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Guillermo Cordero / Xavier Coller (Hrsg.): Democratizing Candidate Selection. New Methods, Old Receipts?

09.01.2019
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Autorenprofil
Oliver Kannenberg, M.A.
Basingstoke, Palgrave Macmillan 2018

Am Anfang steht die Krise, genauer gesagt die Europäische Währungs- und Staatschuldenkrise. Deren unzweifelhaft weitreichende Auswirkungen auf die Parteienlandschaft in den europäischen Staaten nehmen Guillermo Cordero und Xavier Coller zum Ausgangspunkt ihres Sammelbandes „Democratizing Candidate Selection – New Methods, Old Receipts?“ über neue Formen der Kandidatenaufstellung. Die titelgebende „Demokratisierung“ wird auf eben jene Neugründungen von Parteien bezogen, die es sich zum Anspruch gemacht haben, einen neuen politischen Stil an den Tag zu legen. Die leitende Frage ist dabei, ob diese Abgrenzung von den etablierten Parteien sich auch in den Verfahren der Auswahl von Parlamentskandidaten widerspiegelt. So werden an verschiedenen Stellen vor allem die Parteien aus den am härtesten von der Eurokrise betroffenen Staaten untersucht, beispielsweise Podemos aus Spanien und die italienische Fünf-Sterne-Bewegung (MoVimento 5 Stelle). Fernab dieser Leitlinie finden sich verschiedene Beiträge, in denen weniger das Post-Krisen-Argument aufgegriffen wird, sondern die stattdessen generell den veränderten Rahmenbedingungen für Kandidatenaufstellungen gewidmet sind.

Im Anschluss an die Einleitung geben Ofer Kenig und Scott Pruysers einen lesenswerten Überblick über die bisherige politikwissenschaftliche Diskussion zu inklusiven Auswahlverfahren („Primaries“). Neben der Ausdifferenzierung verschiedener Verfahrensarten präsentieren sie positive wie negative Folgen einer Ausweitung der Auswählenden (des sogenannten Elektorats) bei Kandidatenaufstellungen. Zu Recht weisen sie darauf hin, dass das Abhalten von Primaries keinesfalls gleichzusetzen ist mit demokratischeren Auswahlverfahren. Vielmehr werde auch im Vorfeld dieser Veranstaltungen auf verschiedene Art und Weise in entscheidendem Maße vorbestimmt, wer wie über wen abstimmen darf. Die Thematisierung der Anfälligkeiten von Primaries für einseitige Bevorteilungen von Kandidaten gelingt den Autoren, ohne gänzlich die positiven Effekte, die von einer breiten Partizipationsmöglichkeit ausgehen können, zu vernachlässigen.

Nicht nur die Betrachtung, wer bei einer Wahl entscheidet, ist von politikwissenschaftlicher Relevanz, sondern auch über wen entschieden wird. In ihrer Untersuchung der Auswahl von Präsidentschaftskandidaten in semi-präsidentiellen Regierungssystem thematisieren Cristina Bucur und Bonnie N. Field nicht nur die Rolle der Auswählenden, sondern auch die rechtlichen Vorbedingungen, die den Kreis möglicher Kandidaten begrenzen. Im Detail fallen dabei weitreichende Unterschiede zwischen den Nationen auf. Reichen in Polen bereits 100.000 Unterstützer für eine Kandidatur aus, ist für eine Kandidatur in Rumänien (bei etwa der Hälfte an Abstimmberechtigten) die doppelte Anzahl notwendig. Allgemein veranschaulichen die Autorinnen sehr gut, dass der Trend hin zu einer Ausweitung des Elektorats nicht einhergeht mit einer Öffnung der Nominierungsmöglichkeiten. In den überwiegenden Fällen dieser Studie verbleibt diese Entscheidung in den Händen der Parteiführung beziehungsweise der erweiterten Parteielite (im Band bezeichnet als „2nd Tier Elite“).

