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Petra Hemmelmann: Der Kompass der CDU. Analyse der Grundsatz- und Wahlprogramme von Adenauer bis Merkel

16.11.2017
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Autorenprofil
Ulrich Heisterkamp
Wiesbaden, Springer VS 2017

Der Vorwurf wankelmütiger Prinzipienlosigkeit ist stete Begleitmusik der Kanzlerschaft Angela Merkels. Die CDU-Chefin, argwöhnen Kritiker, suche ihr Heil stets im taktierenden Abwarten und gebe im Zweifelsfall auch eherne Grundüberzeugungen ihrer Partei preis, wenn dies nur dem Machterhalt diene.

Petra Hemmelmann untersucht in ihrer Dissertation, „inwiefern die CDU unter Angela Merkel tatsächlich ihr programmatisches Profil verloren hat.“ Der Fokus der Studie ist jedoch breiter, denn das Ziel ist „eine umfassende Analyse der Programmatik der CDU seit ihrer Gründung bis in die Gegenwart.“ (18) Die Autorin wertet dazu Gründungsaufrufe, Grundsatz- und Wahlprogramme sowie die Großen Regierungserklärungen der CDU-Kanzler und der Kanzlerin aus. Drei Aspekte sind forschungsleitend: Neben der Programmentwicklung in der Ära Merkel interessiert, ob die CDU über einen „feste[n] programmatische[n] Markenkern“ (19) verfügt. Zudem soll das Verhältnis von Programm und praktischer Politik bestimmt werden.

Die Studie ist in neun Abschnitte eingeteilt. Auf die Einleitung folgen vier Theorieabschnitte. Zunächst geht es um das terminologische Fundament, etwa den Begriff der Marke, den Hemmelmann in die Komponenten Markenidentität und Markenimage aufspaltet. Den ‚Markenkern‘ wiederum bezieht sie „über die Grundwerte und Leitprinzipien der Partei hinaus auch [auf] die für sie typischen Politikfelder, Themen und Positionen, zentrale Parteipersönlichkeiten, ihre Zielgruppen und ihren Kommunikationsstil“ (33).

Anschließend entwirft Hemmelmann einen überzeugenden Katalog von Funktionen und Relevanz von Parteiprogrammen. In repräsentativen Demokratien nutzten Parteien diese, „um ihre Positionen, Ziele und Handlungsabsichten darzulegen“ (68). Dabei ließen sich sowohl intrinsische als auch instrumentelle Motive ausmachen. Während sich der intrinsische Beweggrund im policy-seeking niederschlage, seien die Programme in instrumenteller Absicht auch auf die Zieldimensionen vote-seeking und office-seeking ausgerichtet. Nach innen gerichtete Funktionen programmatischer Publikationen, wie etwa Selbstverständigung, Konfliktregelung, Integration, Herrschaft und Legitimation, seien daher komplementär zu den stärker nach außen wirksamen Funktionen wie zum Beispiel Werbefunktion, Profilierung und Abgrenzung, Agitation, Kontrolle sowie Beitrag zur gesellschaftlichen Integration (vgl. 74).

Die Relevanz von Parteiprogrammen, argumentiert Hemmelmann, sollte dennoch nicht überschätzt werden. „Ihre grundsätzliche Aufgabe ist es, bestimmten Zielgruppen ein sachpolitisches Paket zu offerieren und damit auch einen Maßstab zu schaffen, der diesen Zielgruppen hilft, die Glaubwürdigkeit der Partei zu prüfen.“ (98) Die „programmatische Konsistenz über die Jahre hinweg“ (99) sei deshalb ein Schlüsselfaktor, der auch den Wahlerfolg bedinge.

