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En Marche! – Aber wohin? Frankreich nach den Parlamentswahlen vom 18. Juni 2017

20.06.2017
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PD Dr. phil. Matthias Lemke

Le Ventre lgislatif Honor DaumierFür die etablierten Parteien sind die bequemen Zeiten vorbei, „En marche!“ setzt Parlament wie Regierungsbank in Bewegung. Abbildung: „Le ventre législatif“ von Honoré Daumier,1834 (Brooklyn Museum via Wikimedia Commons).

 

Die politischen Verhältnisse in Frankreich sind spätestens nach den Parlamentswahlen vom 18. Juni 2017 andere geworden. 75 Prozent der Abgeordneten, die in die Assemblée Nationale einziehen, waren in der vorherigen Legislaturperiode noch nicht dabei. Diese parlamentarische Erneuerung geht zu Lasten der etablierten Parteien der Rechten und Linken, die massive Stimmeinbußen zu verkraften haben. Während die Republikaner noch 113 (2012: 194) Abgeordnete stellen, sind es bei der Parti Socialiste, den französischen Sozialdemokraten, gerade noch 29 (2012: 280). Das politische Establishment ist abgewählt und ob es sich, insbesondere im Fall der Parti Socialiste, von dieser Abwahl wird erholen können, darf als durchaus offene Entwicklung betrachtet werden.

Im Unterschied dazu hat der infolge der Niederlage bei der Präsidentschaftswahl intern derzeit völlig zerstrittene rechtsextreme Front National die Anzahl seiner Sitze vervierfachen können. Er kommt von zwei auf nunmehr acht Sitze, darunter einer für Marine Le Pen und ein weiterer für ihren Lebensgefährten und ehemaligen Generalsekretär des Front National, Louis Alliot. Le Pen gewann ihren Wahlkreis in der strukturschwachen Region Pas-de-Calais im Nordosten Frankreichs im zweiten Wahlgang deutlich mit 56,6 Prozent der Stimmen. Beide, Le Pen und Alliot, sind derzeit Mitglieder des Europäischen Parlaments und werden diese Mandate zugunsten der Abgeordnetentätigkeit in der Französischen Nationalversammlung aufgeben. Trotz dieser relativ starken Zugewinne ist der Front National allerdings nach wie vor nicht in Fraktionsstärke vertreten. Zur Bildung einer Fraktion bedarf es eines Zusammenschlusses von mindestens 15 Abgeordneten.

Die eindeutigen Gewinner der Wahl sind die meistenteils Politneulinge der links- beziehungsweise sozialliberalen Bewegung Emmanuel Macrons, von denen über die Hälfte vorher noch überhaupt kein politisches Mandat ausgeübt hat. Das Bündnis von La République en Marche (LREM) mit dem Mouvement Démocrate (MoDem) kommt insgesamt auf 350 Abgeordnete, wovon 308 auf LREM und 42 auf MoDem entfallen. Der Präsident und seine Bewegung haben damit zwar etwas schwächer abgeschnitten als in den Prognosen nach dem ersten Wahlgang erwartet. Eine absolute parlamentarische Mehrheit und einen Wählerauftrag zum politischen Neuanfang haben sie aber in jedem Fall. Das von Macron ausgegebene Ziel, ein alternatives politisches Angebot im links- beziehungsweise sozial-liberalen Spektrum zu unterbreiten, das die überkommene Konfliktlinie zwischen jeweils gemäßigter parlamentarischer Linker wie Rechter zu überwinden vermag, ist aus dieser Perspektive definitiv erreicht.

Nun stellt sich jedoch die Frage, wie dieser Neuanfang konkret aussehen soll und welche Reformprojekte Macron auf den Weg bringen wird. In den gut eineinhalb Monaten seiner Präsidentschaft, die Beobachter durchweg als fehlerfrei beschreiben, haben er und sein Kabinett unter Premierminister Édouard Philippe, der am 19. Juni 2017 erneut den Auftrag zur Regierungsbildung erhalten hat, zwar erste Entscheidungen getroffen und Gesetzesvorhaben auf den Weg gebracht. Viele der von Macron und seiner Regierung erwarteten Maßnahmen erschließen sich bislang jedoch immer noch lediglich aus dem Wahlprogramm.

