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Martin Pfafferott: Die ideale Minderheitsregierung. Zur Rationalität einer Regierungsform

06.02.2019
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Autorenprofil
Dr. Michael Kolkmann
Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften 2018

Im Gegensatz etwa zu den skandinavischen Ländern, in denen Minderheitsregierungen gleichsam an der Tagesordnung sind, ist die politische Erfahrung mit dieser spezifischen Regierungsform in Deutschland überschaubar. Abgesehen von kurzen bundespolitischen Übergangsphasen nach dem Austritt eines Partners aus einer Koalition, etwa in den Jahren 1966 und 1982, betraf und betrifft das Thema Minderheitsregierung eher die Landesebene, die sich nicht nur bei diesem Thema als „ein geradezu einzigartiges Forschungslaboratorium“ erweist (Kropp 2001: 15, zitiert auf S. 19).

Mit dieser Untersuchung strebt Martin Pfafferott eine Enttabuisierung der Minderheitsregierung an, die in der Literatur gelegentlich als „Beweis politischer Irrationalität oder Inkompetenz“ (Sven Thomas, zitiert auf S. 17) gesehen wird: „die Essenz dieser angenommenen Irrationalität gründet sich in der axiomatischen Setzung des Formats Mehrheitsregierung in parlamentarischen Regierungssystemen“ (17). Dies führt der Autor nicht nur auf die politische Kultur in der Bundesrepublik zurück, sondern auch auf Versäumnisse der Politikwissenschaft: „Ihr einer spieltheoretischen Tradition entstammende Zweig der Koalitionsforschung konnte eine Entscheidung gegen eine Mehrheitskoalition lange Zeit logisch nicht fassen und musste sie denknotwendig als irrational abtun. Auf Regierungsämter fixiert, erschien [dieser Forschungsrichtung] die Bildung einer Regierung, in der sich zumindest ein Teil des Parlaments damit zufrieden gibt, aus dem Parlament und nicht der Regierung heraus Politik mit zu beeinflussen, als ganz und gar widersprüchlich“ (17 f.).

Hatte der Parlamentsforscher Winfried Steffani Minderheitsregierungen vor einigen Jahren noch als „Schmerzenskinder“ (Steffani 1997, zitiert auf S. 23) der Regierungsformate im parlamentarischen Regierungssystem bezeichnet, scheint die aktuelle Politikwissenschaft das Thema nuancierter anzugehen. So plädierte der Bonner Politologe Karlheinz Niclauß etwa vor einiger Zeit in der Zeitschrift für Parlamentsfragen, den „diskreten Charme“ einer Minderheitsregierung auch und gerade für die Bundesebene zu entdecken. Und in der Tat könnte sich diese Thematik nach einer der nächsten Bundestagswahlen ganz konkret stellen, wenn durch die aktuell zu beobachtende Pluralisierung des Parteiensystems es für Zweier-Bündnisse nicht mehr reichen sollte und Dreier-Konstellationen (siehe die gescheiterten Sondierungsgespräche der Jamaika-Parteien im Herbst 2017) nicht zusammenfinden (können). In einer solchen Situation böte sich eine Minderheitsregierung als Alternative an.

Umso löblicher ist das Unterfangen von Martin Pfafferott, sich diesem Thema aus politikwissenschaftlicher Perspektive zu nähern. Er tut dies im Rahmen einer Dissertationsschrift, die an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn entstanden ist. Darin beansprucht der Autor, die vermeintliche Irrationalität einer Minderheitsregierung zu widerlegen, mehr noch: zu begründen, warum die Bildung einer solchen Regierung das Ergebnis „zutiefst rationaler Entscheidungen“ (18) ist.

Nach einer kurzen Skizze des Formats der Minderheitsregierung in der Regierungssystem- und Koalitionsforschung identifiziert Pfafferott unterschiedliche Typologien, etwa „gestützte“ und „tolerierte“ Minderheitsregierungen, bevor er die spezifischen Entscheidungsprozesse in Minderheitsregierungen beschreibt. Anschließend fragt er nach begünstigenden externen Faktoren und danach, „welche Motive und Kalküle der Parteien selbst ein Verhalten erklären können, das im Ergebnis zur Entscheidung für die Bildung einer Minderheitsregierung führt und sie als rationale, ja ‚ideale‘ Lösung erscheinen lassen kann“ (18).

