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Schicksalsgemeinschaften, Aussteiger*innen und kulturelle Waisen: Wie wird Armut in Familien (nicht) „vererbt“?

23.10.2019
2 Ergebnis(se)
Autorenprofil
Prof. Dr. Carsten G. Ullrich
Autorenprofil
PD Dr. Daniela Schiek

Armut treppe nach oben1 steps 1081909 640Der Bezug von Sozialleistungen wird häufig mit negativen Wirkungen für die Lebenslage der Betroffenen verbunden. Er kann aber auch die individuelle Handlungsautonomie fördern und Chancen auf einen sozialen Aufstieg ermöglichen. Foto: Free-Photos / pixabay

 


Einleitung

In diesem Beitrag wird sich mit der Transmission wohlfahrtsstaatlicher Abhängigkeit zwischen familialen Generationen (ohne Migrationshintergrund) in Deutschland befasst. Damit ist die Frage gemeint, inwiefern es in Familien mit dauerhaftem Sozialleistungsbezug zu einer Weitergabe von Werthaltungen, Wahrnehmungsweisen und Handlungsorientierungen kommt, die als armutstypisch und armutsverstärkend gelten.

In der sozialwissenschaftlichen und sozialpolitischen Debatte gilt diese Frage eigentlich als beantwortet. Eine langfristige und nicht gerade vorteilhafte Prägung von Menschen, deren Eltern dauerhaft in Armut leben, gilt als gesicherter und über viele Jahrzehnte hinweg – genau genommen seit der frühen Weimarer Republik – reproduzierter Befund. Von der Marienthalstudie über die Arbeiten zur Langzeitarbeitslosigkeit in den 1990er-Jahren bis zur heute vornehmlich hierzu angeführten Habitustheorie Pierre Bourdieus wird davon ausgegangen, dass sich unter langandauernder Armut Handlungsorientierungen und Deutungsmuster zurück beziehungsweise gar nicht erst entwickeln, die für eine erfolgreiche Laufbahn und ein „geregeltes Leben“ als wichtig erachtet werden (für einen Überblick siehe Schiek et al. 2019).

Es sind jedoch gleich drei Kritikpunkte, mit denen sich theoretisch und forschungspraktisch an der bisherigen Forschung einhaken lässt: Erstens wird dem dauerhaften Bezug von Sozialleistungen in jedem Fall eine negative Wirkung zugeschrieben, die das individuelle Handlungsvermögen beschneidet. Perspektiven, die eine individualisierende, die Handlungsautonomie stärkende Wirkung wohlfahrtsstaatlicher Leistungen hervorheben (Kohli 1985; Leisering 1997), sind heute fast vollständig von der Bildfläche verschwunden. Ähnliches trifft zweitens auch auf die Überzeugung zu, dass Sozialisation kein einseitiger und mit dem Erwachsenwerden abgeschlossener Lernprozess, sondern ein permanenter wechselseitiger Prozess der Aushandlung ist, bei dem Kinder auch ihre Eltern beeinflussen und Familienmitglieder immerzu ihre Perspektiven abgleichen und aushandeln müssen, wenn sie eine Einheit an Werthaltungen, Deutungsmustern und Handlungsorientierungen sein wollen (Audehm und Zirfas 2001; Turner 1970). Karl Mannheim (1928) hat ausführlich herausgearbeitet, dass Generationen und Generationenbeziehungen keine rein demografischen Phänomene darstellen, in die man „hineingeboren“ wird, sondern als höchst voraussetzungsvolle kulturelle Zusammenhänge begriffen werden müssen. Dies impliziert die Ansicht, dass Individuen das sich ihnen als Wirklichkeit Darbietende nicht einfach „aufnehmen“ (können), sondern interpretieren und transformieren (Mead 1973). Diese Prozesse sind, damit kommen wir zum dritten Punkt, für die Frage nach einer intergenerationellen Armutstransmission bisher noch gar nicht direkt, das heißt als Prozesse innerhalb der betreffenden Familien, untersucht worden. Sie werden stets theoretisch vorausgesetzt, bleiben aber empirisch unangetastet. Und so können wir zurzeit auch nicht wissen, inwiefern sich arme Familien als kulturelle Einheiten bilden und bewahren – oder aber auflösen.

