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Thomas Biebricher: Geistig-moralische Wende. Die Erschöpfung des deutschen Konservatismus

17.06.2019
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Autorenprofil
Oliver Kannenberg, M.A.
Berlin, Matthes und Seitz 2018

Als Angela Merkel nach 16 Jahren CDU-Vorsitz im November 2018 zum letzten Mal vor „ihrem“ Parteitag sprach, konnte man in ihrem Gesicht die Mischung aus Erleichterung und Rührung erkennen. Viel hatte sie in den Wochen, Monaten und Jahren zuvor mit der christdemokratischen Partei durchzustehen. In kurzer Sicht war es vor allem die Flucht- und Migrationsbewegung im Sommer 2015, die das Verhältnis zwischen der Parteivorsitzenden und der Basis belastet hat. In der langen Sicht ordnet sich das (Nicht-)Reagieren der Kanzlerin im besagten Sommer in eine Reihe von Entscheidungen ein, die gemeinhin zu der Analyse führen, Angela Merkel hätte die CDU „sozialdemokratisiert“ und somit den konservativen Markenkern der Union preisgegeben.

Eben jene Interpretation nimmt Thomas Biebricher zum Anlass, sich einmal grundlegender mit dem Zustand des deutschen Konservatismus der vergangenen 35 Jahre auseinanderzusetzen. Ein zusätzlicher Ausgangspunkt seiner Studie ist die zutreffende Beobachtung, dass konservative Parteien auch in anderen Ländern (zum Beispiel in Frankreich oder Großbritannien) zunehmend unter Druck geraten sind. Die titelgebende „Erschöpfung des deutschen Konservatismus“ versucht Biebricher im Folgenden mittels einer Verknüpfung von Debatten und der parteipolitischen Entwicklung der Christdemokraten nachzuzeichnen. Als Referenzpunkt für den Begriff des Konservatismus wählt er Edmund Burke, den vielzitierten irischen „Urvater“ dieser Denkrichtung. Biebricher hält die Ausführungen zu Burke knapp, was durchaus zu gefallen weiß, will er doch im Wesentlichen auf die Unterscheidung von einer „substanziell-inhaltlichen“ und einer „prozeduralen“ Dimension des Konservatismus hinaus. Erstere stützt sich im Wesentlichen auf ein starkes Ordnungsdenken, welches Institutionen wie Staat und Kirche in den Mittelpunkt stellt und von den Bürgern die Bereitschaft einfordert, sich für diese Institutionen zu einem gewissen Grad aufzuopfern. Wenn Biebricher hinsichtlich der prozeduralen Dimension anmerkt, dass für Burke „die inhaltsfreie Kunst der Moderation widersprüchlicher Positionen“ eine wesentliche Kompetenz konservativer Politiker ist, lässt sich schon ein erstes Mal erahnen, in welche Richtung die Betrachtung Angela Merkels im hinteren Teil des Werkes gehen wird.

Die Verzahnung von Debatten und Realpolitik gelingt Biebricher über weite Strecken des Buches sehr gut. So erläutert er, wie die „deutsche“ Form des Neokonservatismus sich als Reaktion auf die 68er-Bewegung positioniert hat, ohne von der CDU der 1980er- und 1990er-Jahre realpolitische Unterstützung bekommen zu haben. Als zentrale Denker gelten ihm etwa Hermann Lübbe, Helmut Schelsky sowie Arnold Gehlen. Für die jüngere Vergangenheit werden Paul Nolte und Udo di Fabio als Gewährsmänner konservativer Interpretationen herangezogen.

An Aktualität allzu wenig verloren hat das Kapitel über das Verhältnis konservativer beziehungsweise neurechter Denker zur deutschen Nation, den Umgang mit der Vergangenheit und Stellung innerhalb Europas. Die Debatten um die Wiedervereinigung und den Historikerstreit werden in die Fragen nach einer deutschen Identität innerhalb des im Zusammenwachsen begriffenen Europas eingeordnet. Zudem zeigt Biebricher auf, wie die „klassisch konservativen Topoi der Asyl- und Einwanderungspolitik […] um die Dimension der Integration“ (206) ergänzt wurden. Gerade Letztere wurde bekanntlich wiederkehrend zu einem innerparteilichen Streitthema, wenn etwa der damalige Bundespräsident Christian Wulff den Islam zu Deutschland zugehörig nannte.