In der konkreten Untersuchung greift Pfafferott auf die Vorarbeiten Kare Stroms zurück, insbesondere auf dessen Charakterisierung der drei Parteiziele „vote-seeking“ (das Ziel, Wählerstimmen zu gewinnen), „office-seeking“ (das Ziel, an einer Regierung beteiligt zu sein) und „policy-seeking“ (das Ziel, Politikinhalte umzusetzen). Diesen drei Zielen fügt Pfafferott mit dem „cohesion-seeking“ (das Ziel der Wahrung innerparteilicher Geschlossenheit) ein weiteres hinzu, um später die „ideale“ Minderheitsregierung typologisieren zu können (vgl. 62 ff.). Schließlich erörtert er die institutionellen Rahmenbedingungen der Bildung von Minderheitsregierungen (90 ff.).

Auf dieser Basis stellt Pfafferott am Ende des systematischen Teils der Arbeit seine Hypothesen vor. Demnach steht zu erwarten, dass Parteien individuelle Ziele mit optimalen Rollenwahrnehmungen verbinden und in Kosten-Nutzen-Kalkülen Handlungsoptionen abwägen. Eine Minderheitsregierung ist demnach „überlebensfähig“, a) wenn die an dieser Konstellation beteiligten Parteien in diesem Konstrukt eine für sie günstige oder bestmögliche Handlungsoption und die Erfüllung ihrer Kosten-Nutzen-Kalkulation erkennen und sich diese Interessen komplementär ergänzen, b) solange sie eine Median-Position auf einem auf einer Links-Rechts-Achse basierenden Parteiensystem besetzt und die Opposition eine politisch geteilte ist sowie c) solange institutionelle und verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen die Wahl und den Bestand der Minderheitsregierung begünstigen.

Als empirische Basis seiner Untersuchung dienen Pfafferott drei Fallbeispiele: die beiden Ausformungen des „Magdeburger Modells“, also zunächst die rot-grüne, später dann die SPD-Minderheitsregierung unter Reinhard Höppner (SPD) in Sachsen-Anhalt zwischen 1994 und 1998 beziehungsweise 1998 und 2002 sowie die Minderheitsregierung unter Hannelore Kraft (SPD) in Nordrhein-Westfalen im Zeitraum von 2010 bis 2012. In allen drei Fällen wird zunächst das politische wie das Parteiensystem des jeweiligen Landes vorgestellt, die Entstehung der jeweiligen Minderheitsregierung sowie ihrer Entscheidungsprozesse in Bezug auf Verhandlungsstrukturen, Typenbildung und politische Kultur beschrieben sowie nach der einschlägigen Funktions- und Handlungsfähigkeit gefragt. Abgerundet werden die Fallbeispiele durch die Darstellung der institutionellen und verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen – was vermutlich zu Beginn eines jeden Kapitels mit Bezug auf das konkrete politische und Parteiensystem noch besser gepasst hätte.

Die Verortung des Themas Minderheitsregierung im Rahmen der Funktionslogik des parlamentarischen Regierungssystems hätte (noch) stärker in den Fokus genommen werden können. Hierauf wird zwar an unterschiedlichen Stellen, etwa im Kontext des „neuen Dualismus“ im parlamentarischen Regierungssystem, Bezug genommen, hätte aber prominenter berücksichtigt werden können. Am Ende ist eine umfassende Studie von Entstehungsbedingungen, internen Prozessen und Ergebnissen von Minderheitsregierungen in Deutschland entstanden, in der zahlreiche empirische Befunde präsentiert und eingeordnet werden. Dabei werden viele unterschiedliche Akteure im Rahmen des jeweiligen institutionellen Arrangements der deutschen Länder verortet, die Befunde aus den Fallstudien werden auf überzeugende Art und Weise für die politikwissenschaftliche Bilanz dieser Untersuchung fruchtbar gemacht. Wie Pfafferott abschließend betont, ist der große Vorteil des Forschungsgangs seiner Arbeit die Übertragbarkeit: „durch eine empirische Vertiefung ließe sich das Modell darüber hinaus fortentwickeln und durch zusätzliche Aspekte bereichern“ (438). Ausgehend von dieser Studie wäre es aus politikwissenschaftlicher Sicht spannend, das Untersuchungsdesign um die Betrachtung einer Minderheitsregierung auf Bundesebene zu erweitern, aber hierfür mangelt es – bislang jedenfalls! – an einem konkreten Untersuchungsgegenstand.

 

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