Vor diesem Hintergrund wurde im Rahmen des Projektes „Von Generation zu Generation? Armutserfahrungen aus familiengeschichtlicher Perspektive“ das Zustandekommen sogenannter Hartz IV-Generationen untersucht. Hierfür wurden Mehrgenerationeninterviews mit Familien durchgeführt, in denen die (heute erwachsenen) Kinder mithilfe von Sozialleistungen aufgewachsen sind und nun entweder selbst wieder seit geraumer Zeit Sozialleistungen beziehen oder aber (in unterschiedlicher Reichweite) aufgestiegen sind.1 Die Familienmitglieder haben also eine gemeinsame Armutsgeschichte und die Frage ist, ob sie auch gemeinsame biografische Perspektiven auf sie entwickeln und übereinstimmende Schlüsse aus ihr ziehen oder ob sich kulturelle „Dissonanzen“ in der gemeinsamen Reflexion der Lebenslagen und -weisen zeigen, wie sich diese innerhalb der Familie aufbauen und welche Rolle Sozialleistungen oder auch andere Unterstützungen dabei spielen.

Bevor wir diese Frage auf der Grundlage unserer Untersuchungsergebnisse beantworten, gehen wir zunächst auf die methodologischen Überlegungen ein, wie wir sie entlang der bisher vorliegenden Kenntnisse zur intergenerationellen Transmission wohlfahrtsstaatlicher Abhängigkeit entwickelt haben.


Stand der Forschung und methodologischer Ausgangspunkt

Große Paradigmenwechsel gibt es bei der sozialwissenschaftlichen und sozialpolitischen Perspektive auf generationenübergreifenden Sozialleistungsbezug seit den 1950er-Jahren in Deutschland nicht zu verzeichnen. Nachdem Vorstellungen einer genetischen Beeinflussung von für Arbeitsmarkt und Bildungssystem relevanten Eigenschaften nach den rassehygienischen Maßnahmen im Nationalsozialismus nur sehr vereinzelt weiter leb(t)en (für einen Überblick vgl. Schiek et al. 2019: 7 ff.), ist man sich bei der These, Armut – wie auch insgesamt soziale Ungleichheit – übertrage sich kulturell, also über eine Vermittlung spezifischer Deutungsmuster und Handlungsorientierungen, umso einiger. Es gibt allerdings Konjunkturschwankungen, was die Intensität angeht, mit der sich mit den Deutungsmustern und Handlungsorientierungen von Leistungsempfänger*innen befasst und sich ein Bild über Sozialleistungsbezieher*innen gemacht wird: Sie ist zu Zeiten sozialpolitischer Reformen besonders hoch, da deren gesellschaftliche Akzeptanz vom Leistungsempfänger*innenbild abhängt und die im Wohlfahrtsstaat chronische Frage nach den (nicht-intendierten) Folgen von Sozialpolitik sich besonders im Zuge ihres Wandels aufdrängt (vgl. hierzu Ullrich 2008: 212 ff.). Und so wurde in Deutschland nicht nur im Zuge der Sozialhilfereform in den 1990er-Jahren darüber diskutiert, inwiefern Sozialhilfeempfänger*innen ihre Armut überwinden können und wollen (Leibfried et al. 1995). Ebenso war die „Hartz IV“-Reform der Auslöser, wieder verstärkt über die Entwicklung von Handlungsorientierungen im Leistungsbezug zu diskutieren und zu forschen (etwa Bescherer et al. 2008; Mehlich 2005; Hirseland und Lobato 2010). Dabei wird seit einigen Jahren auch verstärkt der hohe Anteil an Kindern unter den Bezieher*innen von Arbeitslosengeld II diskutiert, sodass Familien, die wohlfahrtsstaatliche Leistungen beziehen, als solche in den Fokus der medialen wie auch sozialwissenschaftlichen Aufmerksamkeit gerückt worden.

