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Martin Reiher: Parlamentarier als Beruf. Rekrutierungswege und politische Karrieren am Beispiel des Deutschen Bundestages

07.07.2020
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Autorenprofil
Daniel Hellmann
Baden-Baden, Nomos 2020

Wie wird man eigentlich Abgeordneter? Mit dieser zentralen Frage nach den Rekrutierungswegen von Parlamentariern beschäftigt sich Martin Reiher, der aus einer abgeordnetenzentrierten Perspektive nach Gemeinsamkeiten, Unterschieden und Entwicklungen von Karrierepfaden und Merkmalen der Professionalisierung des Abgeordnetenmandats sucht. Entsprechend stellt er sehr detailliert und äußerst lesenswert die von verschiedenen Politikwissenschaftlern entworfenen Karrieretypologien von Gerhard Loewenberg 1969 bis Stefanie Bailer et al. 2013 dar (145-197). Gegen Ende des Buches entwirft Reiher auch eine eigene, mit 15 Unter- und fünf Obergruppen sehr feingliedrige Kategorisierung. Zentraler Bestandteil all dieser Unterteilungen ist die Einteilung in Quereinsteiger, Partei- und/oder Kommunalpolitiker und Mitarbeiter.

Dass Forscher über mehrere Wahlperioden so ähnliche Karrieremuster vorgefunden haben, unterstreicht nochmals eine der zentralen Thesen des Buches: nämlich, dass die Rekrutierungspfade über die Jahre hinweg erstaunlich stabil sind. Überraschend ist außerdem, dass „über die Wahlperioden hinweg in der Regel nur ein verschwindend kleiner Teil der Abgeordneten (um die 5,0 Prozent) ohne jede politische Erfahrung in den Deutschen Bundestag gewählt wird“ (369). Trotzdem erkennt Reiher generell eine Tendenz zu mehr Professionalisierung, die in Anbetracht der Stabilität der Rekrutierungspfade, wie er selbst anmerkt, widersprüchlich wirkt (371).

Als Datengrundlage für die Überprüfung eigener Hypothesen verwendet Reiher eine Vollerhebung der Mitglieder (inklusive der ausgeschiedenen) des 18. Deutschen Bundestags. Diese untersucht er hinsichtlich der Merkmale Alter, Geschlecht, Konfession, Bildung, Beruf, Zeitpunkt des Parteieintritts, Partei- und Jugendorganisationsämter, kommunalpolitisches Engagement und hauptamtliche Politik vor dem Mandat (211-217). Die insgesamt 39 Hypothesen vermessen die Bundestagsmitglieder sehr detailliert, auch wenn der Sinn einzelner Hypothesen hinsichtlich des Ziels einer eigenen Typologisierung fraglich ist. Inwiefern die Beantwortung beispielsweise von Hypothese 19: „Das Alter bei Parteieintritt ist bei MdBu40 [Mitglieder des Deutschen Bundestags unter 40] jünger als bei allen Abgeordneten“ (214) einen Beitrag dazu leistet, Rekrutierungswege zu erklären, wird nur unbefriedigend beantwortet. Die Ergebnisse werden dabei auch durch die Befunde vorheriger Studien kontextualisiert und so weit möglich auch verglichen, um ebenfalls im Zeitverlauf Vergleiche anstellen zu können.

Sehr erfrischend sind Reihers Praxisexkurse, die geschilderte Sachverhalte anhand von realen Beispielen erläutern. Beispielsweise wird der Erneuerungswille innerhalb der Parteien und damit verbunden Vilfredo Paretos Kreislauf der Eliten anhand der Nicht-Aufstellung von Norbert Gneis (CSU), Siegfried Kauder (CDU), Wolfgang Nešković (Linke), Herrmann Otto Solms (FDP), Wolfgang Thierse (SPD) und Jerzy Montag (Grüne) anschaulich illustriert (71-72). Die Auswirkungen des Wahlsystems werden anhand der Landeslisten der Berliner CDU zur Bundestagswahl 2013 und 2017 dargestellt (106). So werden theoretische Erwägungen anschaulich erläutert und in den politischen Alltag übersetzt. Die Detailkenntnis geht nicht zuletzt auch auf die eigene politische Erfahrung des Autors in der CDU zurück.

Gerade in der Bearbeitung der Hypothesen zieht sich die Arbeit trotzdem sehr stark in ein deskriptives Rekapitulieren von Anteilswerten zurück. Dies ist in Anbetracht des Gegenstandes zwar notwendig, nichtsdestoweniger streckenweise weniger interessant als der Rest des Buches. Leider kommt vor diesem Hintergrund seine eigene Typologisierung auch zu kurz, die vor allem durch ihre Mehrschichtigkeit einen analytischen Mehrwert bieten würde. Außerdem erschließt sich nur bedingt die Beziehung zwischen der hypothesengeleiteten Deskription und dieser eigenständigen Typologisierung. Aufgrund des Fokus auf die 18. Wahlperiode macht das Buch neugierig auf weitere so detaillierte Erhebungen der Abgeordneten folgender Bundestage; vor allem vor dem Hintergrund des Einzugs von FDP und AfD in den 19. Deutschen Bundestag. Mit dem Buch veröffentlicht Reiher zugleich seine Dissertationsschrift, die er 2018 an der Universität Potsdam eingereicht hat.

 

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