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Dirk Neubauer: Das Problem sind wir. Ein Bürgermeister in Sachsen kämpft für die Demokratie

02.09.2019
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Autorenprofil
Prof. Dr. Rainer Lisowski
München, DVA 2019

Im Englischen gibt es den schönen und bösartigen, von George Bernard Shaw stammenden Spruch „He who can, does. He who cannot, teaches“, der sich vor allen Dingen gegen akademisches Besserwissertum richtet und für Praktiker eine Lanze bricht. Folgt man dem, kann man für das Buch des Augustusburger Bürgermeisters Dirk Neubauer eine klare Leseempfehlung aussprechen.

Erfrischend ungewöhnlich ist zunächst einmal die erste Grundthese des Buches, die sich auch in seinem Titel niederschlägt. Die Ursache der derzeit vielfach diagnostizierten Krise im Westen sieht der Autor nicht immer nur in den Parlamenten, der Bürokratie, den Konzernen oder den Parteien, sondern in trägen, desinteressierten und wohlbehüteten Bürgerinnen und Bürger selbst. Die Problemverursacher sind aus seiner Sicht: Wir, die Bürger (Kapitel 1). Wir, der öffentliche Stillstand (Kapitel 2). Wir, die Politik (Kapitel 3). Wir, die Medien (Kapitel 4). Am Ende werden aber auch die Hoffnungsträger benannt: Wir, die Veränderer (Kapitel 5).

Auf den letzten 40 Seiten schlägt seine Kritik am Demos, dem das Engagement für seine Demokratie abhandengekommen ist, so richtig durch. Im Vorwort werden aber zunächst andere Ursachen für die Entfremdung zwischen Volk und Demokratie vorgestellt: eine zu große Komplexität und zu detaillierte rechtliche Regelwerke, die Engagement, Verantwortlichkeit und Beteiligung im Keim ersticken; Ignoranz gegenüber dem Lebenswerk von Menschen, vor allem im Osten; und eine „entrückte[.] Politik“ (8). Von der direkten Verantwortlichkeit der Bürgerinnen und Bürger ist an dieser Stelle noch nicht die Rede und die „entrückte Politik“ klingt spurweise nach wurstiger Politikschelte. Man merkt Neubauer aber genau an, wovon er spricht, wenn er etwa die vielen rechtlichen Hindernisse für politische Entscheidungen auf lokaler Ebene aufzählt.

Auf dieser lokalen Ebene sieht Dirk Neubauer eine große Chance für die Demokratie. Damit die Bürger und Bürgerinnen aber wieder die Lernerfahrung machen können, dass sich Engagement für das Gemeinwesen rund um die eigene Wohnzimmercouch lohnt, müssen die Kommunen stärkeren Entscheidungsspielraum erhalten. Hier identifiziert er ein zentrales Problem moderner Verwaltungstätigkeit im Mehrebenensystem: Durch den Aufbau komplexer Förderkulissen, hinter denen ein nahezu undurchdringliches Geflecht von im Einzelfall sinnvollen, in ihrer Gesamtheit aber toxisch wirkenden Rechtsnormen steht, haben demokratische Entscheidungen vor Ort oft keine Gültigkeit. Denn die Fach- und Rechtsaufsicht behält eine unsichtbare Bürokratie und damit zumeist das letzte Wort. Dirk Neubauer plädiert leidenschaftlich für zwei Dinge: erstens für eine stärkere Dezentralisierung politischer Entscheidungen und zweitens für ein Ende oder zumindest eine Eingrenzung besagter Förderkulissen mit ihren oft nur scheinbar transparenten und rationalen Ratingskalen. Er fordert stattdessen eine bessere Grundausstattung der Kommunen, Pauschalzuweisungen sowie Erfolgskontrollen durch die Wählerinnen und Wähler – sprich: durch Verantwortlichkeit bei Wahlen. Neubauer im Wortlaut: „Wir müssen wegkommen von einem System, in dem die lokalen Parlamente grundsätzlich eher als Bittsteller denn als Entscheider fungieren. Denn das hebelt Demokratie an einer weiteren Stelle aus.“ (221 f.)

