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Eric Mülling: Big Data und der digitale Ungehorsam. Neue Wege der Politisierung?

06.03.2019
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Autorenprofil
Dr. rer. pol. Marko Jakob, MBA
Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften 2019

In seiner Dissertation (Universität Potsdam) verknüpft Eric Mülling die beiden Themenkomplexe Big Data und digitaler Ungehorsam. Dies ist insofern spannend, als er technische Entwicklungen in Bezug zu demokratischen Grundrechten setzt.

Der Begriff Big Data beschreibt eine „stetige Sammlung und sekundenschnelle Verarbeitung vielfältigster Datenbestände“. Er wird häufig im ökonomischen Kontext genutzt, Mülling hingegen wendet ihn konsequent auf politische und soziologische Ereignisse an. (7) Unter digitalem Ungehorsam versteht der Autor eine auf das Internet fokussierte Variante des zivilen Ungehorsams, der sich durch den Protest einzelner Personen, wie zum Beispiel Edward Snowden, Julian Assange und Chelsea Manning, aus Angst vor der Entstehung eines Überwachungsstaates auszeichnet. Die Akteure des digitalen Ungehorsams stellen dabei klassische politische Fragen wie die nach der Freiheit des Einzelnen oder nach Teilhabe und Transparenz mit neuen Mitteln. (69)

Die algorithmische Analyse menschlichen Verhaltens hat große Auswirkungen auf die Zivilgesellschaft. Allerdings gibt es bislang keine Untersuchungen, die die Folgen des Einsatzes von Big-Data-Software, wie sie auch von autokratischen Regimen zur Überwachung ihrer Gegner eingesetzt wird, für Netzaktivisten in demokratischen Gesellschaften untersucht. Dies voraussetzend stellt Mülling zwei Forschungsfragen: Erstens: Was ist digitaler Ungehorsam? Und zweitens: Wie beeinflusst Big Data die Netzaktivisten in Ihrem Ungehorsam?

Die Arbeit untergliedert sich in fünf Teile. Zunächst erfolgen Begriffsbestimmungen. Dem schließen sich Darstellungen der Auswirkungen der technischen Revolution an. Vor allem werden Cloud Computing, Big Data, Algorithmen und Deep Learning detailliert und verständlich beschrieben. Im dritten Teil beleuchtet Mülling das theoretische Fundament der Protest- und Bewegungsforschung. Im Schwerpunkt behandelt der Autor den zivilen Ungehorsam, als eine Unterkategorie der Protestbewegung. Daraus werden wiederum der Technikprotest als internetbasierte Form des demokratisch legitimierten Protestes und schließlich der „Digitale Ungehorsam“ (69) abgeleitet.

Anschließend stellt Mülling zehn Thesen vor, die er mittels seiner Arbeit belegen möchte. Zwei wesentliche Thesen darunter sind: „T3: Digitaler Ungehorsam politisiert entpolitisierte Fragen“ (75) und „T8: Im Agieren der Big-Data-Akteure zeigen sich hegemoniale Methoden“ (80). Auf der Grundlage der Thesen erstellt der Autor einen Interviewleitfaden und beschreibt im folgenden Kapitel ausführlich sein methodisches Vorgehen für die empirische Erhebung. Dabei werden auch die Schwierigkeiten der Kontaktaufnahme, beispielsweise mit Netzaktivisten wie Edward Snowden anschaulich dargestellt. Der Zeitraum der Untersuchung umfasst die Zeit von 2000 bis 2017 und ist auf die Betrachtung der Ereignisse in Deutschland beschränkt. Der Autor begründet dies damit, dass der Einsatz von Big Data hier am schnellsten und intensivsten umgesetzt wird. Als empirische Grundlage dienen zehn Interviews, bestehend aus acht Gesprächen mit digitalen Protestakteuren und zwei Interviews mit Big-Data-Experten. Darunter befinden sich Persönlichkeiten wie Daniel Domscheit-Berg und Yvonne Hofstetter, die einem größeren Publikum bekannt sein könnten.

Im letzten Teil erfolgt eine Analyse der erhobenen Daten, wobei sich die Überprüfung der Thesen lediglich auf die Aussagen der Interviewpartner stützt; eine detaillierte Analyse der empirischen Daten erfolgt nicht. Seine zu Beginn gestellten Forschungsfragen beantwortet Mülling wie folgt. Unter digitalem Ungehorsam versteht er eine Unterform des zivilen Ungehorsams mit anderen (technischen) Mitteln. Seine zweite Forschungsfrage, inwieweit Big Data die Netzaktivisten in ihrem Ungehorsam beeinflusst, beantwortet er zurückhaltend. Letztendlich stellt er fest, dass Big Data bei weitem nicht in dem Maße im politischen Kontext eingesetzt wird, wie es bereits in wirtschaftlichen Anwendungsfällen, zum Beispiel im Marketing, der Fall ist.

Der große Mehrwert der Dissertation von Eric Mülling liegt in der Anwendung des Begriffes Big Data auf das politische Feld demokratischer Protestaktionen. Dem Autor gelingt es, die beiden wissenschaftlichen Disziplinen der Politikwissenschaft und der Informatik miteinander zu verknüpfen, und das auf eine sehr anschauliche und nachvollziehbare Weise, die auch interessante Randgebiete – wie beispielsweise der Einsatz von Big Data als Cyberwaffe – berücksichtigt.

Das große Manko der Arbeit jedoch ist die geringe empirische Basis. Rückschlüsse aus lediglich zehn Experteninterviews zu ziehen und diese zu verallgemeinern ist wissenschaftlich nur bedingt nachvollziehbar.

Aufgrund der allgemeinverständlichen Sprache ist die Dissertation leicht lesbar und zum Teil sogar spannend. Darauf verweist Mülling explizit in seiner Einleitung. Allerdings sorgt die Sprache auch dafür, dass wissenschaftliche Erkenntnisse und persönliche Erlebnisse des Autors nicht sauber voneinander getrennt werden können. Die Arbeit wirkt dadurch teilweise populärwissenschaftlich.

Auffällig ist die Sympathie des Autors zu den Akteuren des digitalen Ungehorsams. Bereits in der Formulierung der Thesen in Kapitel vier ist zu erkennen, dass der Autor für die Akteure des digitalen Ungehorsams Partei ergreift. Die Big-Data-Akteure hingegen werden weitgehend negativ dargestellt. Diese subjektive Bewertung ist kritikwürdig.

Alles in allem bereichert die Dissertation die politikwissenschaftliche Fachliteratur. Das Themengebiet, das Mülling mit seiner Arbeit öffnet, bietet reichlich Potenzial. Vor allem der Ansatz, zwei wissenschaftliche Disziplinen miteinander zu vernetzen, wirkt überzeugend.

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