Die vier Beiträge im mittleren Teil des Sammelbandes lassen sich unter den Stichworten Internet und New Politics zusammenfassen. Dazu zählen auch die beiden Studien, die sich ausschließlich mit der Kandidatenaufstellung einer speziellen Partei beschäftigen. So fügt sich die Studie von Marcelo Jenny zur österreichischen NEOS-Partei weniger in das Narrativ der „Post-Crisis“-Veränderungen ein, sondern zielt vielmehr auf die Erweiterung der technischen Möglichkeiten durch die zunehmende digitale Prägung von Politik und Gesellschaft. In einem ziemlich komplexen und (in technischer Hinsicht) modernen Wahlverfahren, das ausschließlich online stattfand, kommt Jenny zu dem Schluss, dass die unterschiedliche Gewichtung der drei Wahlforen sich zum Vorteil der Parteiführung auswirkt, solange diese geschlossen abstimmt. Deutlich wird zugleich, dass bei einer so jungen Partei wie NEOS, die sich erst zweimal auf Bundesebene zur Wahl gestellt hat, gegenwärtig eine abschließende Bewertung nicht getroffen werden kann.

Dieser Punkt trifft auf einige der im Sammelband behandelten Parteien zu, zeichnen sich diese doch vor allem durch die geringe Dauer ihres bisherigen Bestehens aus. In einer etwaigen Konsolidierungsphase ist das Aufkommen innerparteilicher Konflikte – auch um das Verfahren der Kandidatenaufstellung – nicht ausgeschlossen. Dies könnte auch auf die spanische Partei Podemos zutreffen, die sich im Zuge der Proteste rund um die Reformen nach der Finanzkrise gebildet hat. Santiago Pérez-Nievas, José Rama-Caamaño und Carlos Fernández-Esquer beschreiben in ihrer Untersuchung detailliert den Aufstellungsprozess für die Europawahlen 2014 und die Nationalwahlen 2015. Dabei überrascht der hohe Grad an Zentralisierung, wurde doch bei den Nationalwahlen landesweit ein einziger Wahlkreis für die Kandidatenaufstellung gebildet, aus dem eine große Liste zusammengestellt wurde. Im Anschluss daran konnten die Kandidaten der Reihe nach einen freien Listenplatz für die tatsächliche Wahl beanspruchen, bevor abschließend eine „Gender-Korrektur“ durchgeführt wurde. Anschaulich stellen die Autoren heraus, inwiefern dieses Verfahren im Gegenspruch zum eigentlich eher dezentralen Charakter des politischen Systems Spaniens steht. Sowohl der NEOS- als auch der Podemos-Aufsatz stellen interessante Einblicke in neuartige Aufstellungsverfahren dar, denen es gleichwohl nicht an Einflussmöglichkeiten seitens der Parteiführung mangelt.

Ebenso lohnenswert ist ein Beitrag, der zunächst etwas aus der Reihe gefallen wirkt. Diana Stirbu, Jac Larner und Laura McAllister beschäftigen sich vor dem Hintergrund der Devolution in Großbritannien mit „Gender Representation in Wales“, also einem Thema, das weder mit der Veränderung durch die Finanz- und Staatschuldenkrise noch mit dem Aufkommen neuer Parteien direkt verbunden ist. Vielmehr zeichnen die Autor*innen nach, weshalb die subnationalen Parlamente einen höheren Frauenanteil aufweisen: Neben dem unterschiedlichen Wahlsystem spielt auch die regionale Stärke der Labour-Partei eine besondere Rolle. Gleichzeitig wird auf die geringen Ansteckungseffekte für die nationale, also gesamtbritische Parlament hingewiesen. Angenehm kritisch wird die Frage reflektiert, ob die subnationalen Parlamente für Frauen langfristig eine zusätzliche Station des Erwerbs politischer Ressourcen darstellen können.

Vor dem Abschlusskapitel wird in zwei Beiträgen der Blick auf den möglichen Zusammenhang zwischen dem Verfahren der Kandidatenauswahl und dem Abstimmungsverhalten von Abgeordneten gerichtet. Der vermutete Zusammenhang zwischen der Zusammensetzung der Auswählenden und der Bereitschaft, mit der Mehrheit der eigenen Partei abzustimmen, lässt sich in Italien laut Antonella Seddone und Stefano Rombi nicht nachweisen. Der von den Herausgebern sowie Patrik Öhberg und Antonio M. Jaime-Costello bemühte internationale Vergleich zeigt hingegen, dass die exklusivere Auswahl durch die Parteiführung zu einem „partei-konformeren“ Abstimmungsverhalten führt.

