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Oliver Everling (Hrsg.): Social Credit Rating. Reputation und Vertrauen beurteilen

20.07.2021
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Autorenprofil
Prof. Dr. Rainer Lisowski
Wiesbaden, Springer VS 2020

Der von Oliver Everling edierte umfangreiche Band vermittle unserem Rezensenten Rainer Lisowski zufolge einen Gesamtüberblick über den derzeitigen Stand des Sozialkreditsystems (SCS) in China. Zu Wort kämen sowohl chinesische Experten als auch Beobachter aus Deutschland. Aufgezeigt werden Vor- und Nachteile des sich in der Pilotphase befindlichen SCS und es werde verdeutlicht, dass sich nicht nur Privatpersonen, sondern künftig auch westliche Unternehmen dem System unterwerfen müssen. Der Band sei eher ein Nachschlagewerk denn ein Sammelband mit „inhaltlich stets erkennbarer Linie“, lautet die Einschätzung Lisowskis. (ste)

Eine Rezension von Rainer Lisowski

Als vor ein paar Jahren die ehemaligen Chefredakteure des Economist, John Micklethwait und Adrian Wooldridge ihr Buch „The Fourth Revolution. The Global Race to Reinvent the State“ publiziert haben, dachten sie vermutlich noch nicht daran, wie drastisch die Veränderungen von Staat und Gesellschaft in Asien, und vor allen Dingen in China, tatsächlich ausfallen würden. Dabei waren die beiden Journalisten mit die ersten, die insbesondere auf die große technologische Experimentierfreude mit öffentlichen Verwaltungen in Asien hinwiesen.

Eine Art Flaggschiff-Projekt für den Umbau von Staat und Gesellschaft in Asien ist das sogenannte Sozialkreditsystem (Social Credit System, kurz SCS) in China. Dem SCS liegt – in knappen Sätzen beschrieben – die Idee zugrunde, dass für jeden Menschen und für jede Organisation Chinas ein Konto mit Kreditpunkten eröffnet wird. Wie beim Karma fließen für ‚gute‘ Taten (wie zum Beispiel pünktlich bezahlte Rechnungen; Spenden) Punkte auf das Konto. Für ‚negative‘ Taten (Straftaten; unerwünschte Äußerungen in der Öffentlichkeit) werden Punkte abgezogen. Das Konto wird dann wichtig, wenn man etwas möchte, worauf der Staat einen großen Einfluss hat: Reisen etwa oder der Besuch bestimmter Schulen durch die Kinder. Kurz gesagt: Wessen Konto kein entsprechendes ‚Wohlverhalten‘ wiederspiegelt, dem wird kein Zugticket ausgestellt. Tatsächlich ist das ganze Vorhaben deutlich komplexer als hier beschrieben, denn bis heute gibt es kein einheitliches SCS in China, sondern nur unterschiedliche Pilotvorhaben. Zudem muss unterschieden werden zwischen einer strafbewehrten ‚Blacklist‘ und einer belohnungsorientierten ‚Redlist‘ sowie zwischen dem staatlichen SCS und den privatwirtschaftlichen Ansätzen, die in ihrer Art eher der deutschen SCHUFA entsprechen. Derzeit steht all das noch weitgehend ungeordnet nebeneinander.

