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Die Rolle der FDP im Parteiensystem

17.09.2018
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Michael Freckmann, M.A.

FDP Parteitag flickr34333442415 b147fdb8bc zRollenfindung der FDP auf ihrem Bundesparteitag im April 2017, der unter dem Motto „Schauen wir nicht länger zu“ stand.
Foto: FDP/flickr (https://www.flickr.com/photos/liberale/34333442415/in/album-72157683016151406/, Lizenz: CC BY-NC-ND 2.0)

 


Gliederung

1. Rollen und Funktionen der FDP im historischen Wandel

2. Absturz und Wiederaufstieg: Krise ab 2011, Bundestagswahl 2017 und „Jamaika“

3. Rollensuche der FDP im aktuellen Parteienwettbewerb

4. Fazit: Das Dilemma zwischen programmatischer Identität und inhaltlichem Koalitionskorrektiv

Literatur


Die FDP ist die Partei, die in den vergangenen Jahren die wohl dramatischste Entwicklung zurückgelegt hat. Sie existiert seit dem Beginn der Bundesrepublik, ist die älteste der kleinen Parteien und galt 45 Jahre lang im Bund als „ewige Regierungspartei“. In ihrer Geschichte zeigte die FDP immer unterschiedliche Gesichter: Sie galt als „Königsmacherin“, „Zünglein an der Waage“ und inhaltliches Korrektiv für Koalitionen, war Klientelpartei des Wirtschaftsbürgertums und der „Besserverdienenden“. Es gab Zeiten, da wollte sie liberale Volkspartei sein, sah sich als Vertretung des reflektierten Bürgertums und einerseits unabhängig von potenziellen Koalitionspartnern oder stand andererseits fest an der Seite der Union. Die FDP wurde oftmals totgesagt, verstand es jedoch immer wieder, eine neue Rolle einzunehmen. 2013 drohte nahezu der Absturz in die Bedeutungslosigkeit; sie schien auch ihre Funktion im Parteiensystem verloren zu haben. Als ihr vier Jahre später die Rückkehr in den Bundestag gelang, hatte sich das deutsche Parteiensystem verändert. Doch welche Rolle kann die FDP nach freiwilligem Regierungsverzicht im intensivierten Parteienwettbewerb, angesichts von Polarisierung und gestiegener Wählervolatilität in der aktuellen Lage noch einnehmen?


1. Rollen und Funktionen der FDP im historischen Wandel

Heterogene Wählerschaft und programmatisches Changieren

Die Partei der „Freien Demokraten“ wurde in der Bundesrepublik gegründet, ihre Vorläufer entwickelten sich jedoch bereits im Kaiserreich und später in der Weimarer Republik. Die Liberalen in Deutschland waren dabei seit ihrer Spaltung im Preußischen Verfassungskonflikt von 1866 rund um die Frage einer nachträglichen Legitimierung des Staatshaushaltes immer in mindestens zwei Parteien organisiert: Die am Gegensatz zwischen regierungsnahem Pragmatismus und individualistisch-rechtsstaatlichen Prinzipien zerbrochene Einigkeit ließ daraufhin eine nationalliberale Partei und verschiedene links- oder sozialliberale Formationen entstehen. Dieser Gegensatz sollte die Partei immer wieder von neuem beschäftigen. Zusätzlich zu ihrer organisatorischen Aufsplitterung besaßen die Liberalen seit jeher eine sehr heterogene Wählerstruktur. Das industrielle Bürgertum, der Mittelstand, die Landwirte, aber auch Bildungsbürger, wie etwa Juristen, Ärzte und Professoren, gehörten zu ihrer Wählerschaft, ebenso Angestellte und Staatsbeamte. Die Folge waren Interessengegensätze hinsichtlich der Positionierung zum Nationalstaat, in der Frage von Freihandel oder Protektionismus, zum Verhältnis zur Macht und zur Regierungsbeteiligung sowie zu den Bürgerrechten und zur sozialen Frage.

Das Bürgertum der frühen Bundesrepublik ordnete sich entlang der konfessionellen Trennungslinie in unterschiedliche Parteien. Während sich die Katholiken der rheinisch geprägten CDU unter Führung von Konrad Adenauer zugehörig fühlten, sahen die protestantischen Bürgerlichen ihre politische Heimat eher auch bei der FDP. Die Katholiken verfügten dabei über ein ausgeprägtes Vereinswesen und schufen auf diese Weise, viel stärker als ihre protestantischen Pendants, innere Integrationsmechanismen. Die liberalen Wähler gehörten zum gesellschaftlichen Establishment und pflegten daher kein Zusammengehörigkeitsgefühl aus einer Außenseiterposition heraus, wie etwa die Arbeiterschaft oder die Katholiken (vgl. Lösche 1994). Das Fehlen einer geschlossenen Programmatik und die Distanz der Liberalen zu jeglicher Form von „Ideologie“ – etwa im Vergleich zu den linken Parteien – waren weitere Gründe, weshalb sich liberale Sympathisanten inhaltlich wenig parteilich gebunden fühlten. Ihre Positionierung bescherte dem parteipolitischen Liberalismus eine Reihe an politischen Feinden: Die Konservativen warfen ihm vor, dass er Traditionen nicht beachte, und die Linken, dass er die Ökonomisierung der Lebensverhältnisse vorantreibe und nicht in Kollektiven denke, sondern am Einzelnen interessiert sei und die sozialen Voraussetzungen des eigenen Handelns nicht mitbeachte.