Nicht nur hinsichtlich des Abstimmungsverhaltens werden Unterschiede zwischen den exklusiv und inklusiv gewählten Abgeordneten deutlich. Auch die Beurteilung der zukünftigen Entwicklung von Aufstellungsverfahren offenbart Differenzen, wie Manuel Jiménez-Sánchez, Xavier Coller und Manuel Portillo-Pérez zeigen: Aus Interviews mit Abgeordneten spanischer Regionalparlamente werde deutlich, dass vor allem konservative Parlamentarier, die zumeist von exklusiven Elektoraten ausgewählt worden seien, kritisch gegenüber der flächendeckenden Umsetzung von Primaries seien. Abschließend blicken die Autoren in die Zukunft und vermuten bei zunehmender Verbreitung inklusiver Auswahlverfahren einen Wandel von parteiorientierten zu gesellschaftsorientierten Kandidaten. Wenngleich unstrittig ist, dass die gesellschaftliche Rückkopplung zu den zentralen Eigenschaften jedes Kandidaten zählen sollte, kommt diese Gegenüberstellung von Partei- und Gesellschaftsorientierung (zu) stark vereinfacht daher.

In Gänze stellt der Sammelband einen wertvollen Zugewinn für das nach wie vor wenig bearbeitete Forschungsfeld der Kandidatenaufstellung dar. Der weit überwiegende Teil ist äußerst zugänglich geschrieben und überzeugt durch interessante Thesen und Forschungsfragen. Der thematische Aufhänger der „Post-Crisis“-Veränderungen wird nicht als strenger Maßstab für die einzelnen Beiträge herangezogen. Dies ist von Vorteil, da so die sehr guten Aufsätze über das Aufstellungsverfahren von NEOS sowie den Zusammenhang von Devolution und Frauenanteilen im Parlament ebenfalls einen Platz im Band bekommen haben.

Unabhängig davon, ob eine Partei sich als Gegenpol zum sogenannten Establishment versteht oder ihre Gründung aus einer sozialen Bewegung heraus entstanden ist, kann der zentrale Akt der Personalrekrutierung, die Kandidatenaufstellung, als ein wichtiger Gradmesser für die praktische Umsetzung innerparteilicher Demokratie angesehen werden. Der vorgestellte Sammelband macht an verschiedenen Stellen deutlich, dass zwischen (selbst auferlegtem) Anspruch und Wirklichkeit durchaus einige Unterschiede bestehen. Die getroffenen Bewertungen werden mit dem notwendigen Maß an Vorsicht vorgenommen, schließlich ist in jüngster Zeit nur wenig so gewiss wie der stete Wandel der europäischen Parteienlandschaft. Einige untersuchte Parteien haben die Konsolidierungsphase noch nicht abgeschlossen, in manchen Fällen, etwa in Italien, verändern sich gar das Wahlrecht beziehungsweise die rechtlichen Vorschriften für Kandidatenaufstellungen regelmäßig. Den Beitragenden ist es gelungen deutlich zu machen, dass die allzu vorschnelle Begeisterung für neue Parteien und ihre Aufstellungsverfahren häufig einem Trugschluss unterliegt. Nicht selten funktionieren die vermeintlich offenen, inklusiven Verfahren nach dem Prinzip „Alter Wein in neuen Schläuchen“ und geben bei genauerer Untersuchung zu erkennen, dass eine selektierende Führungsgruppe einen stärkeren Einfluss ausüben kann und es auch tut. Grundsätzlich ist zudem festzustellen, dass die breitflächige Beteiligung von potenziellen Wählern oder Mitgliedern bei der Kandidatenauswahl nicht allein als Allheilmittel für das angeschlagene Ansehen politischer Parteien dienen kann.

 

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