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Martin Aust: Die Schatten des Imperiums. Russland seit 1991

07.10.2019
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Autorenprofil
Martin Munke, M.A.
München, C. H. Beck 2019


Fast dreißig Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion ist der postsowjetische Raum vielfach noch weit davon entfernt, politisch stabil zu sein. Der andauernde Konflikt zwischen Russland und der Ukraine ist nur das letzte und aktuellste Beispiel in einer Reihe von machtpolitischen Auseinandersetzungen bis hin zu ‚heißen‘ militärischen Konfrontationen in den äußeren Beziehungen. Innenpolitisch ist die jeweilige Legitimität der Herrschenden unter anderem stark von der wirtschaftlichen Situation des Landes abhängig. Das Verhältnis zu den meisten EU-Staaten und zu den USA changiert zwischen Anspannung und Distanz.

Deutschsprachige Analysen zur politischen Lage in Russland und zur Entwicklung des Landes seit 1991 gibt es viele. Zumeist werden sie aus politikwissenschaftlicher oder journalistischer Perspektive verfasst. Zeithistorische Untersuchungen sind demgegenüber vergleichsweise selten. Der Bonner Osteuropahistoriker Martin Aust legt nun einen historisch grundierten Deutungsversuch vor. Er will die politischen Entwicklungen der vergangenen dreißig Jahre vor dem Hintergrund der imperialen Tradition Russlands erklären, nachdem er sich zuletzt 2017 mit der russischen revolutionären Periode in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts befasst hatte.

Für ihn befindet sich Russland „seit 1991 in einer postimperialen Konstellation“, die „Frage nach dem politischen und gesellschaftlichen Umgang mit dem doppelten imperialen Erbe von Zarenreich und Sowjetunion [sei] noch nicht geklärt“ (14). Dabei liegt der deutliche Schwerpunkt der Darstellung auf den Nachwirkungen der UdSSR. Aust knüpft mit seinem Buch an die jüngere historische Imperienforschung an, die sich unter anderem mit inneren Strukturen, Fragen von Stabilität und Integration sowie dem Übergang von imperialen zu postimperialen Ordnungen befasst. Er kritisiert vor diesem Hintergrund eine Fixierung der Russlanddebatte in Deutschland auf die Person Vladimir Putin und die Herstellung „geschlossene[r] Russlandbilder“ (18), wie etwa durch die Fernsehjournalistin Gabriele Krone-Schmalz, aber auch durch den in Deutschland stark rezipierten US-amerikanischen Historiker Timothy Snyder. Der Blick auf die verschiedenen Facetten des „imperiale[n] Erbe[s]“ (19) soll dagegen strukturelle Besonderheiten der politischen Lage in Russland deutlich machen.

Diese Grundannahmen skizziert Aust in einem kurzen ersten Kapitel, um sich anschließend mit dem Begriff „Imperium“ und den damit verbundenen analytischen Konzepten auseinanderzusetzen. Als grobe geschichtswissenschaftliche Arbeitsdefinition beschreibt er „großräumige Herrschaftsregionen […], die in sich kulturell und sprachlich sehr unterschiedliche Regionen vereinen“ (24) und deren wirtschaftliche Verhältnisse nur supraregional beziehungsweise global erfasst werden können. Politik- und sozialwissenschaftliche Ansätze wie etwa von Alexander J. Motyl, Edgar Grande und Parag Khanna werden kurz gestreift.

Als Synthese schlägt Aust einen multikategorialen Ansatz vor, mit dem imperiale Handlungen in verschiedenen Räumen verortet werden (zum Beispiel als Gesamtstaat, intern in den Teilregionen, extern in den benachbarten Großregionen), danach gefragt wird, „wie das imperiale Zentrum die Machtressourcen Politik, Militär, Infrastruktur, Ökonomie und Kultur einsetzt“ (29) und so unter anderem asymmetrische Integrationsformen beschrieben werden. Für Russland sieht er zahlreiche Aspekte (post)imperialer Realitäten: den Aufbau der „Machtvertikale“ unter Vladimir Putin, die beanspruchte und durch externe Interventionen untersetzte „großregionale Hegemonie im postsowjetischen Raum“ sowie den fortgesetzten „Großmachtanspruch in den internationalen Beziehungen“ (30).

Diese Aspekte werden in den folgenden Kapiteln weiter entfaltet. Zunächst werden kurz die postimperialen Konstellationen in Russland, Deutschland, Frankreich und Großbritannien verglichen beziehungsweise ein solcher Vergleich angedeutet. Ein weiterer Bezugspunkt wäre hier Österreich gewesen, das auch nach dem Ende der Habsburgermonarchie die politische und wirtschaftliche Orientierung auf den südosteuropäischen Raum vielfach beibehalten hat. Für Deutschland bedeutete das Jahr 1945 ein abruptes Ende imperialer Traditionen, an den alten Reichsgedanken gibt es heute keine Anknüpfungspunkte mehr. Frankreich und Großbritannien sahen sich nach dem Zweiten Weltkrieg langwierigen Dekolonisierungsprozessen ausgesetzt.