Als ehemaliger Verwaltungspraktiker habe ich mich mehrfach dabei erwischt, wie ich während des Lesens den Kopf nickte. Etwa wenn Neubauer, der selbst Beispiele für eine gelungene Bürgerbeteiligung in seiner Stadt vorstellt, auch den Nutzen von Beteiligungsprozessen skeptisch sieht. Ein Grund dafür ist, dass mühsam erarbeitete Kompromisse von immer mehr Bürgerinnen und Bürgern nicht anerkannt werden („Kompromiss als Niederlage“, 65). Hinzu kommt, dass die Kompromisse lehrende politische Bildung gegen Null zurückgefahren und ins Private verbannt wurde. Und weil die Grundstimmung in weiten Teilen der Gesellschaft in der Maximierung der eigenen Interessen liegt, möchte man hinzufügen. Die Gewinnmaximierung des Homo oeconomicus lässt grüßen. Jahrelang trug die Grundidee des New Public Management, also der ‚Verbetriebswirtschaftlichung‘ des öffentlichen Dienstes, mit dazu bei, Bürgerinnen und Bürger nur noch aus der Kundenperspektive zu betrachten und ihre Verantwortung für das Gemeinwesen auszublenden. Neubauer streift diesen Gedanken, wenn er die „Geschäftsbeziehungen“ zwischen Politik und Bürgerschaft erwähnt (44). Er spricht ihn aber nicht klar aus und an dieser (und anderer) Stelle fehlt der Publikation ein wenig analytische Schärfe. Insgesamt handelt es sich primär um ein journalistisches Buch, das vornehmlich Praktiker erreichen soll. Auf Seite 158 bestätigt sich eine Einschätzung, die der Leser seit den ersten Seiten mit sich trägt: Der Text ist typisches „Seite Drei“-Material, also die von Qualitätsjournalisten geschätzte Hintergrundberichterstattung, die der Autor in seinem ehemaligen Berufsleben als Journalist selbst gerne geschrieben hat. Etwa ab der Seite 100 (Kapitel 3) überwiegt manchmal das Anekdotenhafte.

Die heutige politikwissenschaftliche Forschung wird eher naserümpfend an eine solche Art von Publikation herangehen. Doch dies geschieht zu Unrecht, denn das Buch bietet den sehr erfahrungsgesättigten Beitrag eines Praktikers – und was ist ein qualitatives Tiefeninterview schon anderes als eben dieses? Zur Hypothesenbildung eignet sich das Werk allemal und es wartet auch mit interessanten eigenen Beobachtungen auf: etwa die, dass ein Großteil der von der Sozialforschung eher im kleinbürgerlichen Milieu verorteten Wutbürger enttäuschte Führungskräfte seien. Neubauer spricht auch einen Verdacht aus, den manche Politikwissenschaftler*innen seit längerer Zeit hegen, ohne dass er bisher Gegenstand von Forschung geworden wäre: die negativen Folgen der sogenannten Polit-Comedy („ZDF heute show und andere). Der Autor berichtet von seinen eigenen Erfahrungen mit den Produktionsfirmen, denen es mitnichten um einen Beitrag zur Konstruktion kritischer Öffentlichkeit oder zur Demokratiesicherung geht, sondern um die schnelle Pointe, den billigen Gag für eine hastig gezimmerte Sendung.

Wissenschaftlich lässt sich gewiss über so manche Aussage trefflich streiten, etwa wenn der internetaffine Autor die Rolle sozialer Medien während des sogenannten „Arabischen Frühlings“ wohl zu positiv einschätzt. Studien haben gezeigt, dass diese sozialen Medien rund um den Tahrir-Platz eben keinen Diskursraum geschaffen haben, sondern allenfalls Organisationswerkzeuge für terminliche Absprachen waren. Überhaupt wird der Digitalisierung vielleicht zu viel Verheißung entgegengebracht, wenn es etwa darum geht, ländliche Räume wieder attraktiver zu machen und Menschen für Politik zu begeistern.

Ab Seite 157 wird überhaupt die Rolle der Medien kritisch diskutiert. Zum einen geht es darum, wie durch soziale Medien ehemalige Empfänger auch zu Sendern von Medieninhalten werden – eine Rolle, der nicht alle gewachsen sind. Auch wird Kritik an den klassischen Medien laut, zuvorderst an der Ökonomisierung des Mediensystems, die einen Abbau von Redaktionen zur Folge hatte, aber auch zur problematischen Dramatisierung von Sachfragen beitrugen (Stichwort „Aufmerksamkeitsökonomie“).

Über die AfD wird in dem Buch eher selten gesprochen, was angenehm auffällt. Dirk Neubauer fordert explizit, die Partei nicht zu stigmatisieren, sondern stattdessen die „gesellschaftliche Welle“ zu bekämpfen, auf der sie reitet: Resignation und Frustration (151).

Aus der Perspektive der im Westen Geborenen mag man nicht alle seine Aussagen zum Verhältnis zwischen Ost und West teilen, plausibel wirken sie in der Argumentation dennoch. Positiv sollte ebenfalls erwähnt werden, dass sich der Autor trotz seines klaren Bekenntnisses zu einer der großen Parteien parteipolitisch sehr neutral und fair verhält.

Kurzum: Das Buch lässt sich in wenigen Stunden schnell lesen und diese Stunden sind keine Zeitverschwendung, sondern eine interessante Momentaufnahme aus der „Schule der Demokratie“.

 

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