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Trotz Wahlsieg ist die Zukunft offen. Einige Prognosen anlässlich der russischen Präsidentschaftswahl

26.03.2018
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Natalie Wohlleben, Dipl.-Politologin


Navalny Zelenka 27 April 2017 Moskau Evgeny Feldman WikimediaAlexej Nawalny gehört zu den Oppositionellen, die Opfer einer Seljonka-Attacke geworden sind. In seinem Fall – der Angriff erfolgte im April 2017 in Moskau – war dem grünen Desinfektionsmittel eine Säure beigemischt, sodass er am Auge verletzt wurde. Foto: Evgeny Feldman (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Navalny_zelenka.jpg / https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.en)

 

Die Wahlen in Russland seien schlicht langweilig geworden, schreibt Daniel B. Baer in einem Beitrag für Foreign Policy, was für Putin dennoch harte Arbeit bedeute: Es sei viel schwieriger, einer „fake election“ Glaubwürdigkeit zu verleihen als eine echte Wahl abzuhalten. Allerdings könne er sich auf seine langjährigen Erfahrungen in der Manipulation der öffentlichen Meinung und der Unterdrückung von Meinungsfreiheit und Opposition stützen, meint neben Baer auch Alina Polyakova. Sie lotet in einem Beitrag für The Atlantic die aggressive Desinformationskampagne Putins seit dem Jahr 2000 und deren Folgen aus. Angesichts dieses Settings kann es nicht überraschen, dass die Wiederwahl Putins zum Präsidenten am 18. März 2018 für die Wissenschaftler*innen, die die Entwicklung in Russland kontinuierlich beobachten, an sich kein interessantes Thema darstellt, zu vorhersehbar war der Wahlerfolg. Und die Frage, in welcher Höhe die Wahlbeteiligung ihn legitimiert oder delegitimiert, gehört erkennbar ohnehin in den Bereich der politischen Kaffeesatzleserei, die früher unter dem schönen Namen „Kremlastrologie“ Mode war.

Die Präsidentschaftswahl wird vielmehr zum Anlass genommen, eine Momentaufnahme von Putins Russland anzufertigen und die Frage zu stellen, ob dieses System eine Zukunft über seine kommende Amtszeit hinaus hat – vorausgesetzt, diese endet bei unveränderter Verfassung nach sechs weiteren Jahren.

Ein Indiz dafür, dass es nicht immer so wie von Putin gedacht weitergehen könnte, ist die Existenz von Alexej Nawalny, der als einziger ernstzunehmender Oppositionspolitiker angesehen wird. Zwar wurde scheinlegal verhindert, dass er kandidiert, aber nach Meinung verschiedener Beobachter*innen ist seine politische Karriere damit noch längst nicht am Ende – habe er es doch geschafft, landesweit 200.000 aktive Unterstützer zu mobilisieren, wie Anton Barbashin in Foreign Affairs schreibt, seine Bewegung habe bisher 84 Regionalbüros eröffnen können. Auch Jan Matti Dollbaum schreibt in einer der Russland-Analysen, dass Nawalny langfristig eine ernste Herausforderung für das Regime sei.

Ein Blick auf die hier vorgestellten Analysen zeigt, dass Nawalnys politische Wirkung nicht etwa nur in seiner persönlichen Ausstrahlung begründet ist. Der Oppositionspolitiker tritt vielmehr gegen ein System an, das in keinerlei Hinsicht zukunftsfest ist. Einen ersten Hinweis gibt Stefan Meiser in einem DGAP Standpunkt, indem er auf den gesellschaftlichen Wandel verweist, der politisch nicht gestoppt werden kann. Andrei Kolesnikov zeigt für das Carnegie Moscow Center auf, warum diese Kraft tatsächlich fehlen wird: Das ganze System sei derzeit daran ausgerichtet, die herrschende Elite an der Macht zu halten – die aber zu ihrer Destabilisierung selbst beitrage, indem sie den Westen verteufle und es zugleich versäume, der Bevölkerung – und vor allem der jungen Generation – eine eigene positive Vision der russischen Zukunft anzubieten.