Als die FDP 1948 gegründet wurde, gelang ihr, was bisher nicht möglich schien: eine Vereinigung der liberalen Strömungen in einer einzigen Partei. Dies war nicht zuletzt auch eine Folge der „Lizensierungspolitik“ der Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg. Unter den bürgerlichen Parteien gelang es außerdem einzig der FDP, nicht von der Adenauer-CDU geschluckt zu werden. In der Folge fanden sich unter ihrem Dach hochgradig heterogene Landesverbände wieder: Die Honoratioren und Bildungsbürger des Südwestens, in denen die FDP auf milieuähnliche Wählerstrukturen stieß, waren in derselben Bundespartei vertreten wie die wirtschaftsliberal eingestellten Hanseaten, gemeinsam mit Landwirten und in Teilen auch Alt-Nazis in Hessen, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen. Die Wählerintegration blieb somit sehr fragil. Bis in die 1960er-Jahre hinein vertrat die FDP eher den „alten“ Mittelstand, bestehend aus Selbstständigen, Landwirten und Handwerkern. Da diese Gruppen im Zuge gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse zunehmend kleiner wurden und sich in weiten Teilen der Gesellschaft zugleich im Rahmen postmaterieller Entwicklungen ein Wertewandel vollzog, versuchte die Partei, die als „neuen“ Mittelstand geltenden Schichten aus leitenden Angestellten und Beamten (wie etwa Lehrer) zu erreichen. Diese Veränderungen der Wählerbasis waren die Ursache dafür, dass die Partei im Laufe ihrer Entwicklung den Schwerpunkt ihrer Wähleransprache veränderte und unterschiedliche Gruppen anzog. In der sozialliberalen Phase, beginnend Ende der 1960er-Jahre, strömten vermehrt intellektuell-kritische Geister in die FDP. Nach der „Wende“ 1982 und während der „Kohl-Jahre“ besann diese sich wieder verstärkt auf mittelständische Interessen, verband dieses Vorgehen aber besonders in den 1990er- und 2000er-Jahren mit einer auf die junge Generation zielenden Leistungsrhetorik, orientiert an den damaligen Globalisierungsentwicklungen.

Vor diesem Hintergrund fiel es der Partei immer wieder schwer, ihr eigenes Selbstverständnis zu finden. Sie begründete dieses teils aus sich heraus, teils in Bezug zu anderen. In der Vergangenheit betonte sie oftmals, über die Vertretung einzelner Gruppen oder Interessen hinaus, einen Alleinvertretungsanspruch für den parteipolitischen Liberalismus in Deutschland. Dies gestaltete sich jedoch besonders schwierig, waren mit anderen parteilichen Konkurrenten, vor allem mit der CDU, immer auch Kräfte vorhanden, die diese Rolle ebenfalls für sich beanspruchten. So kam es zu gewissen Diskontinuitäten: Wurde in den 1950er-Jahren versucht, breite Wählerschichten anzusprechen, rückten in den 1960er-Jahren Programmdiskussionen in den Mittelpunkt. Aber auch mit der Verabschiedung der „Freiburger Thesen“ 1971, dem sozialliberalen Grundsatzprogramm, avancierte die FDP nicht vollends zur Programmpartei – so versuchte sie unter der Ägide Möllemanns Anfang der 2000er-Jahre Partei wieder „für das ganze Volk“ zu sprechen und scheiterte erneut sowohl hinsichtlich der programmatischen Breite als auch der Höhe der Wahlergebnisse und angesichts der tatsächlich repräsentierten Wählergruppen: Die der FDP nahestehenden Gruppen waren zu stark dem bürgerlichen, teils besitzstandswahrenden, Denken verhaftet; Überschneidungen mit anderen Lebenswelten, etwa denen der Arbeiterschaft oder des postmateriellen Milieus, waren nicht vorhanden.


Ambivalenzen der Regierungsbeteiligung

Die Sozialstruktur der FDP-Wähler- und -Mitglieder und deren Wandel führten dazu, dass die Parteiorganisation im Hinblick auf die Zahl der Mitglieder und die finanziellen Mittel schwach blieb. In diesen Faktoren ist die maßgebliche Ursache dafür zu suchen, dass die FDP in ihrer Geschichte oft eine strategische Rolle eingenommen hat, wie etwa die des systemischen Korrektivs. Im Dreiparteiensystem der Bonner Republik bot die Wahl der FDP immer auch die Möglichkeit, jenen eine Stimme zu geben, die die absolute Mehrheit einer der beiden Volksparteien verhindern wollten. Dabei nahm die Partei oft eine auf Regierungsbeteiligung hin orientierte Rolle ein, die ihr letztlich dabei half, ihre Existenz zu sichern (vgl. Søe / Vorländer 1987). Die Funktion als „Zünglein an der Waage“, also die Möglichkeit, den Koalitionspartner zu wechseln, verursachte jedoch auch ihre größten Krisen (vgl. Walter 2014): Besonders deutlich wurde es bei der „Wende“ von 1982, als die FDP, aus der sozialliberalen Koalition kommend, mit den Unionsparteien eine Regierung unter der Führung Helmut Kohls bildete – mit der Folge, dass große Teile des sozialliberalen Flügel die Partei verließen. Wollte sie phasenweise unabhängig von den beiden Volksparteien sein, verortete sie sich teilweise klar an der Seite der Union. Sie füllte diese Rolle während der konservativ-liberalen Koalition mit Helmut Kohl und zuletzt im Wahlkampf 2013 mit dem Slogan „Wer Merkel will, wählt FDP“ aus. Hierbei bestand allerdings immer die Gefahr der Abhängigkeit vom größeren Koalitionspartner, besonders dann, wenn jener über mehrere Koalitionsoptionen verfügte. So ist die Unabhängigkeit einerseits oftmals mit dem Vorwurf der „Beliebigkeit“ verbunden. Gerade weil ein erheblicher Teil der eigenen Wählerschaft immer auch einem bestimmten Lager nahesteht, führt dies regelmäßig zu Enttäuschungen. Die berechenbare Lagerzuordnung macht die FDP in der Wahrnehmung andererseits zum „Anhängsel“ einer anderen Partei.
Eine inhaltlich begründete Korrektivfunktion – gegenüber den Sozialdemokraten in der Wirtschafts- und Finanzpolitik und gegenüber dem christdemokratischen Koalitionspartner in ökonomischen, aber auch in gesellschaftspolitischen Fragen – brachte der FDP in ihrer Geschichte mehr Erfolg. Dieses Vorgehen ermöglichte ihr – auch über weite Strecken als Regierungspartner der Union – als eine „kommunizierende Röhre“ innerhalb des bürgerlichen Lagers zwar einen Wähleraustausch vorzunehmen, von dem beide Parteien wechselseitig profitierten, die Gesamtsumme der Wählerkraft innerhalb dieses Lagers aber relativ konstant zu halten. Die Ausübung dieser Korrektivfunktion birgt jedoch ebenso Nachteile: Denn die Selbstbestimmung findet stark in Relation zu anderen politischen Kräften statt, eine Festlegung eines eigenen inhaltlichen Kerns wird dabei oftmals vernachlässigt.