Für die Sowjetunion hingegen wurde zu dieser Zeit der eigene Einflussbereich weit ausgedehnt. Die bereits im Russländischen Reich etablierte multiethnische Tradition (bei teilweise kolonialer Ausbeutung) wurde in der frühen Sowjetunion durch eine gewisse Förderung von Nationalisierungsprozessen fortgesetzt, bis es in den 1930er-Jahren zu einer „Nationalisierung von Feindmarkierungen“ (39) und einer Aufwertung des Russischen kam. Die vielfach unterdrückten Nationalitätenkonflikte trugen dann in den 1980er- und 1990er-Jahren mit zum Ende der Sowjetunion bei, auch wenn der Impuls zur Auflösung letztlich aus dem Zentrum kam und in den Republiken Russland, Belarus und Ukraine zur Umsetzung gelangte.

Ein weiteres kurzes Kapitel befasst sich mit der Rolle von Michail Gorbatschow – im Ausland ein gefeierter Reformer, in Russland als gescheiterter Politiker angesehen, der die Herausforderung der von ihm bemühten Gleichzeitigkeit von politischer und wirtschaftlicher Reform nicht habe bewältigen können. Die Hinterlassenschaften aus diesem Scheitern des „Erblasser[s] wider Willen“ (47) prägen das Land bis heute, wie auch weite Teile der Bevölkerung noch lange durch den „gemeinsamen transnationale[n] Erfahrungsraum“ (57) der Sowjetunion beeinflusst wurden und werden. Das folgende, mit über 60 Seiten umfangreichste Kapitel des Buches ist denn auch anhand verschiedener Beispiele den konkreten Ausformungen des Umgangs mit imperialen Traditionsbeständen gewidmet:

  • dem symbolischen Erbe des Herrscherkultes in der Person Putins;

  • dem seit den Zeiten des Zarenreiches immer wieder problematischen Umgang mit Multiethnizität und, damit zusammenhängend, der Rolle Russlands beziehungsweise der ‚Russen‘ im Vielvölkerstaat, sinnbildlich im Nebeneinander des ethnisch-sprachlich-kulturellen Adjektivs russisch/russkij und des auf die staatliche Ebene abzielenden russländisch/rossijskij;

  • dem Austarieren der Rollen von Zentrum und Peripherie mit den sich wandelnden Rollen von föderativen Republiken, Regionen (kraja) und Gebieten (oblast);

  • den außenpolitischen Machtansprüchen gegenüber ehemaligen Teilstaaten der Sowjetunion im Changieren zwischen Versuchen ökonomischer Integration bis hin zur Ausübung militärischer Gewalt und der Aufrechterhaltung ‚eingefrorener‘ Konflikte, verdeutlicht in den Konzepten des ‚nahen Auslands‘ (bližnee zarubežʹe) und, stärker kulturell gedacht, der ‚russischen Welt‘ (Russkij mir).

Für Vladimir Putin konstatiert Aust, dass dieser einen „taktischen Umgang“ (129) mit solchen Traditionsbeständen pflege und dahinter, anders als oft von westlichen Beobachtern gedacht, kein durchkomponiertes Konzept stehe. Insofern befinde sich Russland nach wie vor in einem Prozess, der die genannten Problemstellungen immer wieder neu aufgreifen müsse und noch keinen konsequenten Umgang mit ihnen entwickelt habe. Als mögliche Szenarien einer zukünftigen Entwicklung sieht der Autor eine „neoimperiale Entfaltung“ (nach zuvor nötiger wirtschaftlicher Stabilisierung), eine Phase der „Stagnation“ oder aber die Möglichkeit von entstehender „Unordnung beim Machttransfer in die Post-Putin-Zeit“ (133). Ob die Nachwirkungen der imperialen Vorläufer des heutigen Russlands tatsächlich mit dem Begriff „Schatten“ analytisch sinnvoll gefasst werden können, bleibt dahingestellt.

Neben dem Titel greift Aust das Wort Imperium nur im letzten Satz des Buches auf, sonst schreibt er durchgehend vom imperialen „Erbe“, unter anderem in den Kapitelüberschriften „Erblasser wider Willen: Gorbatschow, das Ende der Sowjetunion und das Erbe des Imperiums“ sowie „Die Erben: Russlands Umgang mit dem imperialen Erbe“. Der Umgang mit diesem Erbe wird das Land und seine Nachbarn in jedem Fall noch lange beschäftigen.

 

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