Aber wie sollte eine solche Vision auch aussehen in einer Kleptokratie, wie sie Gregory Feifer in Foreign Affairs schildert, deren Kernelemente die Korruption und die Ausplünderung der natürlichen Ressourcen des Landes sind? Nennenswerte wirtschaftliche Reformen werden in den kommenden Jahren auf jeden Fall ausbleiben, schreibt Andrew Wood in einem Beitrag für Chatham House, weil diese den Machterhalt der herrschenden Elite nur gefährden würden. Das System habe sich damit in eine Sackgasse manövriert, so der Tenor nicht nur des Beitrags von Feifer: Putins hochgradig personalisiertes System habe keine Aussicht, das Ende seiner letzten Amtszeit zu überstehen. In dem Beitrag von Anton Himmelspach und Tamina Kutscher für die Blätter für deutsche und internationale Politik wird Putin deshalb schon „als lame duck, als lahme Ente“ charakterisiert.

Die Analysen sind chronologisch aufsteigend sortiert.

 

Anton Barbashin
The Future of Navalny's Opposition Movement. Why It Will Continue to Challenge the Kremlin
Foreign Affairs, Snapshot, 16. Januar 2018

Dem Oppositionspolitiker Alexej Nawalny sei zwar eine Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen verwehrt worden, schreibt Anton Barbashin, dennoch werde er auch weiterhin eine ernsthafte politische Herausforderung für das Regime darstellen – habe er mit seiner Bewegung doch landesweit 200.000 freiwillige Unterstützer rekrutieren und 84 Regionalbüros eröffnen können.

 

Jan Matti Dollbaum
Wahlkampf im elektoralen Autoritarismus: Alexej Nawalnyjs Kampagne für die Präsidentschaftswahlen 2018
Russland-Analysen Nr. 347, 18. Januar 2018

„Im Dezember 2016 gab der Antikorruptionsaktivist und Oppositionspolitiker Alexej Nawalnyj seine Absicht bekannt, bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2018 anzutreten. Seitdem hat sein Team eine der umfangreichsten politischen Kampagnen in der Geschichte des postsowjetischen Russlands aufgebaut. Die Funktionslogik des russischen politischen Systems – der elektorale Autoritarismus – setzt unabhängiger Opposition enge Grenzen; der Wettbewerb ist grob zugunsten des Status quo verzerrt. Und obwohl Nawalnyj mittlerweile offiziell von den Wahlen ausgeschlossen wurde und zum Boykott aufruft, stellt seine Kampagne die politische Führung vor eine ernste Herausforderung – zumindest langfristig.“ (Zusammenfassung)

 

Andrei Semenov
Wie weit können sie gehen? Die Systemopposition in Russland sucht ihren Platz
Russland-Analysen Nr. 347, 18. Januar 2018

„Die 2018 in Russland anstehenden Präsidentschaftswahlen stellen die Systemopposition – jene Parteien, die in unterschiedlichem Grade vom Regime kooptiert wurden, aber weithin von den Entscheidungsprozessen ausgeschlossen sind – vor die gewohnte Herausforderung: Soll man nun an dem wohlorganisierten Schauspiel des Kreml lediglich als Statist teilnehmen oder doch versuchen, die Grenzen des Möglichen auszuloten. Letzteres hängt stark davon ab, wieviel Ressourcen den Akteuren der Opposition zur Verfügung stehen. In diesem Beitrag soll skizziert werden, welche diskursiven, institutionellen und finanziellen Ressourcen die Systemopposition (KPRF, LDPR, ‚Gerechtes Russland‘ und ‚Jabloko‘) sammeln konnte, und dass nach Stand der Dinge ein breitangelegter Vorstoß dieser Parteien gegen das Regime höchst unwahrscheinlich ist: Ihre Wählerschaft schrumpft, sie verfügen kaum über eine substantielle Kontrolle über die regionalen Exekutiven oder Legislativen und die institutionellen Spielregeln, sodass sie ihre Position verlieren, sobald sie eine reale Bedrohung darstellen. Daher dürfte es für sie bei diesen Wahlen nicht um Expansion, sondern ums Überleben gehen. Allerdings bieten die Möglichkeiten, die sich durch den Wahlgang ergeben, im Zusammenspiel mit der beträchtlichen Anzahl unentschlossener Wähler der Systemopposition eine gute Gelegenheit, ihre Ressourcen auf eine Stärkung ihrer Verhandlungsmacht gegenüber der dominanten Partei zu richten.“ (Zusammenfassung)

 

Andrei Kolesnikov
Project Inertia: The Outlook for Putin’s Fourth Term
Carnegie Moscow Center, 25. Januar 2018

Eine Modernisierung des Landes sei nach Putins Wiederwahl nicht zu erwarten, schreibt Andrei Kolesnikov, das von ihm installierte System werde quasi auf Autopilot weiterlaufen – und währenddessen werde der Präsident nach und nach weiter die Kontrolle über Ereignisse und Ideen verlieren. Damit werde allerdings an sich noch keine Demokratisierung verbunden sein.