Im Bereich der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik wird von Macron eine weitreichende Deregulierung und Flexibilisierung erwartet, auf formal-institutioneller wie auch auf kultureller Ebene. Es gelte, so das Programm von La République en Marche, einen Unternehmer- und Innovationsgeist zu stärken, der ökonomisch erfolgreichen Menschen nicht zuerst mit Neid und Missgunst begegnet, sondern der deren Leistung anerkennt. Darüber hinaus sollen Arbeitgeber bei den Sozialkosten entlastet werden, die Kosten der Arbeit insgesamt gesenkt, Klein- und Kleinstunternehmer gefördert und die Arbeitslosenversicherung auf alle Arbeitnehmer ausgeweitet werden, auch auf solche – wie etwa selbstständige Handwerker, Künstler oder auch niedergelassene Ärzte und Anwälte –, die derzeit nicht durch derlei Leistungen abgesichert sind. Durch diese und weitere Maßnahmen, die in der Summe an das Konzept der Agenda 2010, das unter dem Label ‚fördern und fordern‘ firmierte, erinnern, soll der Herausforderung der Massenarbeitslosigkeit nachhaltig begegnet werden. Um diese Politik auch umsetzen zu können, wird Macron nicht nur auf eine Parlamentsmehrheit, sondern auch auf die Unterstützung der Gewerkschaften angewiesen sein, die in Frankreich nicht nach Branchen, sondern nach politischer Ausrichtung organisiert sind. Von den Gewerkschaften wird erwartet, dass sie insbesondere für die Wahrung von Besitzständen – etwa besonders hohe Pensionsansprüche ehemaliger Staatsbediensteter, wie zum Beispiel Lokführern – eintreten werden. Ein erstes Treffen im Élysée-Palast mit den Gewerkschaftsvertretern hat es bereits gegeben.

Ein anderes, großes Thema, das nicht nur die Parlamentswahl, sondern auch schon den Präsidentschaftswahlkampf begleitet hat, ist die Europapolitik. Im Unterschied zu den Populisten der Linken wie der Rechten sind Macron und seine Bewegung als ausdrückliche Europabefürworter angetreten. Schaut man ins Parteiprogramm, so ist Europa tatsächlich nicht jener bürokratische Moloch, den die nationale Politik schon zu lange und nur zu gerne für jegliche Fehlentwicklung verantwortlich gemacht hat. Europa ist die gemeinsame Lösung für eine nachhaltige Zukunft der kommenden Generationen, nicht nur derjenigen Frankreichs. Europa schafft Arbeitsplätze und ökonomisches Wachstum, Europa ist ein Ort des Austausches und des Wissens – und nicht zuletzt dient Europa auch einer besseren gemeinsamen Verteidigung aller Mitgliedstaaten. Gerade im letztgenannten Zusammenhang verweist das Programm explizit auf einen engen Schulterschluss mit Deutschland. Staaten, die – nicht nur in der Verteidigungs- oder Sicherheitspolitik, sondern auch in anderen Bereichen – eine vertiefte Kooperation oder Integration ihrer Anstrengungen versuchen wollen, sollen das auch tun. Somit geht es nicht nur um eine schon lange fällige Revitalisierung des sprichwörtlichen deutsch-französischen Motors, sondern auch um das, was der damalige Außenminister Joschka Fischer einmal ein Europa der zwei oder mehr Geschwindigkeiten genannt hat. Sollte dieses Modell, das integrationswillige Staaten vorangehen und andere später hinzukommen lässt, tatsächlich weiter forciert werden, so könnte das ein entscheidender Schritt für den so dringend notwendigen Politikwechsel auf supranationaler Ebene sein.

