Michael Flohr: Kulturpolitik in Thüringen. Praktiken – Governance – Netzwerke
19.08.2019Netzwerke, Beziehungen, Austauschhandlungen und nicht zuletzt Machtstrukturen sind zentrale Untersuchungsgegenstände in der politikwissenschaftlichen Forschung. Für die Policy Kultur sind sie ein noch wenig beachteter Bereich. Überhaupt fristet Kulturpolitik als Untersuchungsfeld in der Politikwissenschaft ein Schattendasein. Dabei bieten politik- und sozialwissenschaftliche Forschungsansätze sehr gute Untersuchungsmethoden für kulturpolitische und -wissenschaftliche Analysen. Gerade Netzwerkanalysen erweisen sich in aktuellen Forschungsarbeiten zur Kulturpolitik als wichtige Bausteine, um die Strukturen und Mechanismen kulturpolitischer Prozesse besser zu verstehen. Dies betrifft zentrale Fragen: Wie arbeiten kulturpolitische Akteur*innen zusammen? Welche Kooperations- und Konfliktnetzwerke bestehen? Durch welche von Institutionen oder Einzelakteur*innen geprägten Strukturen entscheiden sich kulturpolitische Entwicklungen?
Michael Flohr tritt an, für die Kulturpolitik in Thüringen Antworten auf diese und weitere Fragen zu finden. Seine Dissertation ist das Ergebnis kulturpolitischer Forschung auf Basis des akteurzentrierten Institutionalismus. Klassisch aufgebaut, erwartet der*die Leser*in eine tiefgehende Erfassung der Landeskulturpolitik Thüringens, die Flohr profund und präzise analysiert. Damit spricht das Werk in erster Linie einen wissenschaftlichen Rezipientenkreis und weniger aktive Akteur*innen von Kulturpolitik an.
Flohr kommt nicht umhin, sich eingangs den Begriffsbestandteilen von Kulturpolitik zu widmen. Dem Umstand, dass Kultur als Sammelbegriff eine hohe Bandbreite an Bedeutungszuschreibungen aufzuweisen vermag, begegnet der Autor in seinen ersten beiden Kapiteln auf rund 70 Seiten ausführlich. Dabei leitet er seine Leserschaft auf Basis des dreiteiligen Politikbegriffs durch den an Zuschreibungen reichen Kulturbegriff. Policy, Polity und Politics setzt Flohr als einordnende Anker ein, und bietet damit eine Orientierung im Dschungel vorherrschender Begriffsdefinitionen. Auch die historischen Dimensionen und Entwicklung von Kulturpolitik seit 1945 finden hierbei umfassende Beachtung. Dies erscheint auf der einen Seite sehr umfangreich (mehr als 30 Seiten), ist auf der anderen der Teilung Deutschlands geschuldet und für das Verständnis der thüringischen Situation durchaus von Belang. Schließlich liegen in den Akteur*innen-Perspektiven auf Kulturpolitik und damit in ihren Funktionen aus der Historie der deutschen Teilung heraus grundlegende Unterschiede in ihrer Entwicklung vor, die sich auch bestimmend auf die Ausgestaltung von Kulturpolitik ausgewirkt haben. Suchten die Alliierten in Westdeutschland von Beginn an Kultur- und Bildungspolitik als Instrument für den Aufbau einer wehrhaften Demokratie einzusetzen, so diente die Kulturpolitik der DDR insbesondere der Vermittlung eines idealisierten Gesellschaftsbildes im Sinne des „demokratischen Sozialismus“.