 

Stefan Meister
Stabil instabil. Putins Wiederwahl wird den gesellschaftlichen Wandel nicht aufhalten
DGAP Standpunkt 4, 22. Februar 2018

„Seit 18 Jahren regiert Wladimir Putin Russland: Eine ganze Generation junger Erwachsener kennt nur ihn als nationale Integrationsfigur. Gerade diese Generation aber hat Putin abgehängt, indem er sich immer mehr als Führungsfigur der konservativen, vor allem kleinstädtischen und ländlichen Mehrheit positioniert hat. Den gesellschaftlichen Wandel wird er damit nicht stoppen können – und auf ihn sollte der Westen setzen.“ (Einleitung)

 

Andrei Kolesnikov
Frozen Landscape: The Russian Political System Ahead of the 2018 Presidential Election
Carnegie Moscow Center, 6. März 2018

Von der Präsidentschaftswahl selbst sei keine Überraschung zu erwarten, schreibt Andrei Kolesnikov, sie biete sich aber als Zeitpunkt an, um einem Blick auf die Kernelemente des gegenwärtigen politischen Systems in Russland zu werfen. Dessen erste Aufgabe sei es, die herrschende Elite so lange wie möglich an der Macht zu halten. Ironischerweise aber führe deren Feldzug gegen die westlichen Werte zu einer Destabilisierung des eigenen Systems, da sie selbst es versäumt habe, der Bevölkerung eine eigene positive Vision der russischen Zukunft anzubieten. Zudem sei das politische System stark zentralisiert und allein auf die Person Putins ausgerichtet. Ähnlich lautet der Befund mit Blick auf die Zivilgesellschaft: Diese werde in ihren Möglichkeiten eingeschränkt und gegängelt, ohne dass eine systemkonforme Alternative aufgezeigt würde. Als weiteres Merkmal arbeitet Kolesnikov die enge Verschränkung von Politik und Wirtschaft einschließlich der Korruption heraus. Um die Bevölkerung hinter das Regime zu scharen, würden Aggression und Misstrauen geschürt, in der Folge seien Gewaltausbrüche, aber auch die Selbstorganisation radikaler Kräfte zu beobachten. In der Gesamtschau aller genannten Faktoren sei es unklar, wie stabil und dauerhaft das Regime Putins tatsächlich sei.

 

Mathieu Boulègue / Roman Osharov
Five Things to Know about the Russian Elections. As Russia prepares to head to the polls in the upcoming presidential elections on 18 March 2018, here are five things you should know
Chatham House, 6. März 2018

Die Autoren fassen die zentralen Aspekte der russischen Präsidentschaftswahl in fünf Punkten zusammen: Erstens handele es sich um die Krönung eines Mannes, dennoch werde, zweitens, die Höhe der Wahlbeteiligung für seine Legitimation von Bedeutung sein – die Opposition aber sei, drittens, irrelevant. Viertens spielten auch außenpolitische Faktoren eine Rolle: Zwar werde in den USA untersucht, ob sich Russland in die letzten Präsidentschaftswahlen eingemischt habe – in Moskau werde nun aber der umgekehrte Fall behauptet. Und fünftens: Über die Zukunft des Regimes würden die kommenden sechs Jahre entscheiden.