„Hartz IV-Generationen“ (Hampl 2010; Schwarz 2002) werden seither verstärkt problematisiert, überraschenderweise aber nicht genauer untersucht. Dies trifft nicht erst seit der neueren Debatte zu, sondern lässt sich für die Sozialforschung zur familialen Transmission wohlfahrtsstaatlicher Abhängigkeit insgesamt feststellen. So ist nahezu allen und teilweise seit der frühen Weimarer Republik bemühten Erklärungsansätzen gemeinsam, dass sie eine negative Wirkung des Bezugs wohlfahrtsstaatlicher Leistungen auf das Handlungsvermögen Einzelner feststellen und die Familie als kulturelle Einheit voraussetzen. Demzufolge breite sich mit zunehmender Dauer des Leistungsbezugs ein Klima der Resignation und erlernten Hilflosigkeit aus, das sich in Form ebenfalls enger Lebens- und Handlungsperspektiven auch auf die Kinder übertrage.

Die kulturelle Ebene wird dabei gerade nicht fokussiert, sondern übersprungen. Die Handlungsorientierungen im Wohlfahrtsstaat werden also eher aus Strukturen abgeleitet und aus den Analysen ausgeklammert, statt ihre Entstehung direkt zum Gegenstand der Untersuchung zu machen. Denn zwei in der bisherigen Diskussion komplett ausgeblendete Punkte sind im Zusammenhang mit der Entstehung von Handlungsorientierungen und den kulturellen Wirkungen von Sozialpolitik relevant: Erstens ist „Orientierung“, so Wolfgang Fischer und Martin Kohli (1987: 31), „kein sozialer Automatismus, sondern eine biographische Leistung“, die also auf der interpretativen Ebene erbracht wird. Auch Generationen und Generationenbeziehungen sind im Prinzip biografische Konstrukte, die erst kommunikativ hergestellt werden (Alheit 2005; Engelhardt 1997; Mannheim 1928; Rosenthal 2000). Ebenso wird ein familiales „Klima“ von den Mitgliedern nicht vorgefunden und übertragen, sondern gemeinsam von allen Teilnehmer*innen ausgehandelt oder aber auch verlassen. Zweitens ist der Wohlfahrtsstaat und sind Sozialleistungen eine zentrale Voraussetzung dafür, dass sich eine biografische, „d. h. vom Ich aus strukturierte und verzeitlichte Selbst- und Weltauffassung“ überhaupt gesellschaftlich hat entwickeln können (Kohli 1994: 220). Vor diesem Hintergrund muss zumindest die Möglichkeit eingerechnet werden, dass Sozialleistungsbezug die Handlungsautonomie auch begründen und stärken statt sie „abgewöhnen“ könnte. Leisering (1997, 1998) hat entsprechend argumentiert.

Vor diesem Hintergrund haben wir uns dezidiert für eine qualitative Studie entschieden, in der das intergenerationelle Zustandekommen, Aufrechterhalten oder aber auch Auflösen von familialen Handlungsorientierungen und die Bedeutung der Handlungsautonomie in „Hartz IV“-Generationen offen untersucht wurden. Dabei wurden qualitative Interviews mit (mindestens) zwei erwachsenen Generationen durchgeführt, die wir um das gemeinsame Erzählen der Familiengeschichte gebeten haben.

Das familiengeschichtliche Gespräch (Hildenbrand und Jahn 1988) lässt sich als Hybridmethode aus dem offenen narrativen Interview und der qualitativen Gruppendiskussion verstehen. Es wird sich also einerseits methodisch zunutze gemacht, dass eigenerlebte Erfahrungen am „natürlichsten“ im Erzählen dargeboten und geordnet werden und Menschen nur mithilfe von Geschichten auf die Beschaffenheit ihres Selbst zugreifen und Handlungen planen können (Schütze 1983; Kohli 1981; Fischer-Rosenthal und Rosenthal 1997). Generationen bilden sich über Kommunikation zunächst in der konkreten Gruppe (Mannheim 1928; Rosenthal 2000) und auch Familien identifizieren sich über das Erzählen von Geschichten erst als solche (Hildenbrand 1990). Daher erscheinen für die Frage nach dem Zustandekommen von innerhalb der Familie intergenerationell geteilten Handlungsorientierungen Einzelinterviews wenig sinnvoll. Und so wird sich andererseits der spezifischen Dynamik bedient, mit der bei qualitativen Gruppendiskussionen gemeinsame Perspektiven oder aber entsprechende Differenzen arbeitsteilig miteinander erarbeitet werden (Mangold 1960). Somit besteht der Sinn eines solchen Vorgehens auch nicht in der seitens der Forscher*innen nacheinander organisierten Erhebung und Analyse „einzelner“ Darstellungen. Vielmehr wird hier, ähnlich wie bei „klassischen“ Gruppendiskussionen, deren gemeinsame Arbeit an ihren kollektiven Deutungsmustern und Handlungsorientierungen, ihren sie einenden oder aber trennenden Perspektiven und Streitpunkten stimuliert und hernach analytisch rekonstruiert.