Der empirische Block, der, konzeptionell etwas inkonsistent, auch methodologische Ausführungen zum Forschungsdesign umfasst, besteht aus drei Kapiteln. Ein instruktiver Abriss der CDU-Programmgeschichte leitet die mehr als 200 Seiten lange Analyse des programmatischen Profils der Christdemokraten ein. Neben qualitativen und quantitativen Inhaltsanalysen der deklaratorischen Texte hat die Autorin auch Fallstudien zu drei neuralgischen Themenfeldern erstellt (Wehrpflicht, Kernenergie, Mindestlohn), auf denen während Merkels Kanzlerschaft gravierende Richtungswechsel erfolgten.

Die nicht selten ironisch als Kanzler(in)wahlverein bezeichnete CDU ist Hemmelmann zufolge „keine klassische Programmpartei“. Gleichwohl habe sie „immer wieder intensive Phasen der Programmdiskussion durchlaufen.“ (163) Der Umfang der Programme und die Anzahl darin behandelter Themen seien im Zeitverlauf deutlich gestiegen – Zeichen für eine „individualisierte Gesellschaft und eine komplexere Welt“ (206), aber auch Resultat der Professionalisierung politischer Kommunikation im Zeitalter der Mediendemokratie. Inhaltlich genießt denn auch ein Themengebiet Priorität, das zum Kompetenzkern der CDU gehört: Die Wirtschaftspolitik habe im gesamten Untersuchungszeitraum hinsichtlich Umfang und Positionierung im Text „die größte Bedeutung in den Wahlprogrammen der CDU“ (239) – gefolgt von Sozialpolitik, Fragen der gesellschaftlichen-politischen Ordnung sowie Außenpolitik.

Hemmelmann fördert in der gut verständlich geschriebenen Arbeit auch Überraschendes zutage. So müsse die im Zusammenhang mit dem Vorwurf der Sozialdemokratisierung der CDU unter Merkel stehende Hypothese, dass die Sozialpolitik in den Wahlprogrammen während Merkels Parteivorsitz eine größere Rolle spielt als zuvor, verworfen werden. Einzig die Familienpolitik bilde hier eine Ausnahme (vgl. 240). Auch werde eine personalisierende Verengung auf Angela Merkel „durch die Wahlprogrammatik keineswegs belegt.“ (384) Beim Gottesbezug sei der Trend gegenläufig zur Säkularisierung und der nachlassenden Kirchenbindung der christlichen Unions-Stammwählerschaft. Während im ersten Grundsatzprogramm nur drei entsprechende Bezüge aufgetaucht seien, seien es 1994 sechs und 2007 sogar neun gewesen (vgl. 332 f.) – die Berufung auf christliche Werte hat somit nicht ab-, sondern zugenommen. Weniger überraschend: Das stilistische Agitationselement negative campaigning ist in den Wahlprogrammen nie massiver vertreten als bei den Kanzlerkandidaturen der CSU-Politiker Franz Josef Strauß und Edmund Stoiber. „Allein 50 der insgesamt 123 Themen, die Kritik am politischen Gegner beinhalten, befinden sich in den Wahlprogrammen 1980 und 2002.“ (354)

Den großen Bruch mit dem programmatischen Wertekanon der CDU, der Angela Merkel gelegentlich vorgehalten wird, sieht Hemmelmann nicht bestätigt. Mit Blick auf Merkels Kurskorrekturen bei Kernenergie, Mindestlohn und Wehrpflicht bilanziert sie: „Eine Bezugnahme auf die tradierten Werte der Partei lässt sich in allen Fällen deutlich erkennen.“ (437) Der mediale Gegenwind sei denn auch stärker gewesen als der genuin innerparteiliche Protest, der auf Flügelgruppierungen beschränkt geblieben sei.

Das Pionierwerk von Petra Hemmelmann setzt einen substanziellen Referenzpunkt für Anschlussstudien zu anderen Parteien – gerade die SPD als elektoral marginalisierte zweimalige Juniorpartnerin Merkels, zugleich durch die Linkspartei in ihrem ‚Stammrevier‘ herausgefordert, drängt sich hier auf.

 

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