 

Margarita Zavadskaya
Der Kampf um die Wahlbeteiligung: Zunehmende Personalisierung der russischen Präsidentschaftswahlen 2018
Russland-Analysen Nr. 350, 9. März 2018

„Die Rolle der Präsidentschaftswahlen für die Aufrechterhaltung des autoritären Regimes unterscheidet sich von der Rolle, die Parlamentswahlen in Russland haben. Die Präsidentschaftswahl ist eng mit dem Ausmaß von präsidialer Macht und Personalisierung verbunden. Das politische Regime in Russland entwickelt sich zunehmend in Richtung eines konsolidierten personalisierten autoritären Regimes, in dem Präsidentschaftswahlen darauf abzielen, über eine Erhöhung der Wahlbeteiligung die Stärke des Regimes zu signalisieren und die Opposition zu spalten.“ (Zusammenfassung)

 

Inga A.-L. Saikkonen
Wahlbeteiligung und Wählermobilisierung bei landesweiten Wahlen in Russland
Russland-Analysen Nr. 350, 9. März 2018

„Die Wahlbeteiligung in Russland ist bei Präsidentschaftswahlen generell höher als bei Parlamentswahlen. Allerdings bestehen auch unterhalb der nationalen Ebene, zwischen den Regionen sowie innerhalb dieser beträchtliche Unterschiede. Bei den Dumawahlen 2016 war die Wahlbeteiligung drastisch gesunken. Eine geringe Wahlbeteiligung kann selbst bei einem überwältigenden Sieg des Amtsinhabers die Legitimität des Wahlergebnisses beeinträchtigen und Unzufriedenheit in der Bevölkerung signalisieren. Eine der wichtigsten Aufgaben der russischen Regierung bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen von 2018 dürfte daher die Mobilisierung der Wähler sein.“ (Zusammenfassung)

 

Paul Bochtler
Die Rolle der russischen Systemopposition bei den Präsidentschaftswahlen: Antreten für den Status quo
Russland-Analysen Nr. 350, 9. März 2018

„Nach sechs Jahren im Amt hofft Wladimir Putin, nach den Präsidentschaftswahlen 2018 eine neue Amtszeit antreten zu können. Alles sieht danach aus, als ob ihm dies auch gelingen würde. Die parlamentarischen Oppositionsparteien zeigen sich auch dieses Jahr nicht willens, Putin in seiner Position ernsthaft herauszufordern. Als Akteure in einem autoritären System könnte es für die Parteien jedoch interessant sein, in einem gemeinsamen präelektoralen Bündnis für eine demokratische Transition einzutreten. Was sind die Abwägungen, die hier stattfinden und wieso entscheiden sich die Parteien gegen eine solche Strategie? Mögliche Antworten lassen sich in den vielfältigen Strategien zur Kooptierung oppositioneller Eliten, in dem Klima des Misstrauens, den Mechanismen, Akteure bei Wahlen auszuschließen, den starken präsidentiellen Befugnissen und der hohen Stabilität des Regimes finden. Russland ist auch 2018 ein exzellentes Beispiel für die erfolgreiche Pervertierung von Wahlen zur Stabilisierung eines autoritären politischen Systems.“ (Zusammenfassung)

 

Daniel B. Baer
The Banality of Putin’s Potemkin Elections
Foreign Policy, 12. März 2018

Die Wahlen in Russland seien schlicht langweilig geworden, was für Putin dennoch harte Arbeit bedeute: Es sei viel schwieriger, einer „fake election“ Glaubwürdigkeit zu verleihen als eine echte Wahl abzuhalten. Allerdings habe Putin bei den vergangenen Wahlen bereits entsprechende Erfahrungen sammeln können und werde mittlerweile von den Medien unterstützt. Aber wozu das Ganze, fragt der Autor, schließlich habe Putin mehr als genug Vermögen angehäuft, um sorgenfrei leben zu können – aber so einfach könne man als Autokrat die mobartige Struktur, der man vorstehe, nicht verlassen.

 

Michail Pavlovec
„In Literatur und Forschung herrscht Eskapismus“. Russland vor der Wahl
Universität Trier, 13. März 2018