Thüringen als Untersuchungsgegenstand bietet an sich schon einen veritabel neuen Beitrag zur kulturpolitischen Forschungsliteratur. Fehlt es doch bisher nicht nur weitgehend an grundlegenden Untersuchungen der Kulturpolitik einzelner Bundesländer insgesamt, sondern auch insbesondere der der ostdeutschen Bundesländer. Dementsprechend weitet Flohr den gewählten Forschungsrahmen weit über das analytisch erforderliche hinaus aus. Auf knapp 120 Seiten trägt er Daten, Akteur*innen und Strukturinformationen zusammen, die in ihrer Zusammenstellung bisher nicht verfügbar waren. Für die Leser*innen wäre ein zusammenfassender Anhang, zum Beispiel in tabellarischer Form durchaus ausreichend gewesen. Die Ausführlichkeit dokumentiert allerdings Aufwand und Erkenntnis zugleich und bietet Einsichten in gleich dreifacher Hinsicht. Dieser zeitliche und akribische Einsatz ist dabei nicht zu unterschätzen. Die zusammengetragenen Daten bieten erstens die Grundlage, um überhaupt das gewählte Forschungsdesign umsetzen zu können. Nur durch die Kenntnis über die Vielzahl an kulturpolitischen Akteur*innen ist deren Berücksichtigung in der Netzwerkanalyse überhaupt denkbar. Zweitens zeigt die Datenvielfalt, wie ausdifferenziert Kulturpolitik verortet und aufgestellt ist. Drittens und in der Rezeption für Leser*innen und Kulturpolitiker*innen am schwerwiegendsten, ist der Umstand, dass es überhaupt notwendig ist, diese Daten erst von Grund auf zu erheben. Verfügbare Daten bei statistischen Landesämtern sind nur rudimentär und mit großen Lücken vorhanden. In den Landesverwaltungen liegen Daten, sofern überhaupt welche erhoben werden, verstreut und für wissenschaftliche Analysen meist nur durch persönliche Beziehungen zugänglich vor. Damit dokumentiert die Datensammlung allein schon die randständige Beachtung von Kulturpolitik und nicht zuletzt die bis zur Missachtung reichende Geringschätzung der Policy Kultur im Kanon der Politikfelder.
Neben dem Fleißwerk des Dissertationsprojektes ist die Analyse und Einordnung der qualitativen wie quantitativen Datenerhebungen der wichtigste Beitrag Flohrs zur Kulturpolitikforschung. Ein Drittel der Arbeit umfasst die Ausarbeitung, in der der Forscher präzise und klassisch aufgebaut darlegt, wie die kulturpolitischen Akteur*innen, ihre Strukturen und die sich daraus bildenden Netzwerke in Thüringen aufgestellt sind. Aus den Ergebnissen stechen Resümees heraus, die den Charakter von Kulturpolitik hinsichtlich des Selbstverständnisses dieser Policy und den Status in Politics und Polity prägen. Damit einher geht, nach welcher unüberwindbar scheinenden Logik das kulturpolitische System Thüringens funktioniert. Seien es die herausgehobene Stellung der mit der Policy Kultur hauptsächlich betrauten Staatskanzlei im Informations-, im Kooperations- sowie im Vertrauensnetzwerk, die sich im Wesentlichen in der Ressourcenmacht zu begründen scheint. Oder sei es die Kognition der eigenen Position der Akteur*innen und ihrer Einbindung in das kulturpolitische Policy-Netzwerk des Landes, die sich ebenfalls auf die Frage von (jeweiligen) Ressourcen, aber auch auf das „Wollen“ und die „Beharrlichkeit“ und damit den eigenen „Status“ bezieht (262). Aber auch der motivationale Aspekt, Kulturpolitik aktiv zu betreiben oder sich, im Gegenteil, aus dieser auf Landesebene herauszuhalten, trägt der Prägung der Ressourcenlogik in der Kulturpolitik Rechnung. Dies bildet sich nach Flohrs Erkenntnissen aus den Expert*innen-Interviews in der Frage kulturpolitischer Solidarität ab, die, positiv oder negativ konnotiert, über den Durchsetzungserfolg der vielfältigen Partikularinteressen vor dem Hintergrund begrenzter Ressourcen entscheidet.
