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Schmerzhafte Priorisierungen. Demokratische Güterabwägungen in der Corona-Krise

08.04.2020
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Dr. Nico A. Siegel
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Roberto Heinrich
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apl. Prof. Dr. Sven Jochem

Foto: congerdesign / PixabayFoto: congerdesign / Pixabay

 

Demokratie als Herrschaftsform ist stets voller Widersprüche und Spannungsverhältnisse. Deshalb gehört die zivilisierte Austragung von Interessenkonflikten in regelgeleiteten Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen zum Wesenskern pluralistischer Demokratien. Das Spannungsverhältnis von Sicherheit und Freiheit ist ebenso als ein wesentlicher Zielkonflikt in die Demokratie eingewoben wie auch derjenige zwischen Freiheit und Gleichheit. Mit der Frage der Balance zwischen Freiheitsrechten des Einzelnen und kollektiven Sicherheits- und Gleichheitsansprüchen beschäftigen sich die klugen Köpfe der Demokratietheorie seit mehr als 2.000 Jahren. Im 17. Jahrhundert definierte der Engländer Thomas Hobbes als wesentliche und ihn letztlich begründende Pflicht des Staates, unter allen Umständen Sicherheit nach außen sowie nach innen zu garantieren. Dies mache eine starke, eine übermenschliche Exekutivmacht, den so genannten „Leviathan“ erforderlich. Jean-Jacques Rousseau karikierte ein solchermaßen allumfänglich abgesichertes Freiheitskonzept à la Hobbes in einem letztlich allmächtigen Staat als die Freiheit des Friedhofs.

Die klassischen Fragen der politischen Theorie haben ihre Relevanz im Alltagsgeschäft der Demokratie nie eingebüßt. Derzeit ist ihre unmittelbare Bedeutung in den unvermeidbaren Dilemmata demokratischer Güterabwägung im Gegensatz zum Corona-Virus geradezu mit den Händen zu greifen. Im Schatten der Corona-Krise das Spannungsverhältnis zwischen individueller und kollektiver Freiheit sowie individueller und kollektiver Sicherheit auszutarieren, erscheint als kaum zu bewältigende Herkulesaufgabe für die aktuelle Politik. Die Bewertungen in Wissenschaft und Kultur gehen weit auseinander. Die breite Mehrheit im Wahlvolk goutiert dagegen bisher den vorübergehenden Verzicht auf wesentliche Freiheitsrechte in Gestalt von weitgehenden Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen: mehr als 90 Prozent haben sich in den vergangenen beiden Wochen im ARD-DeutschlandTREND für die Einschränkungen ausgesprochen. Die Werte der Regierungszufriedenheit kletterten diese Woche auf ein neues Rekordniveau, seit infratest dimap 1997 diese Frage den Deutschen erstmals stellte. Mehrheitlich wird das Krisenmanagement gestützt, ausgenommen die Anhänger der AfD. Die Sehnsucht nach dem starken, sich kümmernden, zupackend handelnden Staat wird dieser Tage viel mehr befriedigt als im alltäglichen Klein-Klein und permanenten Austarieren von Kompromissen, das die deutsche Verhandlungsdemokratie sonst prägt.

Die ehemaligen Richter des Bundesverfassungsgerichts Paul Kirchhof und Hans-Jürgen Papier haben im Abstand von nur zwei Tagen den Finger mahnend erhoben: vorübergehende Einschränkung von Freiheitsprinzipien ja, aber mit einem eng definierten zeitlichen Horizont, reserviert für den außerordentlichen Krisenmodus. Kaum jemand geht so weit wie der italienische Philosoph Giorgio Agamben der – in der Tradition von Michel Foucault – die jüngsten politischen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie als weitere Verschärfung totalitärer Zugriffe auf das nackte Leben interpretiert. Slavoj Žižek geht dagegen davon aus, dass diese Interpretation pandemischer Maßnahmen, die unsere Freiheiten unzweifelhaft massiv einschränken, von der Logik der Sache her zu begründen seien; ein Virus müsse nun einmal so bekämpft werden, wie es die Natur eines Virus erfordere. Allerdings sollten die Quarantänemaßnahmen und das digitale Tracing von Infizierten in etablierten Demokratien nicht so autoritär ausfallen wie in China, sondern durch demokratische Rückkopplung, freiheitliche Transparenz und vor allem internationale Kooperation legitimiert werden.

Wie müsste eine demokratische Krisenpolitik aussehen für den Fall, dass die Krise länger andauert? Dann mutierte die Krise zur Normalität, dann müsste die Politik solche Maßnahmen ergreifen, damit wir in und mit der Pandemie leben, weil wir sonst nicht nur die Freiheit der Versammlung und der Bewegung dauerhaft einzäunen müssten, sondern auch die wirtschaftlichen Grundlagen unseres Wohlstandes und damit des uns materiell sichernden Wohlfahrtsstaates zerstören würden. Wie ein mögliches Weiterleben in der Pandemie aussehen kann, das zeigt die schwedische Krisenpolitik. Dort wird ebenso mit Verboten gegen die Ansteckungswelle vorgegangen. Allerdings wird dort (noch) nicht eine Bazooka in Stellung gebracht, weil dort der Zeitraum der exekutiven Krisenpolitik nicht in Wochen, sondern in Monaten durchdekliniert wird. Wer in solchen Zeiträumen denkt, der kann aus ökonomischen Gründen, aber auch aus Gründen der individuellen sowie kollektiven Gesundheit keine kontinuierliche Kollektiv-Quarantäne begründen.