Der Literaturwissenschaftler Michail Pavlovec, derzeit zu Gast an der Universität Trier im Rahmen der Kolleg-Forschergruppe „Lyrik in Transition“, spricht in einem Interview über die „Putin-Wahl“ und „darüber, wie sich Bevölkerung, Wissenschaft und Literatur mit den Verhältnissen arrangieren“: „Die Menschen in Russland verstehen die Wahlen als Inszenierung. Sie wissen, egal ob sie zur Wahl gehen oder nicht, es wird sowieso Putin gewählt und ihre Stimme hat keinerlei Funktion. Also richten sie sich in ihrem häuslichen Umfeld ein, an Politik ist man weniger interessiert. Gleichzeitig ist die Einstellung zu Putin insgesamt sehr positiv, man assoziiert mit ihm eine gewisse Stabilität, unabhängig davon, dass sich in den letzten Jahren gezeigt hat, dass das gar nicht so ist. Für viele steht Putin außerdem für eine Vergrößerung des Imperiums, für ein größeres Machtgebilde, sie identifizieren sich mit diesem Neoimperialismus.“

 

Anton Himmelspach / Tamina Kutscher
Putin schafft sich ab
Blätter für deutsche und internationale Politik, März 2018

„Es war keine Überraschung, dass der einzige ernstzunehmende Herausforderer von Amtsinhaber Wladimir Putin nicht zur kommenden Präsidentschaftswahl am 18. März 2018 zugelassen wurde“, schreiben Himmelspach und Kutscher. Die politische Elite nehme Alexej Nawalny, der scheinbar aus dem Nichts zehntausende Menschen mobilisieren könne, offensichtlich als Gefahr wahr. „Zwar gibt es formalrechtlich am Ausschluss des vorbestraften Kandidaten nur wenig auszusetzen. Allerdings funktioniert diese Logik nur systemimmanent: Denn eine Gewaltenteilung gibt es in Russland nur auf dem Papier, die Institutionen sind potemkinsche Fassaden.“ Daher sind zwar von der Wahl keine Überraschungen zu erwarten, so die Einschätzung. Deutlich wird aber auch in dieser Analyse, dass sich Putin in ein Dilemma manövriert hat: Allein durch die Erzeugung von Angst werde sich das System auf Dauer nicht halten können. Wollte Putin aber Reformen anstoßen, müsste er die Kleptokraten entmachten und wäre auf die Hilfe des Westens angewiesen – „dazu aber müsste er die Formel der belagerten Festung fallen lassen.“ Dann aber würde seine Legimitation schwinden und ohne Rückhalt der kleptokratischen Eliten würde er dem Druck der Straße nicht standhalten können. „Ein Ausweg aus diesem Dilemma ist derzeit nicht in Sicht. Aus diesem Grund betrachten die Politikwissenschaftler Lilija Schewzowa und Gleb Pawlowski Putin auch bereits als lame duck, als lahme Ente. Aus ihrer Sicht ist der amtierende und voraussichtlich auch künftige russische Präsident innenpolitisch weitgehend handlungsunfähig. Er hat kaum eine andere Wahl, als mit allen Mitteln den Status quo zu verteidigen.“

 

Vera Rogova
Alles unter Kontrolle? Präsidentschaftswahl in Russland zwischen Regimestabilität und Protest
Peace Research Institute Frankfurt, Blog, 14. März 2018

„Der Ausgang der Präsidentschaftswahl in Russland am 18. März 2018 wird keine Überraschungen bereithalten: Die Wiederwahl Vladimir Putins zu seiner vierten Amtszeit und damit das Fortbestehen des politischen Regimes bis ins Jahr 2024 gelten als gesichert. Gleichzeitig zeigen die landesweiten Proteste und kritischen gesellschaftlichen Debatten der vergangenen Wochen und Monate, dass die Zukunft dieser vermeintlich unerschütterlichen Stabilität mit einem Fragezeichen zu versehen ist. Anhaltende sozioökonomische Missstände, ein konflikthaftes internationales Umfeld und der anstehende Machtübergang nach 2024 können zu ernstzunehmenden Herausforderungen für das Regime werden.“ (Einleitung)

 

Sir Andrew Wood
Putin and Russia in 2018-24: What Next?
Chatham House, 15. März 2018