Konkret bedeutet dies, dass wir die Familie gebeten haben, uns zusammen ihre Familiengeschichte zu erzählen und es dabei vollständig der Familie überlassen haben, wer mit dem Sprechen beginnt, wann andere einhaken, wie sie die Redeanteile verteilt und welche Themen in welcher Reihenfolge von der Familie miteinander vor beziehungsweise mit uns besprochen wurden. Daraus entstanden weitgehend selbstläufige binnenfamiliale Kommunikationen, in denen die Familienmitglieder ihre Sichtweisen auf die eigene und gemeinsam erlebte Geschichte präsentierten, sich gegenseitig ergänzten oder korrigierten sowie auch miteinander darüber stritten. Erst nach dieser Phase wurden seitens der Interviewer*innen erzählgenerierende wie diskursive Nachfragen (Ullrich 2019) gestellt.

Es wurden insgesamt 11 solcher Interviews mit alleinerziehenden und (ehemals) dauerhaft Sozialleistungen beziehenden Eltern (im Alter von 50-65 Jahren) und deren heute erwachsenen Kindern (im Alter von 25-30 Jahren) durchgeführt, die ebenfalls fortdauernd Sozialleistungen beziehen oder aber (in unterschiedlicher Reichweite) aufgestiegen sind. Aus forschungspragmatischen Gründen wurden nur Familien ohne (direkten) Migrationshintergrund einbezogen, da ein solcher eine eigene oder zumindest ganz andere Untersuchung erfordern würde. Die Interviews fanden mit maximal dreiköpfigen Familien statt: Auf der Seite der Eltern nahmen immer die Mutter, auf der Seite der Kinder höchstens zwei Geschwister teil. Das Datenmaterial wurde sequenziell textanalytisch mittels objektiv-hermeneutischer Enzelfallrekonstruktionen ausgewertet (Oevermann 2000) und es wurden Typen gebildet, um den unmittelbaren Forschungskontext bewusst zu überschreiten und den Möglichkeitsraum über die konkret vorliegenden Fälle hinausgehend zu durchdringen (zum Sample und dem Verfahren der Textauswertung und Typenbildung vgl. ausführlich Schiek et al 2019).


Ergebnisse auf Basis der qualitativen Familiendiskussionen

Mit unseren Ergebnissen lässt sich zeigen, dass Armutskarrieren in familialen Generationen nur teilweise direkt miteinander geteilt werden; sie werden ebenso transformiert oder unter- beziehungsweise abgebrochen.

Auf der Grundlage der familiengeschichtlichen Gespräche und ihrer sequenzanalytischen Rekonstruktion haben wir drei Grundmuster der intergenerationellen Transmission beziehungsweise Transformation von Armut herausgearbeitet. Im ersten Muster („kulturelle Reproduktion“) zeigt sich eine klare „Vererbung“ des Lebensstils, wobei Eltern und Kinder – beide im langfristigen Bezug von Sozialleistungen – ihr Leben direkt (Wohnraum, Wäschewaschen, Lebensmittel und Mahlzeiten) miteinander teilen und sich „schicksalhaft“ aneinanderbinden. Es handelt sich um eine sowohl kulturelle wie auch materielle Lebensgemeinschaft, in der es zu einer bewundernden Übernahme der Geschichte des anderen kommt. Sofern es sich dabei allerdings um schockierende Erlebnisse handelt, werden durch ihre „Verzauberung“ gleichzeitig Handlungen und Lebensperspektiven immer wieder gelähmt, sodass der gemeinsame biografische Horizont die derzeitige Lebensweise und -lage kaum übersteigt. Es sind jedoch nicht Traumata und Belastungen als solche, die zur Lähmung der Perspektiven führen, sondern es hängt davon ab, ob sich einzelne biografische Versionen bei anderen Familienmitgliedern effektiv durchsetzen können.