Demokratien setzen auch außerhalb des Krisenmanagements auf Zwang – wer in unserer Demokratie lebt, wird – sofern er nicht entsprechende Schlupflöcher findet – zum Zahlen von Steuern gezwungen, muss sich bei einer Vielzahl von Aktivitäten an Regeln halten. Diese Regeln haben die Gesetzgeber in sämtlichen Politikfeldern mit erheblicher Regelungsdichte verordnet, auf der Grundlage demokratischer Regeln – und das heißt in Deutschland in der überwiegenden Mehrheit der Fälle gestützt auf oft mühsam hergestellten Mehrheiten. Freiheit in einer Demokratie ist dann gegeben, wenn die Bevölkerung Regelsetzungen und mit ihr einhergehende Einschränkungen der individuellen Freiheit als legitim anerkennt und die Einschränkungen transparent in einen demokratischen Prozess eingebunden sind. Und dies kann dann vor allem nachhaltig geschehen, wenn die Bürgerschaft die Legitimität der Zwangsmaßnahmen in einem öffentlichen Diskurs aus unterschiedlichen Blickwinkeln abwägt. Der Weg aus dem Krisenmodus wird demokratisch nur dadurch abgesichert werden können, dass alternative Wege in der Öffentlichkeit widersprüchlich debattiert werden. Der „virologische Imperativ“ des Augenblicks (Markus Gabriel) kann kein Ersatz für nachhaltige demokratische Verfahren sein – sonst drohen substanzielle Defekte an unserer Demokratie. 42 Prozent geben im aktuellen ARD-DeutschlandTREND an, sie würden sich Sorgen darüber machen, dass die Freiheitsrechte längerfristig eingeschränkt werden könnten. Der gegenwärtige Krisenkonsens kann sich bald als brüchig erweisen.

Demokratische Zielkonflikte sind oft kaum auflösbar, sie münden meist in Kompromissen. Die Zielkonflikte wie die Kompromisse gehören zum Wesenskern der Demokratie. Denn demokratische Politik ist stets und unausweichlich ein Abwägen unterschiedlicher Entscheidungsalternativen, auch wenn diese Alternativen mitunter fast alternativlos erscheinen oder zumindest als solche kommuniziert werden. Jede Entscheidung für eine Kurssetzung ist eine Entscheidung gegen eine alternative Route, jede Entscheidung bringt spezifische politische, wirtschaftliche und soziale Kosten-Nutzen-Relationen mit sich. Wer die öffentlichen Gesundheitsdienste bis an die Grenzen der Belastbarkeit mit einem Sparkurs verschlankt, der muss bei umsichtiger Betrachtungsweise davon ausgehen, dass dies vor allem für die einkommensschwächeren Schichten Probleme bei der Gesundheitsvorsorge hervorruft sowie deren Heilungschancen bei einer Vielzahl akuter und chronischer Krankheiten mindert.

Wir sehen, dass die Krise in benachbarten EU-Mitgliedsländern als willkommener Vorwand instrumentalisiert wird, demokratische Verfahren noch weiter auszuhebeln – siehe Ungarn. Diese Gefahr ist in Deutschland jedoch nicht wirklich in Sicht: die Mehrheit der Deutschen sind das, was Dolf Sternberger einmal als Verfassungspatrioten bezeichnet hat. Sie steht hinter der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und ihren Prinzipien, die vor allem im Grundrechtekatalog des Grundgesetztes zumindest als Anspruch formuliert sind.

Die Krise kann als Dystopie oder als Utopie gelesen werden. Letzteres geschieht dann, wenn sie als Quelle neuen solidarischen Zusammenstehens interpretiert wird. Viel wahrscheinlicher endet sie am ehesten im Zurückpendeln in einen demokratischen Alltag, der in mancherlei Hinsicht anders aussehen mag wie vor der Krise, in vielen Bereichen unseres Lebens und unseres politischen Systems aber dem Status quo ante ähneln wird. Sobald in der demokratischen Güterabwägung der Imperativ des Augenblicks bei der Eindämmung der Pandemie einseitig die Sicherheit obsiegen lässt, ist der Ausstieg aus der Krisenpolitik angesagt – bevor sie Gefahr läuft, als neuer Normalzustand wahrgenommen zu werden. Hierzu sind in den kommenden Wochen für die handelnden Akteure äußerst schmerzhafte Abwägungen notwendig sowie eine schonungslose Offenheit möglicher Konsequenzen staatlichen Handelns im Rahmen einer ausgewogenen öffentlichen Debatte, für die es höchste Zeit ist.

 

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