Ausgehend von der geltenden Verfassung, werde Putin nun seine letzten sechs Amtsjahre als Präsident antreten. Geprägt werden die Jahre bis 2024 davon sein, dass Russland inzwischen so von autoritären Strukturen durchzogen sei, dass der Rahmen für einen funktionierenden Staat fehle – das Regime sei vor allem damit beschäftigt, sich selbst an der Macht zu halten. Zugunsten dieses Machterhalts werden nennenswerte wirtschaftliche Reformen ausbleiben, da diese die politische Stabilität gefährden würden, die Bevölkerung werde weiter kontrolliert und außenpolitisch Großmacht-Ambitionen verfolgt. Diese Perspektive sollte allerdings nicht den Blick auf die Frage verstellen, wer auf Putin folgen werde: Hinter ihm stehe keine organisierte Gruppe, die einen Nachfolger präsentieren könnte. Der Autor erinnert abschließend daran, dass Putins Kreml nicht identisch mit Russland sei: Der Westen sei daher gefordert, dem Umgang des Regimes mit den Menschenrechten – insbesondere in Verbindung mit den außenpolitischen Verpflichtungen Russlands – Aufmerksamkeit zu schenken, um den Menschen in Russland einen moralischen Anker zu bieten.

 

Gregory Feifer
Putin's Past Explains Russia's Future. What to Expect After the Election
Foreign Affairs, Snapshot, 16. März 2018

Der Autor beginnt seine Analyse mit der Beobachtung, dass in den Augen vieler russischer Konsument*innen seit einiger Zeit die Lebensmittel aus einheimischer Produktion als höherwertig gelten – und dieser Trend gehe tiefer, als sich mit einem ersten Blick auf den Frühstückstisch vermuten lasse: Er deute auf das Ende der Verwestlichung Russlands, die nach 1989/91 alle vorherigen Sicherheiten infrage gestellt hatte. Der Blick richte sich nunmehr wieder mehr auf sich selbst und die eigene Vergangenheit.

Das Ende der Reformära datiert Feifer auf die Finanzkrise 1998, die politische Wasserscheide sei das militärische Vorgehen des Westens gegen Serbien 1999 gewesen. Putin habe diese Veränderungen in der öffentlichen Wahrnehmung genau beobachtet und dann als Ministerpräsident einen dritten Weg angeboten: Autoritarismus mit persönlicher Freiheit, Nationalismus ohne politische Ideologie. Die Meinung, die der Kreml vom Westen habe, sei damit allerdings 1999 steckengeblieben.

Zwar sei schon Boris Jelzin vorgeworfen worden, den Oligarchen zu viel Spielraum eingeräumt zu haben. Doch erst Putin habe das System tatsächlich verformt: „His real innovation had to do with his use of corruption for instituting a feudal kind of top-down administrative control over politics and the economy. As long as regional governors and leading tycoons paid the Kremlin in fealty and cash, they were free to profit from their fiefs at will. Putin used strong-arm methods and intimidation to effectively renationalize the oil industry. And he installed a loyal bureaucrat, Alexey Miller, to head the state gas monopoly Gazprom in 2001. The company was previously run by an independent-minded boss who often acted against the Kremlin’s interests. Now it could be safely used to launder considerable sums of money.” Mit der Etablierung dieser Kleptokratie habe Putin die Plünderung der natürlichen Ressourcen ermöglicht und sein Land international isoliert. Alle militärischen Aktionen seien allerdings darauf angelegt gewesen, keine ebensolche Antwort der NATO zu provozieren. Gleichzeitig demonstriere Putin, wie jüngst mit dem Anschlag auf den ehemaligen Spion Sergei Skripal und dessen Tochter in London, dass er die etablierten internationalen Spielregeln infrage stelle.

In der Zusammenschau vertritt Feifer die Ansicht, dass Putins hochgradig personalisiertes System keine Aussicht hat, das Ende seiner letzten Amtszeit zu überstehen.

 

Alina Polyakova
How Russia Meddled in its Own Elections. Putin’s real victory is the culmination of his domestic disinformation machine
The Atlantic, 18. März 2018, gleicher Text unter dem Titel Putin’s re-election was decades in the making, Brookings Institution, Order from Chaos, 19. März 2018