Eine weitere Folge der Wahrnehmung dieser Rolle besteht darin, dass sich die Partei in Wahlkämpfen immer an situativen Faktoren zur Mobilisierung der eigenen potenziellen Wählerschaft orientieren musste: 1961 kanalisierte sie die „Adenauermüdigkeit“ innerhalb des bürgerlichen Lagers, 1980 wiederum die Ablehnung des konservativen Kanzlerkandidaten Franz-Josef Strauß sowie einer zu „links“ orientierten SPD. Wenn die im Wahlkampf proklamierte Funktion des Korrektivs allerdings nicht eingelöst wird, führt dies allzu oft zu einem Absturz in der Wählergunst. Die 1961 fokussierte Ablösung Adenauers löste die Partei nicht ein und regierte stattdessen mit ihm weiter; in den 1990er-Jahren verstand sie sich als wirtschaftsliberales Korrektiv zur Kohl-CDU, handelte in der Regierungspolitik aber nicht dementsprechend. Ab 2009 führte sie einen Steuersenkungswahlkampf, der sich primär gegen die Große Koalition richtete, vermochte es als Teil der Bundesregierung dann jedoch nicht, die abgegebenen Versprechen umzusetzen.

2. Absturz und Wiederaufstieg: Krise ab 2011, Bundestagswahl 2017 und „Jamaika“

Die Krise der FDP ab 2011 und ihre Folgen

Da die FDP nach der Bundestagswahl 2013 zum ersten Mal in ihrer Geschichte aus dem Deutschen Bundestag ausscheiden musste, geriet sie in eine historische Krise, die sich gleichzeitig auf mehreren Ebenen abzeichnete: Inhaltlich stand sie nach den Steuersenkungsversprechen 2009 im Verdacht, eine bloße Klientelpartei zu sein. Wegen ihrer nicht umgesetzten Steuersenkungen galt sie jedoch ausgerechnet bei diesen Wählergruppen, die sie deswegen gewählt hatten, als unglaubwürdig und programmatisch beliebig. Personell gab sie ein Bild der Zerstrittenheit ab. Mit Blick auf die Positionierung zu anderen Parteien wirkte sie besonders nach dem Wahlkampf 2013 wie ein Anhängsel der Union und damit ohne eigenen programmatischen Kern, ein eigenes Narrativ und eine eigene Existenzberechtigung im Parteienwettbewerb. Zudem bestätigte sich dadurch das Bild der „Machtversessenheit“, das ihr seit jeher anhaftete. In den folgenden vier Jahren bemühte sich die Partei, genau dieses in breiten Teilen der Öffentlichkeit vorhandene Image zu ändern. Sie versuchte, sich unabhängig zu anderen Partnern zu zeigen, den eigenen programmatischen Kern zu verdeutlichen und zudem den Beweis anzutreten, dass die FDP auch freiwillig die Oppositionsrolle wählen würde, falls in einer Koalition keine inhaltlich ausreichend große Schnittmenge zu den dortigen Partnern gefunden würde.

Es war jedoch für die Partei problematisch, dass das auf ihr lastende Image durchaus widersprüchliche Erwartungen in der eigenen Wählerschaft hervorrief: Einerseits gilt in Teilen der Anhängerschaft die robuste Vertretung wirtschaftsliberaler Interessen keineswegs als Problem, programmatische Verbreiterung vielmehr als Verwässerung. So warfen etwa Vertreter des Lagers um Rainer Brüderle Christian Lindner in seiner Zeit als Generalsekretär, in der er eine sozialliberale Rhetorik forcierte, einen „Säuselliberalismus“ vor. Andererseits galt die „Wirtschaftspartei“ FDP anderen gesellschaftlichen Gruppen als Klientelorganisation. So schreckt die Vertretung der Interessen der treuesten Anhänger andere potenzielle Wählergruppen ab, deren Gewinnung notwendig wäre, um die Fünf-Prozent-Hürde sicher zu überspringen. Aber die Bundestagswahl 2017 verdeutlichte, dass sich der Anteil derer, die eine Partei gewählt haben, weil sie ihr über Personen und kurzfristige Themen hinweg langfristig besonders nahestehen, trotz des Comebacks der FDP noch einmal verringert hat. Zudem hat sich gerade die wirtschaftsnahe Klientel in der Vergangenheit mehrfach nicht als sehr loyal erwiesen (vgl. Lösche / Walter 1994), wie die Partei zuletzt ab 2011 wieder hat erfahren müssen. Die FDP stand nach wie vor in dem Dilemma zwischen gewählter Unabhängigkeit zu anderen Parteien mit dem dadurch aufkommenden Vorwurf der inhaltlichen Beliebigkeit oder des praktizierten Parteiegoismus einerseits und der Lagerzuordnung sowie dem gleichzeitig daraus erwachsenden negativen Bild der Abhängigkeit von anderen Parteien andererseits. Durch die Ausgangssituation der Bundestagswahl 2013 war sie jedoch dahingehend festgelegt, ihre Unabhängigkeit beweisen zu müssen. Die so herbeigeführte Betonung des eigenen inhaltlichen „Markenkerns“, wie es in der Parteisprache heißt, führte dazu, dass koalitions- und kompromissorientierte Wählergruppen nach den „Jamaika“-Sondierungen enttäuscht wurden.