Denn es lassen sich im zweiten Muster („kulturelle Transformation“) ebenfalls Versuche von Familienmitgliedern feststellen, bei den anderen Bewunderung und Solidarität für heikle Episoden zu evozieren. Hier lehnen die – sich auch räumlich über den Wunsch nach mehr Privatsphäre und einer eigenen Wohnung distanzierenden – Kinder oder einzelne Geschwister die dargebotenen Versionen jedoch ab und korrigieren erfolgreich die Sicht- wie auch tatsächlichen Lebensweisen in der Familie. Dabei kommt es aber nicht zu einem Abrücken der Generationen voneinander, sondern zu einer wechselseitigen intergenerationellen Angleichung: Die Generationen steigen gemeinsam auf und handeln gemeinsame Ziele aus. Entscheidend sind hierbei zwei Aspekte: Zum einen motiviert das Ziel der unbedingten Unabhängigkeit von der familiären Unterhalts- beziehungsweise Bedarfsgemeinschaft die Kinder, wobei wohlfahrtstaatliche Leistungen wie Wohngeld, BAföG wie auch die Sozialhilfe beziehungsweise das Arbeitslosengeld II selbst und Stipendien die Individualisierungsbestrebungen und Veränderungen innerhalb der Familie antreiben. Zum anderen wird jedoch mit den darin verankerten Unterhaltsbestimmungen, die die Familienmitglieder gezwungenermaßen finanziell aneinanderbinden, massiv gehadert und es gibt in diesem Muster neben relativ starken Verbindungen zum elterlichen Milieu und absolut friedlichen Diskussionen auch lodernde Probleme und unbeantwortete Forderungen nach mehr Autonomie seitens der Kinder. Daher deutet sich hier die Möglichkeit einer vollständigen Trennung von den Eltern und das Ende der gemeinsamen Kompromisse an.

Ein solcher „Bruch“ zeigt sich in unserer Untersuchung nur theoretisch, da wir mit familiengeschichtlichen Interviews freilich keine Familienmitglieder einbeziehen können, die an einer solchen Diskussion mit ihrer Familie nicht mehr teilnehmen. Die Möglichkeit eines vollständigen Bruchs mit dem Herkunftsmilieu hat sich uns jedoch nicht nur in den oben erwähnten Konflikten ungewissen Ausgangs gezeigt. Auch haben einzelne Geschwister die Teilnahme am Gespräch dezidiert verweigert oder keinen Kontakt mehr zu den Familienmitgliedern, die mit uns gesprochen und darüber berichtet haben. Unser drittes Muster der „kulturellen Ausstiege“ beschreibt also die in den Interviews wie auch in der Familie abwesenden Kinder. Diese verlassen ihre Mütter relativ früh, um bei dem Vater oder den Großeltern zu leben oder sich in Kinderheimen aufzuhalten. Häufige Ausrisse von zuhause und Selbstmordversuche wie auch sozialarbeiterische und private Hilfen begleiten die Kindheit und Jugend bis zur Volljährigkeit und sogar hin zu äußerst erfolgreichen Karrieren. Das bedeutet, dass die Kinder heute hochqualifiziert sind und/oder in hochdotierten Positionen sowie prestigebehafteten Kreisen arbeiten. Folgt man der Literatur, sind diese „kulturellen Waisen“ (Schmeiser 1996), deren Eltern die Unterstützungs- und Platzierungsfunktion nicht übernehmen, gerade aufgrund dieser speziellen Elternlosigkeit beziehungsweise ihrer vollständigen Distanzierung vom Elternhaus so erfolgreich. Es ist davon auszugehen, dass es Erfahrungen lebensbedrohlicher Gewalt seitens der Eltern gegeneinander und/oder gegenüber den Kindern sind, die hier zum „Aufbruch“ und einer Intervention durch Dritte geführt haben: Das Erleben von körperlicher Gewalt ist ein starkes Motiv für die Konstitution neuer Generationen. Nichts führt zu einem größeren Vertrauensverlust der Älteren in den Schutz und die Überlegenheit ihrer Erfahrungen als die Entdeckung, dass sie grundlegende physische Bedrohungen zulassen oder sogar daran teilnehmen (Giesen 2003).