Wenig überraschend habe Putin die Präsidentschaftswahlen deutlich gewonnen, die Wahlbeteiligung habe bei den für die eigene Legitimation gewünschten 65 Prozent gelegen – Ergebnisse, die mit einer teuren Wahlkampagne vorbereitet worden seien. „But even more important for Putin is that this election marked the culmination of his nearly two-decades-long project to control information in Russia and manipulate Russian society. Now, Putin has proven beyond any doubt that the Russia he has built is his and his alone.” Putin habe bereits im Jahr 2000, als er erstmals Macht übernahm, mit seiner Desinformationskampagne begonnen, zunächst seien die zuvor unabhängigen Fernsehsender übernommen und ihre bisherigen Besitzer ins Ausland gedrängt worden. Seitdem werde die Pressefreiheit unterdrückt, die Arbeit der NGOs zunehmend erschwert und über Social Media die öffentliche Meinung manipuliert – erst im eigenen Land, dann im Vorfeld der dortigen Präsidentschaftswahlen in den USA. In Russland habe Putin so tatsächlich die Deutungshoheit gewonnen: „Basking in the glow of a pre-ordained ‚victory‘, Putin must be pleased. Not just because he’ll be Russia’s president once again – a prospect he seemed bored with during his nonexistent re-election campaign. Rather, he’s no doubt thrilled because his diligent efforts to control information in Russia have finally blossomed. For Putin, this is the real victory.“

 

Konstantin Gaaze
Russia’s Impossible Coalition: Putin’s New Politics
Carnegie Moscow Center, 20. März 2018

Die Wiederwahl Putins habe außer Frage gestanden, schreibt der Autor, wirklich interessant sei dagegen, welches wirtschaftspolitisches Denken sich in den kommenden Jahren durchsetzen werde: Die eine Denkschule sei durch Yury Yaryomenko geprägt. Für den 1996 verstorbenen Yaryomenko, der Mitglied in der KPdSU gewesen war, basierte die wirtschaftliche Entwicklung auf großen Fabriken. „To develop the economy, you need to stimulate output, put funds back into modernizing the production line, and invest in research and development.” Die zweite Denkschule gehe auf Anatoly Chubais und den späten Jegor Gaidar zurück, sie vertraten einen liberalen Ansatz einschließlich einer Zurückhaltung des Staates. Der Versuch, beide Denkschulen zu versöhnen, sei kurz vor dem Kollaps der Sowjetunion bereits einmal gescheitert. Für den künftigen wirtschaftspolitischen Kurs zwischen diesen beiden Polen werde vor allem auch die Position von Ministerpräsident Dmitri Medwedew von Bedeutung sein.

 

Andrei Kolesnikov
A Mandate for Stagnation: After Russia’s Presidential Election
Carnegie Moscow Center, 22. März 2018

Die Zustimmung, die Putin mit seinem Wahlergebnis erhalte habe, sei unerwartet hoch gewesen. „It was, in fact, too high to be credible.“ Wahlergebnis wie Wahlbeteiligung seien vor allem das Ergebnis einer massiven Propaganda-Kampagne, die in dieser Form Artikel des Wahlgesetzes verletzt habe. Dennoch sei festzustellen, dass bei einer Wahlbeteiligung von unter 70 Prozent auf jeden Fall auch ein nennenswerter Prozentsatz der Wähler dem Aufruf Nawalnys zum Wahlboykott gefolgt sei – nur sei dies aufgrund fehlender Daten schwer einzuschätzen. Und der große Rest? „In this election people were voting merely with the hope that things will not get worse.” Putin habe damit de facto ein Mandat für die Stagnation erhalten.

 

Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen et al. (Hrsg.)
Präsidentschaftswahlen in Russland 2018
Russland-Analysen Nr. 351, 23.03.2018

Mit folgenden Beiträgen: Putins neue Amtszeit: Ausblicke und Erwartungen – Keine Veränderung der russischen Politik im Hinblick auf den Krieg im Donbass zu erwarten – In der Falle: Sechs weitere Jahre rechtspolitischer Stillstand –Großmachtnarrativ und Konfrontation mit dem Westen: Putin geht den Weg des geringsten Widerstands – Die vierte Amtszeit Putins: Wird Russland
weniger oder stärker berechenbar? – In der Wagenburg: Putins Russland nach der Präsidentschaftswahl – Putins letzter Coup – Dystopische Wahlmonarchie – Dokumentation: Wahlergebnis der Präsidentschaftswahlen vom 18. März 2018 –Wahlbeobachtung: „Golos“-Bericht zu den Präsidentschaftswahlen am 18. März 2018 in Russland – EPDE protestiert gegen die Einstufung als „unerwünschte Organisation“ in Russland – Dekoder: Die zwei Staaten des Wladimir Putin.

 

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