Veränderungen des Parteienwettbewerbs

Das deutsche Parteiensystem ist in den vergangenen Jahren in Bewegung geraten, bei der Bundestagswahl 2017 stieg die Anzahl der im Parlament vertretenen Parteien auf sieben. Mit der AfD und der FDP kamen gleich zwei Parteien in den Bundestag, die in der vorhergehenden Legislaturperiode nicht vertreten waren. Bereits mit dem Einzug der Linkspartei 2005 hatte bei gleichzeitig weiter stark zurückgehenden Stimmenanteilen der Volksparteien (1998: 76 Prozent; 2005: 69,4 Prozent; 2017: 53,4 Prozent) eine „Fragmentierung“ des Parteiensystems und eine quantitative Annäherung der Stimmenanteile der im Bundestag vertretenen Parteien eingesetzt. Die Wahl 2013 scheint mit der wieder erstarkten Mobilisierungsfähigkeit der Union vorläufig eine Ausnahme gewesen zu sein.

Die Ausdifferenzierung des Parteiensystems war die Folge gesellschaftlicher Pluralisierungsprozesse und auch des Agierens der Parteien selbst. Durch die Neuausrichtung der beiden Volksparteien wurde Raum für neue Formationen (vgl. Mielke 2017) frei, was etwa der Partei „Die Linke“ neben einer nun stärker marktorientierten SPD (Stichwort Hartz-Reformen) ihre weitere Etablierung erleichterte. Die Entwicklung der Union hin zu einem gesellschaftsliberaleren, aber auch mehr wohlfahrtsstaatlichen Profil ließ diese viele Wähler verlieren, die sich später dann in Teilen bei der AfD wiederfanden. Insbesondere die Vernachlässigung eines ehemals bei der Union vorhandenen stärker wirtschaftsliberalen Profils und der spätere Rechtsrutsch der AfD boten der FDP Raum, sich während ihrer außerparlamentarischen Jahre zu profilieren.

Diese Entwicklungen haben Auswirkungen auf die Koalitionsoptionen. Zum einen besteht nun das Problem darin, dass die klassischen Lager nicht mehr fähig sind, Koalitionen zu bilden. Sowohl eine schwarz-gelbe als auch eine rot-grüne Mehrheit sind gegenwärtig nicht gegeben. Daher wurde es erforderlich, neue Koalitionsmodelle zu testen. Die dann forcierten Dreierkoalitionen waren zwar rechnerisch möglich, standen aber politisch-ideologisch vor Problemen. Während eine rot-rot-grüne Koalition nach wie vor weder inhaltlich noch rechnerisch realistisch ist, schien eine schwarz-grün-gelbe Koalition eher möglich zu sein, was sich nach der Bundestagswahl 2017 jedoch als Illusion erwiesen hat. Als Resultat blieb letztlich nur die Große Koalition. Hierbei zeigt sich das Paradox, dass bei einer Ausdifferenzierung des Parteiensystems die Anzahl der potenziell arithmetisch möglichen Koalitionen zwar zunimmt, aber politisch realistische Bündnisse unwahrscheinlicher zu scheinen werden. Dies ist letztlich auch damit zu begründen, dass in Koalitionen mit einer höheren Anzahl an Partnern die Profilierungsmöglichkeiten für die einzelnen Parteien abnehmen.

3. Rollensuche der FDP im aktuellen Parteienwettbewerb

Wählerbasis, inhaltliches Profil und Entwicklungsmöglichkeiten

Trotz der Niederlage vier Jahre zuvor gelang der FDP bei der Bundestagswahl 2017 der Wiedereinzug in den Bundestag. Dabei hat sie überdurchschnittlich viele junge Männer und Gruppen gehobener sozialer Milieus hinter sich versammeln können (vgl. Vehrkamp / Wegschaider 2017). Der größte Anteil der Wähler wanderte von der Union zu den Liberalen; somit ist das Modell der kommunizierenden Röhren wieder intakt. Hinsichtlich der Berufsgruppen wird deutlich, dass die FDP noch immer den größten Zulauf aus der Gruppe der Selbstständigen erfährt – bei allerdings erhöhten Anteilen von Angestellten und Beamten. Inhaltlich war die Partei im Bundestagswahlkampf erfolgreich mit einer wirtschafts- und sozialpolitischen Kritik an der Großen Koalition, mit einer auf Zukunft und Fortschritt gerichteten Rhetorik sowie mit einer rechtsstaatlichen Kritik an der Flüchtlingspolitik der Regierung unter Bundeskanzlerin Angela Merkel. Auf dem sozioökonomischen Feld gibt sie sich eindeutig marktnah und unterscheidet sich so von den linken Parteien und insbesondere auch von großen Teilen der Grünen. Auch auf dem gesellschaftspolitischen Feld versucht sie mit einer ebenfalls am Einzelnen orientierten, aber progressiven Haltung bei den Wählern zu punkten; an dieser Stelle unterscheidet sie sich vom konservativen Teil der Union und von der AfD.

Wie die innerparteilichen Debatten der vergangenen Jahre zeigen, gibt es aber auch Spannungen innerhalb der eigenen Wählerschaft. Diese stellen die Partei im intensivierten Parteienwettbewerb vor größere Probleme bei der Positionsfindung und der Vermittlung zwischen diesen Milieus. Während die inhaltlichen Übereinstimmungen zwischen den einzelnen Klientelen im wirtschafts- und finanzpolitischen Bereich größer sind, sieht dies etwa in der Gesellschaftspolitik anders aus. Dies gilt zum Beispiel bei der Frage von Föderalität oder Zentralismus in der Bildungspolitik oder in der Abwägung zwischen Datenschutz und ökonomischen Interessen. Als Ausweg bieten sich immer brückenschlagende Themen an wie in der Wirtschaftspolitik, in der die junge urbane Startup-Szene und der ländliche Mittelstand zusammenfinden. Auch das Motiv des Rechtsstaats wird in der Innenpolitik immer wieder genutzt, um das konservativ-bürgerliche Bedürfnis nach einem starken Staat mit dem rechtsstaatsliberalen Grundsatz des individuellen Bürgerrechts zu verbinden. Die Zukunftsorientierung im Wahlkampf, als Verbindung zwischen jungen und mobilen Wählergruppen und den älteren, veränderungsoffenen Wirtschafts- oder Bildungsbürgerlichen, sollte die Erneuerung der Partei verdeutlichen. Besonders das Thema „Digitalisierung“ diente symbolisch als Ausdruck für Zukunftsorientierung. Wenn dieser Politikbereich in den nächsten Jahren jedoch in einem breiten politischen Diskurs bei allen Parteien auf die Agenda gelangt, bedarf es einer differenzierten Positionierung, da dieses Thema dann auch im Kontext etwa von sozialen Verteilungs- und Finanzierungsfragen sowie wirtschaftlichen Problemlagen diskutiert werden wird. Grundsätzlich muss die FDP versuchen, unterschiedliche Wählergruppen – das jungurbane, wirtschaftsliberale und bildungsorientierte Bürgertum sowie Sozialstaatskritiker und Protestwähler – elektoral zu vereinen und bis zur jeweils nächsten Wahl zu halten.

