelöst werden und als autonome Behörde eine transparente und europäische Regulierungskultur herstellen. Zweitens sollte die Schuldenkontrolle in Form des Fiskalpakts angepasst werden. Staaten sollten weiterhin die Möglichkeit haben, sich über die Maastricht-Kriterien hinaus zu verschulden. In diesem Fall wären aber durch das Instrument der Accountability Bonds höhere Zinszahlungen fällig, die eine übermäßige Neuschuldenaufnahme verhindern könnten. Drittens sollten die Rettungsverfahren aus dem Entscheidungsbereich der Mitgliedstaaten weitgehend gelöst und automatisiert werden. Es würden so Routinen entstehen, die eine schnellere und schlagkräftigere Reaktion auf Krisen erlaubten. Dazu gehört zum Beispiel eine automatische Verlängerung der Laufzeit von unter dem European Stability Mechanism, einem finanziellen Nothilfemechanismus, im Krisenfall aufgenommenen Schuldtiteln. Viertens sollte, sofern ein Land nach drei Jahren nicht den Weg an den Kapitalmarkt gehen könnte, eine Schuldenrestrukturierung erfolgen. Diese bestimmte nach klaren und vorher gesetzten Kriterien die Neuordnung und die Höhe des Schuldenschnitts. Die Aktivitäten der Europäischen Zentralbank, die in der Krise außerhalb des Mandats stattfanden, sollten eingeschränkt werden, ihr Mandat genauer formuliert und das Verbot der monetären Staatsfinanzierung präzisiert werden.

Johannes Becker und Clemens Fuest versammeln in ihrem Band „Odysseus-Komplex“ eine Reihe von Argumenten und Gedankengängen zum Thema Eurokrise. Sie bieten sowohl eine historisch aufgearbeitete Gesamtschau des Ablaufs der Eurokrise als auch eine kritische Würdigung der von Gegnern und Befürwortern der damaligen und aktuellen Politik gebrauchten Argumente. Eine von den Autoren selbst so genannte „zweckpessimistische Utopie“ (225) soll dem Leser die Konsequenzen der vorgeschlagenen fünf Punkte darstellen. Mehr noch als diese Spekulation hilft das Kapitel über Deutschland und den Euro („Der zögerliche Hegemon“), die politischen Probleme auf dem Weg zu einer aktiven Lösung der Krise zu verstehen.

Zu Gute halten muss man diesem Buch, dass es auf pragmatische Weise Vorschläge entwickelt, die auf dem Status quo des Institutionengefüges und den eingeübten Interaktionsmodi der Europäischen Währungsunion aufsetzen. Auch die fundierte und kritische Darstellung der Argumentationslinien macht den Odysseus-Komplex lesens- und empfehlenswert. Es bleibt das von den Autoren selbst eingestandene Problem, dass die striktere Selbstbindung von den Staaten beschlossen werden muss, die sich bisher ihrer eigenen Selbstbindung stetig widersetzt haben.

 

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