Übergeordnet wird an Flohrs Darstellung und Einordnungen deutlich, wie stark letztlich die individuellen Dispositionen, Charaktere und persönlichen Überzeugungen von Einzelakteur*innen die Geschicke der kulturpolitischen Institutionen prägen. Dass diesbezüglich eine hohe Erkenntnistiefe vorliegt, ist dem gewählten Ansatz des akteurzentrierten Institutionalismus zu verdanken, der genau auf eben diese Erklärungen für politisches Handeln setzt. Gerade für die Untersuchung von Kulturpolitik scheint der Ansatz die geeignete Wahl zu sein, da mit diesem die Policy Kultur und ihre Vielfalt kultureller Ausdruckformen sowie ihre Partikularisierbarkeit analysiert werden können. Da der Ansatz das Ziel hat, Entwicklungslinien mit der Komplexität und dem Individualismus von Interaktionen zu erklären, kann mit diesem herausgearbeitet werden, dass die eingeübten Handlungslogiken rekursiv für die Definitionsproblematik von Kultur sind: Das System Kulturpolitik erhält sich selbst – ohne den Begriff Kultur für sich zu definieren.
Die zentralen Erkenntnisse dieser Forschungsarbeit belegen den wissenschaftlichen Mehrwert seiner Methodik und die Wichtigkeit von kulturpolitischer Forschung aus der Perspektive und mit dem Instrumentarium der Politikwissenschaft. Der Autor bietet einen umfassenden Einblick in die Strukturen und Netzwerke, aber besonders auch in die Beziehungen und Verstrickungen thüringischer Kulturpolitik.
Flohrs Ergebnisse sind auf der Erkenntnisebene – so lässt sich vermuten – in anderen Bundesländern in ähnlicher Form vorhanden. Dass sich Kulturpolitik „in einer systemimmanenten Sinn- und Strukturkrise“ (317) befindet, darf ohne Kühnheit als Depression bezeichnet werden, die sich unter anderem im hinterbänklerischen Selbstbewusstseinsmangel kulturpolitischer Sprecher*innen spiegelt. Sie sehen ihre Position im Ringen um das Agenda Setting als gering an und stehen im Konzert der Policy-Vertreter*innen nicht an der Spitze der parteipolitischen Wahrnehmung. Dabei sind es gerade Kulturpolitiker*innen, die Antworten auf die Fragen nach dem jetzigen und zukünftigen Zusammenleben finden müssen. Das zeigen nicht zuletzt die Vielfalt und Reichweite kultureller Fragen in gesellschaftlichen Diskursen.
Antworten in Form von Handlungsanweisungen darf die Leserschaft von Flohrs analytischer Bestandsaufnahme thüringischer Kulturpolitik nicht erwarten. Dementsprechend konstatiert er sehr treffend und auf die Veröffentlichung von „Der Kulturinfarkt“ (Haselbach et al., München 2012) verweisend, dass Kulturpolitik insgesamt der nötige Druck fehlt, aus der systemimmanenten Depression herauszukommen.
Vielleicht hilft zur abschließenden Verdeutlichung das gedankliche Bild vom Kaninchen vor der Schlange: Entweder ist der Veränderungsdruck durch Ressourcenknappheit und prekäre Daseinsbedingungen noch immer nicht groß genug (Fluchtaspekt), oder die Veränderungsangst hat sich zu einer chronischen Paranoia manifestiert, deren Auflösung den Systemtod bedeuten würde (Verharrungsaspekt). Flohrs Befund verweist auf den zweiten Aspekt: „Im kulturpolitischen Feld dominiert eine protektionistische Ausrichtung der Bestandswahrung, ein weitgehendes Interesse an Kontinuität, eine geringe Veränderungsbereitschaft und eine pessimistische, teils resignierende und von Verlustangst bestimmt Perspektive auf die Zukunft.“ (320)
Mehr Informationen über Michael Flohr: https://nachhaltigkeit-politik-kultur.de