Nach dem Ende der Regierungssondierungen stürzte die FDP, trotz der Proteste aus wirtschaftsnahen Kreisen, in den Umfragen nicht ab. Dies ist kommunikativ damit zu begründen, dass die Partei die Erwartungen an eine mögliche Koalitionsbeteiligung von vornherein gedämpft hatte. Aber auch repräsentationslogisch vertritt sie – gerade im fiskalischen und ökonomischen Bereich – Positionen, die bei anderen Parteien gegenwärtig nicht zu finden sind. Dennoch rangiert die FDP in aktuellen Umfragen neben der Linkspartei bei den niedrigsten Werten der Bundestagsparteien, weshalb sich die Liberalen auch in den zukünftigen Debatten auf die Suche nach einer gewinnbringenden Lücke im Parteienwettbewerb werden begeben müssen.

Der programmatische Profilierungsspielraum der Partei ist dabei aber beschränkt: In den vergangenen Jahrzehnten versuchte sie sich in wirtschafts-, finanz-, und sozialpolitischen Diskursen zu profilieren. Auf diesem Gebiet besaß sie große Kompetenz – durch das Stellen verschiedener Wirtschaftsminister und durch eine dementsprechend strukturierte Mitglieder- und Wählerschaft. Gegenwärtig haben sich die Debatten jedoch in den sicherheits- und migrationspolitischen Bereich verlagert. Zwar gab es in der Geschichte auch verschiedene liberale Innenminister wie etwa Gerhart Baum, diese taten sich aber durch eine dezidiert gesellschaftsliberale Positionierung hervor. In den aktuellen Debatten scheint dieser Raum im politischen Wettbewerb jedoch durch die Grünen sowie die CDU besetzt zu sein. Eine Entwicklung der FDP nach rechts wirkt auf den ersten Blick gewinnbringend, weil sich die öffentlichen Debatten wohl längerfristig auf dem Gebiet der Migrations- und Sicherheitspolitik halten werden und zwischen AfD und modernisierter CDU eine Nische scheint. So wird etwa bei der Position der FDP zum „Familiennachzug“ mit einer Verbindung aus der Verlängerung von dessen Aussetzung bei gleichzeitig geltenden Ausnahmeregelungen ein paralleles Werben bei einem liberalen und einem konservativen Lager deutlich. Das Verhalten der selbsterklärten „Rechtsstaatspartei“ FDP, als der von ihr gestellte zuständige Minister in Nordrhein-Westfalen für eine Abschiebung die politische Verantwortung übernahm, obwohl eine Gerichtsentscheidung ausstand, sowie die innerparteilichen Auseinandersetzungen darüber, ob Angela Merkel eine Schuld für die rechtsextremen Ausschreitungen in Chemnitz zugewiesen werden könne, zeigen, wie schmal der Grat zwischen dem Werben um scheinbar potenzielle Wählergruppen und dem Aufsammeln von wenig berechenbarem Protestwahlpotenzial ist.

War der Nationalliberalismus im Kaiserreich und in der Weimarer Republik eine feste Größe, erreichte er seine Statur in der Bundesrepublik bisher nie wieder, sei es aus Gründen der deutschen Geschichte oder aus mangelnder gesellschaftlicher Nachfrage. Nun jedoch, nach den Debatten der vergangenen Jahre rund um die „Flüchtlingskrise“, scheint in dieser Hinsicht wieder eine Profilierung möglich. Mit der Etablierung der AfD ist dieser Raum jedoch weitestgehend besetzt. Eine solche Orientierung wäre überdies für die FDP ein weiterer Schritt weg von gesellschaftspolitisch liberalen Positionen und würde sich gegen einen Großteil der eigenen Wählerschaft und des neu rekrutierten Führungspersonals richten: Bei Bundestagswahl 2017 wurde die FDP am stärksten von den Milieus der „Liberal-Intellektuellen“ und der „Performer“ gewählt, die sich für Pluralität und Globalismus einsetzen. Diese Gruppen wurden jedoch innerhalb der Wählerschaft der FDP dicht gefolgt vom Milieu der „Konservativ-Etablierten“, das sich um einen Werteverfall in der Gesellschaft sorgt. (vgl. Vehrkamp / Wegschaider 2017) So wird deutlich, dass die FDP gerade auf dem inhaltlichen Feld der Migrations- und Sicherheitspolitik einen Drahtseilakt vollführen muss. Eine einseitige Entwicklung in den bürgerrechtlich-sozialliberalen Bereich hinein wäre allerdings ebenfalls schwierig, weil die Partei diese programmatische Ebene seit Jahren vernachlässigt und zudem die Grünen in dem Bereich profiliert sind.

In Umfragen unter Mitgliedern etwa zum Bundestagswahlprogramm rangiert die Steuerfrage immer noch weit oben. Auch bei der Bundestagswahl 2017 wurde der FDP nach wie vor in der Wirtschafts- und Steuerpolitik die größte Kompetenz zugemessen, was für eine Stärkung des klassischen Profils spricht, dann aber das programmatische Angebot wieder einengen würde. Zusätzlich steht die FDP in einem Spannungsfeld zwischen dem Herausstellen des eigenen inhaltlichen Kerns und der Positionierung zu aktuellen Debattenlagen. Die genannte Wahl wurde eher durch kurzfristige Umstände, wie Kandidaten und Wahlkampfpositionen der Parteien, entschieden, weniger durch langfristige Faktoren wie die Parteienbindung (vgl. Niedermayer 2018). Dies macht die Freien Demokraten doch zunehmend abhängig von Stimmungen und thematischen Konjunkturen.