Trotz aller programmatischen Bekenntnisse ist auch klar, dass sich diese beiden Politikfelder der Arbeitsmarkt- und Europapolitik in den kommenden Wochen und Monaten erst noch werden konkretisieren müssen. Tätig geworden sind Macron und sein Premierminister Édouard Philippe indes bereits auf dem Feld der Sicherheitspolitik. In Angst zu leben heißt ohne Freiheit zu leben; und Freiheit gibt es nur, wo es Sicherheit gibt, so das Wahlprogramm. Aus dieser begrifflichen Trias hat sich binnen weniger Wochen eine konkrete Politik entwickelt, die sich als Normalisierung des Ausnahmezustandes beschreiben lässt. Und in der Tat beschreitet die französische Regierung neue Wege, wenn es um die Vereinbarkeit dieser drei Begriffe angesichts der in Frankreich seit den Anschlägen vom 13. November 2015 in Kraft befindlichen sicherheitspolitischen Maßnahmen geht. Wie Le Monde am 7. Juni 2017 berichtete, hat die Regierung einen Gesetzentwurf erarbeitet, der am gleichen Tag dem Rat für Verteidigung und Nationale Sicherheit vorgelegt werden sollte. Der Entwurf „renforçant la lutte contre le terrorisme et la sécurité intérieure“ (dt. zur Stärkung des Kampfes gegen den Terrorismus und der inneren Sicherheit) enthalte zahlreiche Regelungen des Gesetzes 55-385 über den Ausnahmezustand, das in Folge der Anschläge von 2015 und 2016 mehrfach verschärft worden war. Der vorgelegte Entwurf ziele nun darauf ab, diese Maßnahmen in allgemeines Recht zu überführen. So solle künftig die Ausweisung von Gefahren- beziehungsweise Sicherheitszonen, die Möglichkeit, Aufenthaltsverbote oder Hausarreste auszusprechen sowie Orte oder Einrichtungen zu schließen, von denen vermutet wird, dass sie im Zusammenhang mit terroristischen Aktivitäten stehen, erlaubt sein, ohne dass es hierfür noch der Ausrufung eines Ausnahmezustandes bedarf. Die entsprechenden Regelungen sollen in das Gesetz über die innere Sicherheit (Code de la Sécurité intérieure), dort in das neu zu schaffende Kapitel „surveillance et autres obligations individuelles“ (dt. Überwachung und andere personenbezogene Maßnahmen) aufgenommen werden. Sollte sich diese Berichterstattung bestätigen, so wäre mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ein signifikanter Schritt zur Ausweitung des derzeitigen Sicherheitsdispositivs getan. Der Ausnahmezustand und die ihn tragenden Maßnahmen, über deren Verlängerung für Anfang Juli eine parlamentarische Debatte erwartet wird, würden so eine Verstetigung und Normalisierung erfahren. Was dann allerdings noch Ausnahmezustand sein soll, das steht auf einem anderen Blatt.

Zum Schluss noch eine letzte Zahl, die auch zu dieser Wahl gehört, und die bei einer Rückschau nicht fehlen darf: 57,36. Das ist der prozentuale Anteil der wahlberechtigten Französinnen und Franzosen, die es vorgezogen haben, beim zweiten Wahlgang auf eine Stimmabgabe zu verzichten. Dieser Wert, zugleich ein Rekordwert für die gesamte Fünfte Republik, ist zunächst einmal ein Ausdruck dafür, wie wichtig die Wahl des Präsidenten und wie wenig wichtig die Wahl des Parlaments offenbar genommen wird. Vielleicht ist diese Zahl aber auch mehr als ein bloßer Indikator für die Stärke der Exekutive im französischen Semipräsidentialismus. Sie ist, wenn nicht eine Eintrübung der Macron-Euphorie, so dann doch eine Mahnung, die es zu erinnern gilt, wenn man die Wahl in Frankreich in einen europäischen oder gar in einen globalen Kontext stellt. Auch wenn heute niemand mehr vom Frexit redet, der vor wenigen Monaten noch ein sehr reales Szenario war, so ist sie ein deutliches Zeichen dafür, dass der Kampf um die Demokratie gerade erst begonnen hat. Dabei handelt es sich um einen Kampf, der sich angesichts der weltpolitischen Lage wohl auf dem europäischen Festland und jenseits nationalstaatlicher Grenzen im Rahmen einer europäischen Lösung entscheiden wird und den zu gewinnen es keine Alternative gibt. Das Ziel für La République en Marche ist damit gesetzt.

 

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Information

Alle Wahlergebnisse zum Nachlesen gibt es auf der Seite des Französischen Innenministeriums unter http://elections.interieur.gouv.fr/legislatives-2017/.


Literatur

Dimitri Almeida
Laizität im Konflikt. Religion und Politik in Frankreich
Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften 2017

 

Deutsch-Französisches Institut (Hrsg.)
Frankreich Jahrbuch 2016. Sozial- und Solidarwirtschaft in Frankreich und Europa
Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften 2017

 

Oliver Flügel-Martinsen / Franziska Martinsen (Hrsg.)
Demokratietheorie und Staatskritik aus Frankreich. Neuere Diskurse und Perspektiven
Stuttgart, Franz Steiner Verlag 2015

 

Ulrike Guerot / Elisabeth Donat (Hg.)
Was ist los mit Frankreich? Von politischer Zersetzung zu sozialer Neuordnung
Bonn, Verlag J.H.W. Dietz Nachf. 2017

 

Julia Amalia Heyer
Frankreich zwischen Le Pen und Macron
München, dtv 2017

 

Christian Schubert
Der neue französische Traum. Wie unser Nachbar seien Niedergang stoppen will
Frankfurt, Frankfurter Allgemeine Buch 2017

 

Felix Syrovatka
Die Reformpolitik Frankreichs in der Krise. Arbeitsmarkt- und Rentenpolitik vor dem Hintergrund europäischer Krisenbearbeitung
Heidelberg, Springer Verlag 2016


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