Ein „origineller Eigenbau“ (XVII) sei das „Social Credit Rating“, das System Made in China dennoch, so der Herausgeber im Vorwort. Dass es sich beim SCS um eine Neuerung handelt, etwas, das wir so noch nicht gesehen haben, ist insgesamt unbestritten. Auch wenn an anderer Stelle bereits argumentiert wurde, im Grunde handele es sich beim SCS um den Versuch, einen Jahrtausende gehegten Kontrollwunsch von Chinas Herrschenden in die Tat umzusetzen. So wurden zum Beispiel historische Querbezüge zu den Kaderakten für Beamte aus der Kaiserzeit bemüht. In der Gesamtbewertung scheint man sich in den Sozialwissenschaften im Westen noch nicht ganz sicher zu sein: Einige Beobachter sorgen sich naheliegender Weise um immer weiter eingeschränkte Freiheitsrechte von Chinesinnen und Chinesen. Andere erkennen in dem Vorhaben der chinesischen Regierung (neben der Absicherung ihrer Macht durch das System) aber auch den legitimen Versuch, die chinesische Gesellschaft stärker zu disziplinieren, mehr Rechtstreue zu erzwingen. So wird zum Beispiel auf die oftmals mangelhafte Durchsetzungsfähigkeit rechtlicher Sanktionsmechanismen in China verwiesen. So würden Bußgelder beispielsweise zu häufig ignoriert und Gerichtsurteile von zu vielen Menschen nicht beachtet. Wieder verkürzt gesprochen: Was bei uns der Hobbes’sche Leviathan über Jahrhunderte geleistet hat – die Disziplinierung (oder Sozialisierung) der Bevölkerung in einem bestimmten Rechtsrahmen – soll hier, umgestrickt auf die chinesischen Wertvorstellungen, in kürzerer Zeit gelingen. Wenn da nur nicht der potenziell totalitäre Charakter wäre. Oftmals findet man in der westlichen Rezeption des Themas Angst vor dystopischen Verhältnissen: vor einem Datensystem, das jeden einzelnen Menschen auf Schritt und Tritt überwacht, vor einem Staat, dessen Computeraugen alles sehen und penibel festhalten. Allerdings muss auch eine gehörige Portion Wasser in den Wein geschüttet werden, denn derzeit ist das chinesische System noch davon entfernt, jeden Menschen auf Schritt und Tritt verfolgen zu können. Vieles ist weit mehr Fiktion als Realität. Es ist noch nicht einmal gelungen, die zum Teil disparaten Daten der verschiedenen Ansätze des SCS überhaupt irgendwie zusammenzuführen. Dennoch: Die Richtung scheint vorgezeichnet – und während der Regierungszeit von XI Jinping wurde das politische Klima in China ja nicht eben freier.

Westliche Unternehmen, die auf dem chinesischen Markt aktiv sein wollen, haben keine Wahl. Sie müssen wissen, worum es beim SCS geht. Denn ebenso wie Privatpersonen sind künftig auch alle Unternehmen dem System unterworfen. Hier setzt Oliver Everlings im wahrsten Sinne des Wortes gewichtiges Werk (das Buch wiegt gut 1,3 Kilogramm) an. Das fast 700 Seiten starke Werk ist eher ein Kompendium zum Nachschlagen als ein Sammelband mit inhaltlich stets erkennbarer Linie. Die 36 einzelnen Kapitel sind grob in acht Blöcke unterteilt. Sie beleuchten das Vorhaben von nahezu jeder Seite. Was einerseits eine wirklich fundamentale Veröffentlichung ausmacht, andererseits aber den Leser/die Leserin am Ende doch etwas ratlos zurücklässt. Das Ganze ist eben mehr eine Art Nachschlagewerk, weniger eine systematische und in sich konsistente Abhandlung. Neben den zahlreichen versammelten Experten aus China wie DAI Xin und andere kommen auch manche langjährigen Beobachter Chinas aus Deutschland zu Wort, etwa der ehemalige Herausgeber der ZEIT, Theo Sommer oder die Würzburger Professorin Doris Fischer, ihrerseits ehemalige Sprecherin des renommierten Arbeitskreises Sozialwissenschaftliche Chinaforschung (ASC) der Deutschen Gesellschaft für Asienkunde (DGA).

Teil I („Chinas Social Credit Ranking“) bietet zum Einstieg einige ganz grundsätzliche Überlegungen zum Thema ‚Sozialkredit‘, etwa eine historische Analyse von SHI Xinzhong zur Entwicklung des Begriffs ‚Kredit‘ in China. Nach einer kurzen marxistischen Interpretation des Begriffes konstatiert der Autor, es habe spätestens seit den 1970er-Jahren angesichts einer „Nachfrage nach Reputation“ (28) einer Neuinterpretation des Terminus ‚Kredit‘ bedurft (ein entsprechender Vorschlag zu einem neuen Verständnis wird dann auch vorgestellt).