Parteienwettbewerb und mögliche Koalitionsoptionen

Während der ersten Großen Koalition unter Angela Merkel von 2005 bis 2009 befand sich die FDP in der komfortablen Lage der Opposition zur Union, die aus bürgerlicher Sicht durch die SPD zu einer „Sozialdemokratisierung“ getrieben wurde. In der darauffolgenden Legislaturperiode 2009-2013 waren die Freien Demokraten Teil der Bundesregierung. Während der Euro-Rettungspolitik, die innerhalb der liberalen Partei so umstritten war, dass es dazu sogar einen Mitgliederentscheid gab (ebenso wie zum Atomausstieg 2011), vermochte sie es naheliegender Weise jedoch nicht, als Teil der Regierung hierzu eine Oppositionsrolle einzunehmen.

Aktuell scheint die Lage derjenigen ab 2005 zu gleichen: Die FDP kann aus bürgerlicher Warte die Regierung zwar vor sich hertreiben und so Stimmen sammeln. Doch die Situation weist tatsächlich einige deutliche Unterschiede zur Lage während der ersten Großen Koalition auf: Zunächst stellt die FDP nicht die einzige bürgerlich-rechte Alternative zur Regierungspolitik dar, bürgerlichen Protest allein kann sie ebenso nicht kanalisieren, weil die AfD mit im Parlament sitzt. Im gestiegenen Parteienwettbewerb wird es zudem für die FDP schwierig, die Wahrnehmungsschwelle zu überschreiten. Dies hat auch mit parteispezifischen Faktoren zu tun: Eine allzu zugespitzte Rhetorik kann die Partei nicht vollziehen, vertritt sie doch zu großen Teilen bürgerliche Milieus, in denen sprachliche Radikalität nicht gut ankommt. Auch will sie vermeiden, wieder das Attribut der „Spaßpartei“ aus dem Wahlkampf 2002 heraufzubeschwören. Auch wenn die Maximalrhetorik der FDP aus dem Wahlkampf mit Slogans wie: „Nichts tun ist Machtmissbrauch“ oder „Weltbeste Bildung für jeden“ mit der Zeit in Vergessenheit geraten mag, zeigt dies doch die Spannung zwischen der Notwendigkeit der Wahrnehmbarkeit und der Gefahr nicht erfüllbarer Erwartungen – dies besonders vor der Erfahrung der Bundestagswahl 2013. So existenzbedrohend die Situation der außerparlamentarischen Opposition für die FDP war, bot sie ihr doch die Möglichkeit, sich glaubhaft als eine Art Anti-Establishment-Partei zu gerieren. Dass dies ausgerechnet der „ewigen Regierungspartei“ FDP zeitweise gelang, ist umso bemerkenswerter.

Die Positionierung der FDP ist aber auch immer relational zu anderen Akteuren begründet: Einerseits redete die FDP der Veränderung, Reformbereitschaft und Zukunftsorientierung gegen die von ihr als konservativ dargestellte Union das Wort, in der Migrationspolitik der vergangenen Jahre schien sie jedoch mit einer am Motiv des Rechtsstaats gerahmten Rhetorik eine restriktivere Politik einzunehmen – der baden-württembergische Spitzenkandidat der dortigen Landtagswahl sprach von der FDP als „Alternative für Demokraten“. Damit nahm die FDP ebenfalls eine Gegenrolle zur Union ein, denn Merkel setzte mit dieser auf diesem Gebiet eine ungewöhnlich liberale Politik um, womit die FDP der Union verloren gegangene Wähler einzusammeln vermochte. Auch personell bot die FDP mit ihrem Vorsitzenden aus einer Generationen-, aber auch Politikstilperspektive ein Gegenmodell zur oft als zaudernd wahrgenommenen Bundeskanzlerin. Das Verhältnis zur Union ergänzte sich so je nach Politikfeld wechselseitig. Dennoch war aus Sicht der FDP letztlich auch mit der CDU, deren „System Merkel“ die Liberalen kritisierten, keine Zusammenarbeit in einer Regierungskoalition möglich.

Aber auch eine Union nach dem Ende der Amtszeit von Angela Merkel wird nicht notwendigerweise ein einfacherer Koalitionspartner für die FDP sein. Sollte die derzeitige Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer die zukünftige Führung übernehmen, würde sich in der Wirtschafts- und Sozialpolitik ein gleiches Profil wie unter Merkel ergeben, jedoch mit einem leicht konservativeren gesellschaftspolitischen Ansatz. Falls der „konservative Flügel“ der Union rund um Jens Spahn, Carsten Linnemann und Paul Ziemiak den Kurs vorgeben sollte, wäre die Lage nicht einfacher, denn die gesellschafts- und innenpolitischen Positionen dürften noch einmal etwas weniger liberal ausfallen. In der Wirtschafts- und Sozialpolitik scheint in diesem Teil der Union ein größeres Maß an Übereinstimmung mit der FDP vorhanden zu sein. Jedoch gilt auch hier: Die Merkel-CDU hat ihren Kurs auf diesem Gebiet gerade deswegen eingeschlagen, weil die breiten Wählerschichten mit dieser Ausrichtung besser zu erreichen waren. Die wirtschaftsliberale Phase rund um den Parteitag in Leipzig 2003 hat die CDU damit hinter sich gelassen, zudem war sie nie eine rein konservative Partei und hatte immer auch den arbeitnehmernahen Teil der CDU zu berücksichtigen. Vor diesem Hintergrund bliebe der FDP die Rolle als Korrektiv zu dieser Ausrichtung. Dass diese Aufgabe jedoch als kleiner Koalitionspartner schwierig wird, haben die Liberalen bereits in der Koalition von 2009 bis 2013 erfahren, auch die Jahre der Regierungsbeteiligung unter Kohl sind ein Zeugnis dessen; außerdem hätten sie in dieser Korrektivfunktion bereits gegenwärtig unter der Kanzlerschaft von Merkel regieren können.
Zu den Grünen pflegte die FDP seit jeher eine spezielle Beziehung. Anfangs galten sie den Liberalen als linke Extreme, später entwickelten sie sich als Vertreterin von in Teilen bürgerlichen Interessen. Die Öffnung der Ökopartei hin zur Union machte der FDP auch ihren Platz als einzige bürgerliche Koalitionspartei streitig. Dennoch vertreten die Grünen und die FDP nach wie vor unterschiedliche Teile des Bürgertums. Zwar ist der ökonomische Status ihrer Wählerschaft oft ähnlich, in sozialmoralischen Fragen jedoch unterscheiden sie sich nach wie vor stark (vgl. Walter 2010). Besonders deutlich wird dies gegenwärtig auch bei Migrationsthemen und Aspekten der inneren Sicherheit. Obwohl mit dem Anspruch der FDP, bei allen bestehenden Differenzen mit den Grünen ebenfalls Vertreterin des gehobenen Bürgertums zu sein, theoretisch die Möglichkeit besteht, unterschiedliche Teile des Bürgertums in einer Koalition zu vereinen, ist nach „Jamaika“ deutlich geworden, dass eine Zusammenarbeit mit den Grünen gegenwärtig nicht möglich ist.