Auch wenn es im Einzelnen nicht so weit kommen muss, zeigen besonders die Aussteiger*innen beziehungsweise „kulturellen Waisen“ zwei in unserem Zusammenhang wichtige Aspekte: Erstens ist davon auszugehen, dass sich hier die deutlich aktiven und leistungsorientierten Sichtweisen, wie sie sich bereits bei den Kindern oder einzelnen Geschwistern im zweiten Muster der „kulturellen Transformation“ zeigen, noch potenzieren, also eine pointierte Handlungsaktivität und eine ausgeprägte Planungsfähigkeit bei kulturell Elternlosen beobachtet werden kann. Dies sichere ihnen, so Schmeiser (1996, vgl. auch Wolin und Wolin 1993), neben ihrer ausgesprochen hohen Zuverlässigkeit wie auch Leistungsbereitschaft die Zuwendung durch sogenannte „Sozialpat*innen“, also private Förder*innen, die die elterlichen Aufgaben stellvertretend übernehmen. Dies können Lehrer*innen, Professor*innen, Eltern von Schulfreund*innen oder Freund*innen selbst sein, auf deren Unterstützungsleistungen sich die erfolgreiche Überwindung der Armutskarriere entscheidend mit aufbaut. Ohne eine entsprechende elternunabhängige „Grundsicherung“ ist dies jedoch nicht zu bewerkstelligen. Dies bringt uns zum zweiten, für die Frage nach den Wirkungen von Sozialpolitik und den Bedingungen der intergenerationellen Überwindung wohlfahrtsstaatlicher Abhängigkeit wesentlichen Punkt: Zwar ist der zeitige Ausstieg aus dem Elternhaus (durch einen frühen eigenen Haushalt) und der Kontakt zwischen benachteiligten und potenziell unterstützungsfähigen Familien seit den „Hartz IV“-Reformen und der zunehmenden sozialen Spaltung beziehungsweise auch räumlichen Segregation nicht gerade einfacher geworden und Sozialpatenschaften können nicht als umfänglich praktikabler Ersatz für fehlende elterliche oder wohlfahrtsstaatliche Unterstützungsleistungen betrachtet werden. Trotzdem oder besser: Gerade darum müssen wohlfahrtsstaatliche Leistungen in zweierlei Hinsicht als aufstiegsförderlich und nicht als mobilitätshemmend begriffen werden: Sie fangen nicht nur Autonomiebestrebungen auf und ermöglichen eine frühe Emanzipation vom elterlichen Milieu. Sie fördern auch die privaten Solidaritätsbeziehungen. Ebenso zeigt das von uns beschriebene zweite Muster sehr deutlich, wie stark die Familien an ihrer ökonomischen Abhängigkeit zu zerklüften drohen und wie „entspannt“ sie sich ohne diese aneinanderbinden und gegenseitig „hochziehen“ würden. Hieraus wären deutlich weniger an die Familie gebundene und sehr viel umfassendere Sozialleistungen abzuleiten als dies zurzeit sozialpolitisch geschlussfolgert wird. Dafür sprechen auch jene Fälle, in denen Personen – übrigens insbesondere Frauen –, die dauerhaft dem Leistungsbezug verhaftet bleiben, eine im Gegensatz zum vorherigen Leben deutlich eigenständigere und höchst verantwortungsvolle Lebensweise nachgewiesen werden kann (Leisering 1997; Schiek et al. 2019: 96).

Sozialstaatlichkeit müsste also nicht, wie derzeit, nur für die Gewährung von (zumal negativ definierter) Sicherheit stehen, sondern auch für die Förderung individueller Autonomie und entsprechend ausgebaut werden.


Literaturverzeichnis

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Anmerkung

1 Das Projekt wurde gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft – SCHI 1184/4-1 und UL 186/8-1.

 

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Jianghong Li
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