Die Nacherzählung der politischen Vorgänge mag für Beobachter der damaligen Zeit wenig Neues hervorbringen, jedoch schafft es Biebricher oft, die Widersprüchlichkeiten innerhalb konservativer Interpretationen von konkreten Politikinhalten aufzuzeigen. So hätte beispielsweise eine stärkere Unterstützung von Familien tendenziell positiv aufgenommen werden müssen, wenn nicht gleichzeitig auch Kritik aufgrund der rein materiellen Anreizstruktur hervorgebracht worden wäre. Gleiches gelte für eine der großen Entscheidungen Angela Merkels, die klassischerweise als Beispiel für die „Sozialdemokratisierungs-These“ herangezogen wird, den Atomausstieg. Der erste Widerspruch zeige sich bereits auf der inhaltlichen Ebene, wenn die Atomenergie als konservative Herzensangelegenheit bezeichnet wird, obwohl die damit einhergehenden Folgen nicht nur die „Schöpfung“, sondern auch folgende Generation nachhaltig schädigen können. Auf der prozeduralen Ebene wurde der Bundeskanzlerin von verschiedenen Seiten vorgeworfen, im Alleingang – also an Partei und Fraktion vorbei – entschieden zu haben. Eben jene fehlende Entscheidungsstärke wurde Helmut Kohl, den „Mantel der Geschichte“ ausgenommen, von konservativer Seite stets negativ angekreidet.

Wenn ein zentrales Anliegen konservativer Politik in den behandelten 35 Jahren herausgestellt werden soll, so würde es die moralische Aufladung der Finanzpolitik sein, die in der Glorifizierung der Haushaltsdisziplin, der „Schwarzen Null“, mündet. Der Kapitalismus im Allgemeinen und die Sparpolitik im Speziellen galten fortan noch stärker als Moral- und Tugendschule, weswegen die Weltfinanzkrise ab 2007 eine umso größere Erschütterung an diesen konservativen Grundfesten darstellte. Der neoliberale Drift der Unionsparteien wurde durch die (notwendige) Teilverstaatlichung von Banken jedoch nur kurz infrage gestellt, folgte wenige Zeit später doch mit der europäischen Staatsschuldenkrise die Möglichkeit, „die zur Rechenschaft zu ziehen, die mutmaßlich die ethischen Grundlagen des Kapitalismus missachteten“ (248).

Fernab davon sieht Biebricher „weit und breit keine anderen Kandidaten für typisch konservative Positionen“ (291). Dem politisch organisierten Konservatismus sind die eigenen Inhalte also eher kontinuierlich abhandengekommen, als dass dahinter eine gezielte, machterhaltende Strategie gesteckt hätte, schließt Biebricher in seinem Fazit. Zu der Erschöpfung geselle sich eine intellektuelle Verflachung aufgrund mangelnder Unterstützung von „zivilgesellschaftlichen Verbündeten“, also eben jener Akteure, die der AfD den Weg in den Deutschen Bundestag geleitet haben. Deutlich wird dies gegenwärtig an den Versuchen der Unionspolitiker, Verbündete und Influencer in der Netzsphäre für ihre Politik zu gewinnen.

Welche Entwicklungsoptionen bleiben also laut Biebricher für die Union nach Merkel? Das „Auf-Sicht-Fahren“, welches Angela Merkel als Kanzlerin und Parteichefin par excellence beherrschte, könnte zum Markenzeichen einer konservativen Partei werden, die sich ohnehin in ihrer Vergangenheit allzu wenig durch Programmatik ausgezeichnet hat, sondern eher durch das Selbstverständnis als Kanzler- und Krisenmanagement-Partei. Die Gefahr einer Fortführung liegt zum einen in der fehlenden Bindekraft einer entideologisierten Partei und zum anderen in der starken Personalfixierung. Wenngleich die Nachfolgefrage um den Parteivorsitz (und damit sehr wahrscheinlich auch die nächste Kanzlerkandidatur) geklärt ist, bleibt fraglich, wie sich Annegret Kramp-Karrenbauer mit den nationalen wie internationalen Herausforderungen schlagen wird. Biebricher vermeidet eine klare Prognose, wirft jedoch abschließend ein, dass die Schadenfreude über die Erschöpfung des Konservatismus nicht allzu groß sein sollte, könnte diese Diagnose doch die Vorhut einer generellen regressiven Entwicklung der Demokratie darstellen.

Es bleibt wenig Anlass für Kritik an dieser äußert aufschlussreichen Studie. An einigen Stellen hätte durchaus die Rolle der CSU, als rechts-konservativem Korrektiv über den Freistaat Bayern hinaus, stärker beleuchtet werden können. Ebenso fehlt es an einer Betrachtung derjenigen „intellektuellen“ Akteure, die ihren propagierten Konservatismus zwischen der Parteipolitik von AfD und CDU verorten. In Gänze ist es Thomas Biebricher sehr gut gelungen, die Entwicklung des deutschen Konservatismus parteipolitisch zu sezieren.

 

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