Die FDP war in den vergangenen Jahren darum bemüht, auch dem ihr langjährig anhaftenden Image der Machtversessenheit zu begegnen. So scheinen die Liberalen in den Jahren der außerparlamentarischen Opposition bewiesen zu haben, dass sie, anders als oftmals in ihrer eigenen Geschichte, auch ohne Regierungsbeteiligung ihr Überleben sichern können. Doch langfristig muss die Partei ihre Haltung zur Regierungsoption neu justieren, nicht zuletzt deswegen, weil ein Großteil der eigenen Klientel die Partei nicht als Oppositionspartei gewählt hat. Auch böte eine Regierungsbeteiligung der organisatorisch chronisch relativ schwachen Partei notwendige Ressourcen.

Die FDP hat in den „Jamaika“-Verhandlungen bereits frühzeitig Zweifel am Gelingen der Sondierungen erkennen lassen; außerdem darf auch nicht ihre innere Situation vergessen werden: Die Freien Demokraten kamen aus der außerparlamentarischen Opposition in den Bundestag zurück. Im Gegensatz zu den anderen „Jamaika“-Sondierenden hatte sie keine Ressourcen aus der Bundestagsfraktion zur Verfügung, ebenso keine Ministerialexpertise wie die Union. Zudem gab es in der liberalen Partei viele neue Gesichter und damit war der Anteil derjenigen mit Regierungserfahrung nur sehr klein. Auch blieb die Rolle, die die FDP in der Jamaika-Koalition hätte spielen sollen, unklar. Fraglich ist, ob sich ihr eine Möglichkeit zur Profilierung geboten hätte. In einer bürgerlichen Koalition wären das ökologische, moderne und urbane Bürgertum durch die Grünen vertreten worden, das gemäßigte durch die CDU und der konservative Teil durch die CSU. So drohte der FDP auf ihre klassische Rolle als die Vertreterin des Wirtschaftsbürgertums reduziert zu werden.

Dass in Teilen der Öffentlichkeit nach den „Jamaika“-Sondierungen ein Eindruck des verhinderungsorientierten Handelns seitens der FDP entstanden ist, liegt unter anderem eben nicht so sehr am Scheitern selbst denn an dem Prozess und den erweckten Erwartungen: Es war ausgerechnet nicht die lagerfremde Partei, die die Sondierungen beendet hat. Bisher galt die FDP als diejenige Partei, die bei rechnerischen Mehrheiten und ideologischer Nähe zwischen den Partnern aus „bürgerlicher Vernunft“ oder „staatspolitischer Verantwortung“ sich mit Blick auf die Regierungsverantwortung zu Kompromissen bereitgefunden hat; manche haben ihr daraus den Vorwurf der Machtversessenheit gemacht. Während der Sondierungen wurde zudem erwartet, dass diese Verhandlungen am ehesten am Gegensatz zwischen Grünen und CSU scheitern würden. Ihr Übriges tat die Positionierung der Liberalen gegen das „System Merkel“ und die angestrebte Verhinderung einer erneuten Großen Koalition, weswegen ein Großteil der eigenen Wählerschaft die FDP gewählt hatte. Vor allem konterkarierte sie den im Wahlkampf proklamierten Aufbruchsoptimismus, der in die Tat umgesetzt werden sollte. Wollte sie durch ihre dargestellte Unabhängigkeit zu anderen Parteien kraftvoll ihre Inhalte durchsetzen, ist sie nun eine allein auf sich gestellte Oppositionspartei.

4. Fazit: Das Dilemma zwischen programmatischer Identität und inhaltlichem Koalitionskorrektiv

Die FDP hat ihre Krise nach 2013 überwunden. Die Erfahrungen dieser Situation engen den Handlungsspielraum der Partei jedoch ein, weil sie Regierungsbeteiligungen nunmehr kritisch gegenübersteht – aufgrund ihrer Angst, als machtversessen zu gelten, und aus Furcht vor mangelnder Profilierungsfähigkeit ist sie weniger kompromissbereit. Weiterhin muss sie, wegen einer geringen Stammwählerschaft, weitere Gruppen ansprechen, aber gleichzeitig darum bemüht sein, ihre traditionell heterogenen Wählermilieus zu integrieren. Darüber hinaus muss sie auch strategische Wähler anziehen, die zwar unzuverlässiger sind, jedoch für die FDP eine wichtige Wählerressource darstellen. Dabei ist sie umso mehr von thematischen Konjunkturen abhängig, besonders in Wahlkämpfen.

Die FDP ist zwar in den Bundestag zurückgekehrt, jedoch ist es für sie nicht leicht, im veränderten Parteienwettbewerb ihre Rolle zu finden. Ihre Funktion als alleinige Königsmacherin, mit der sie andere Parteien von sich abhängig machte, ist durch die Differenzierung des Parteienwettbewerbes längst weggefallen. Die Wahrnehmung der Rolle als Bollwerk gegen absolute Mehrheiten ist ebenfalls nicht mehr möglich. Eine Protestfunktion auszufüllen, gestaltet sich ebenfalls als schwierig, wäre der aufgesammelte Unmut doch schwer zu kontrollieren und wegen der ständigen rhetorischen Eskalation kaum zu bedienen; zudem wären diese Wählerschichten sehr unzuverlässig.