Teil II („Social Credit Rating Governance“) beschreibt grundsätzliche Rahmenbedingungen des chinesischen SCS. Marianne von Blomberg betrachtet etwa das oben bereits erwähnte Verhältnis von SCS zum chinesischen Rechtssystem und kommt zu dem Ergebnis, dass das System und das (derzeitige) Verständnis von Recht eher schwer in Einklang zu bringen sind. DAI Xin von der hoch angesehenen Peking University, der schon an anderer Stelle ausgiebig über das SCS publiziert hat, gibt eine Gesamtübersicht des derzeitigen Standes des SCS in China.

Teil III („Persönlichkeits- und Wettbewerbsrecht “) versucht den vergleichenden Blick: dort das chinesische SCS, hier das europäische Datenschutzrecht. Barbara Kirchberg-Lennartz, Datenschutzbeauftragte eines großen DAX-Konzerns, erinnert die Unternehmen zum Beispiel daran, dass sie beim Befolgen der chinesischen Regelungen die europäische Datenschutzgrundverordnung nicht komplett aus den Augen verlieren dürfen, da ansonsten auch hierzulande Bußgelder die Folge sein könnten (247).

In Teil IV („ Ethik im Social Credit Ranking“) werden verschiedene ethische Fragestellungen verhandelt. Dirk Schlotböller setzt sich beispielsweise direkt mit der Frage der Diskriminierung durch ein SCS auseinander. Wie viele andere Autorinnen und Autoren des Sammelbandes lautet auch bei ihm das Fazit: Das System kann – wie jede Innovation – Positives wie Negatives bewirken. Es kommt darauf an, ob es gegen Missbrauch gefeit ist (343 f.).

Teil V („Nachhaltigkeit im Rating“): Dieser Abschnitt springt aus der Betrachtung des Chinesischen SCS heraus und wendet den Blick stärker Richtung Westen. Henry Schäfer berichtet von den Versuchen, in Unternehmensratings vermehrt Nachhaltigkeitsfaktoren einfließen zu lassen. Ein allgemeines Strukturmodell solcher Ratings schäle sich zwar allmählich heraus, doch stamme dessen Analysebasis keineswegs aus demokratischer Deliberation, sondern speise sich zurzeit vor allem aus den Vorstellungen von NGOs (374 f.). Hier dürfte der Staat also langsam wach werden und mitreden.

In Teil VI („Methoden und Modelle zum Social Credit Ranking“) wird es wieder allgemeiner. Theresa Krause und Doris Fischer leiten überhaupt erst einmal die Bedeutung von Vertrauen für Märkte her (443 ff.) und grenzen das westliche Modell abstrakten Vertrauens gegen die relationalen Vorstellungen in China („Guanxi“) ab. Sie erkennen in dem Vorhaben durchaus einerseits den Versuch, im dramatisch-dynamischen Modernisierungsprozess Chinas verloren gegangenes, gesellschaftliches Vertrauen zurückzugewinnen, verschließen aber keinen Moment die Augen davor, dass das SCS schnell auch zu einer Atmosphäre der Angst und Unterdrückung führen könnte, wenn es missbraucht würde (449).

Teil VII („Funktionen und Anwendungsbeispiele“) beleuchtet die verschiedenen, bislang bekannten Ansätze für ein SCS. Zum Hintergrund: Chinas Regierung hatte verschiedene Regionen dazu aufgerufen, Pilotvorhaben zu starten. Typisch für den chinesischen Regierungs- und Verwaltungsstil wollte man zunächst austesten, was gut funktioniert und sich bewährt, bevor man im ganzen Land ein System etabliert.

Teil VIII („Ausblick“) bietet einen finalen Blick auf eine Weiterentwicklung und die Zukunft des Systems.

Fazit: Das Buch wendet sich in erster Linie an Praktiker, die einen umfänglichen Überblick suchen und dabei auch an fundamentalen rechtlichen, ökonomischen oder ethischen Einschätzungen interessiert sind. Da sich das System selbst noch im Aufbau befindet, kann das Buch jedoch kein finales ‚How-to‘-bieten. Für eine systematische sozialwissenschaftliche Analyse ist es vielleicht ein wenig zu inkonsistent und zu umfangreich, verursacht durch die vielen verschiedenen Perspektiven der Beitragenden. Hier wäre weniger vielleicht mehr gewesen.

 

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