Einerseits darf sich die FDP nicht einem Lager fest zuordnen, weil sie sich so abhängig macht, andererseits nicht einen inhaltlichen Kern vermissen lassen, was den Aufbau fester Wählerschichten verhindert. Dabei muss die Partei ein eigenständiges Profil mit einer strategischen Rolle im Parteienwettbewerb als inhaltlichem Korrektiv verbinden. Die Wahrnehmung der Rolle dieses Korrektivs birgt ebenso Ambivalenzen, da bei mehr potenziellen Koalitionspartnern und -optionen die Varianten steigen, zu denen die FDP inhaltlich ein Korrektiv bilden könnte. Nachdem sich in den vergangenen Jahren das linke politische Lager gespalten hat, geschieht dies nunmehr auch im bürgerlich-rechten Lager. Von dieser Ausdifferenzierung wiederum profitierte letztlich auch die FDP bei ihrem Wiedereinzug in den Bundestag. Ebenso gilt jedoch, dass durch die Auflösung der klassischen Lager aus schwarz-gelb und rot-grün und die damit einhergehenden zusätzlichen Anschlussfähigkeiten, etwa auch der Grünen in das bürgerliche Lager hinein, die arithmetisch möglichen Koalitionsoptionen zugenommen haben und somit das strategische Gewicht der einzelnen Parteien, mithin auch dasjenige der FDP, abgenommen hat.

Die Scharnierfunktion, um Regierungsmehrheiten möglich zu machen, die die FDP in früheren Zeiten inne hatte, kann sie gegenwärtig jedoch nur gemeinsam mit anderen Parteien einnehmen. Während sie in vergangenen Jahrzehnten unterschiedliche Flügel in ihrer Partei stärker betonen konnte und so je nach Regierungspartner ein jeweiliges Korrektiv darstellte, ist dies gegenwärtig dadurch erschwert, dass sich diese Rollen mit in Teilen konservativ-bürgerlicher AfD und sozialliberal bürgerlichen Grünen in andere Parteien ausdifferenziert haben. Dies bringt die Partei in die Schwierigkeit, da somit das bis dahin einhergehende Druckpotenzial auf den größeren Koalitionspartner wegfällt und die FDP inhaltlich kompromissbereiter sein muss. Denn die Union hat mehr Koalitionsoptionen als die Liberalen und ist nicht auf sie angewiesen. Dies verringert jedoch zusätzlich die Profilierungsmöglichkeiten der FDP im gestiegenen Parteienwettbewerb. Da sie vorläufig nicht mit der AfD zusammenarbeiten kann, wird sie auch zukünftig nur mit der Union und den Grünen verhandeln können. Auch für eine „Ampel“-Koalition kommt sie an den Grünen nicht vorbei, bevor sie sich überhaupt mit der SPD einigen kann, von gegenwärtig unrealistischen Mehrheiten ganz zu schweigen. Der Ausgang der „Jamaika“-Sondierungen zeigt, dass bei einer erhöhten Anzahl von Akteuren die Zahl arithmetisch möglicher Koalitionen zwar zugenommen hat, die politisch möglichen Koalitionen dabei aber scheinbar eher abgenommen haben. Die Auswirkungen der Debatten der vergangenen Jahre und des Wahlergebnisses der Bundestagswahl auf das Parteiensystem müssen in den Parteien erst noch verarbeitet werden, worauf die Liberalen wiederum reagieren müssen.

Es handelt sich somit für die FDP um eine beständige Suche nach einer Nische im Parteienwettbewerb. Ihr muss eine Verbindung gelingen aus der Vertretung bestimmter Gruppeninteressen, dem Aufbau eines eigenen programmatischen Kerns und der Wahrnehmung ihrer Rolle eines inhaltlichen Korrektivs in möglichen Koalitionen. Für dies alles ist jedoch trotz eines erfolgreichen Comebacks der FDP der Handlungsspielraum kleiner geworden. Hat die gestiegene Volatilität die nötige Bewegung verursacht, die den Wiederaufstieg der Freien Demokraten mit ermöglichte, erschwert dies die Rollenfindung für die FDP nun zusätzlich.


Literatur

Lösche, Peter (1993): Kleine Geschichte der deutschen Parteien, Stuttgart.

Lösche Peter / Walter, Franz (1996): Die FDP: Richtungsstreit und Zukunftszweifel, Darmstadt.

Mielke, Gerd (2017): Eine neue Etappe im deutschen Parteiensystem?, in: Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit, H. 4, S. 244-253.

Niedermayer, Oskar (2018): Die Entwicklung des deutschen Parteiensystems. Zur Bedeutung kurzfristiger Faktoren im Jahrzehnt des europäischen Wandels, in: ZParl, Bd. 49.2018, 2, S. 286-303.

Søe, Christian / Vorländer, Hans (1987): Der Kampf um Überleben und Einfluss. Rolle und Funktion der FDP in der westdeutschen Politik, in: Vorländer, Hans (Hrsg.): Verfall oder Renaissance des Liberalismus?, München, S.173-190.

Vehrkamp, Robert / Wegschaider, Klaudia (2017): Populäre Wahlen, Mobilisierung und Gegenmobilisierung der sozialen Milieus bei der Bundestagswahl, hrsg. von der Bertelsmann Stiftung, Gütersloh.

Walter, Franz (2014): Die Krise der Freien Demokraten, in: Blog des Göttinger Instituts für Demokratieforschung, 11.09.2014: http://www.demokratie-goettingen.de/content/uploads/2014/09/Krise-der-Freien-Demokratendownload.pdf [eingesehen am 25.08.2018].

Walter, Franz (2010): Gelb oder Grün? Kleine Parteiengeschichte der besserverdienenden Mitte in Deutschland, Bielefeld.

 

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