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Hans-Jürgen Burchardt: Das Pandemische Manifest. Neun Schritte in eine zukunftsfähige Gesellschaft

20.12.2021
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Autorenprofil
Ph.D. Dr. Alfred Pfaller
München, Oekom 2021

In seinem „pandemischen Manifest“ entwickelt Hans-Jürgen Burchardt „die Grundzüge einer menschen- und umweltfreundlicheren Gesellschaftsordnung“, die, wie Rezensent Alfred Pfaller hervorhebt, nicht auf eine ferne Zukunft abzielten, sondern dazu gedacht seien, ein „unmittelbar in Angriff zu nehmendes Transformationsprogramm“ anzustoßen. Ebenso betont Pfaller Burchardts Überzeugung, dass mit politischem Willen umfassender Wandel möglich sei und die Pandemie hierfür die nötigen Voraussetzungen geschaffen habe. Rezepte, wie der Beharrungskraft des Bestehenden beizukommen sei, liefere das Werk allerdings nicht. (lz)

Eine Rezension von Alfred Pfaller

Das Unbehagen an der kapitalistischen Gesellschaft, den Lebensperspektiven, die sie für unterschiedliche Menschen mit sich bringt, und der Lebensweise, die mit ihr einhergeht, hat die kapitalistische Entwicklung von Anfang an begleitet. Und von Anfang an hat sie die Vorstellung eines gesellschaftlichen Fortschritts begleitet, der die eklatanten Unzulänglichkeiten des Kapitalismus – nach und nach oder in einem großen Umgestaltungsschub – beseitigt. Fortschritt in diesem Sinn ist bis heute Gegenstand gesellschaftspolitischer Programmatik und theoretischer Reflexion. Der Fortschrittsdiskurs, der die kapitalistische Entwicklung begleitete, projizierte wünschenswerte Alternativen zu der gelebten Realität und diskutierte Mittel und Wege, sie (a) „dem Kapital“ und seinen politischen Verbündeten abzutrotzen und sie (b) realitätstauglich und durchhaltbar zu machen. 

In groben Zügen ist der Argumentationsstrang des Manifestes wie folgt: 

  1.  In einer Reihe von Aspekten steht es nicht gut um unsere Gesellschaft. 

  2. Man kann dies unschwer zum Besseren wenden, wenn der politische Wille da ist. Es braucht dazu keine antikapitalistische Revolution, sondern eher ein Drehen an einigen Stellschrauben, vor allem steuerlichen und arbeitsmarktrechtlichen. 

  3. Die Corona-Pandemie bietet eine ausgezeichnete Gelegenheit, den Finger an die Stellschrauben zu legen. Sie hat ohnehin Selbstverständlichkeiten, die lange nicht in Frage gestellt wurden, mit der Kraft einer Flutwelle hinweg gerissen. Vor allem hat sie die überragende Bedeutung des Staates, des zentralen Exekutivorgans der Gesellschaft, neu sichtbar gemacht. 

Das „pandemische Manifest“ geht nacheinander auf die Hauptbereiche ein, in denen staatliches Handeln vonnöten ist, um das Wohl der Gesellschaft und ihrer Menschen außerhalb des Marktes, und mitunter gegen das unkontrollierte Marktgeschehen beziehungsweise gegen die Interessen mächtiger Marktakteure, durchzusetzen: das Bildungswesen, die Organisation der Gesundheitsfürsorge, die Rahmenbedingungen für den Arbeitsmarkt, den Anstoß für eine andere Dynamik der Vermögensbildung, den Umgang mit verwertbarem Wissen, die Rahmenbedingungen für die Bereitstellung von Nahrungsmitteln, den Schutz der natürlichen Lebensbedingungen. Es mahnt Weichenstellungen an, die allesamt von einem politisch artikulierten Mehrheitswillen eingeleitet und dann durch Regierungshandeln vorgenommen werden können. Es plädiert auch für eine Weltinnenpolitik, die auf Kooperation zur Bewältigung globaler Herausforderungen setzt und Machtrelationen zwischen den Staaten den unbedeutenden Platz zuweist, der ihnen eigentlich zukommen sollte.

In diesem Sinn kann es als Appell an unseren politischen Souverän, das deutsche Volk, und an die, die seine Willensbildung beeinflussen: Politiker, Medien und andere „Influencer“, verstanden werden. Hier freilich lässt sich die Metapher vom Rufer in der Wüste kaum beiseiteschieben. Burchardts Flugschrift bräuchte viel mehr mediale Resonanz. So wird das „pandemische Manifest“, das die Blaupause für eine nicht-utopische, rundumerneuerte und unschwer erneuerbare, nach wie vor auf Privatunternehmertum und Markt setzende Gesellschaft unterbreitet, wohl eher ein Indikator der neoliberalen „Götterdämmerung“ bleiben als den Anstoß geben, der die Dinge in die angezeigte Richtung in Bewegung setzt. Es ist – leider – anzunehmen, dass unsere Gesellschaften noch geraume Zeit mit dem gelobten Land vor Augen leben, in dieses aber (noch?) nicht vordringen werden. Um ein anderes Bild zu gebrauchen: Die Schwerkraft der gewohnten, in ein Interessen- und Machtgefüge eingebauten Realität wird es wohl noch auf einige Zeit verhindern, dass wir uns aus ihr herauslösen.

Burchardts Plädoyer ist nicht darauf angelegt, die Schwerkraft jener gesellschaftlichen Realität gedanklich in den Griff zu bekommen, für deren Veränderung er plädiert. Anders als zum Beispiel Marc Saxer in seinem jüngst erschienenen Buch „Transformativer Realismus“ geht Burchardt nicht auf die Wege ein, wie diese Schwerkraft zu überwinden ist. Er nimmt die Position des plädierenden Ökonomen ein und sagt „wir können, wenn wir nur wollen“. Wie man die politisch organisierte, von durchsetzungsfähigen Interessen geprägte Gesellschaft dazu bringt, auch effektiv zu wollen, diese Frage wird weder beantwortet noch überhaupt aufgeworfen. Allerdings basiert das „pandemische Manifest“ auf der hoffnungsvollen Vermutung, dass die Voraussetzungen jetzt besonders günstig sind für eine menschen- und naturfreundliche und damit zukunftsfestere Neujustierung der kapitalistischen Gesellschaften.

 

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Externe Veröffentlichungen

Hans-Jürgen Burchardt / 30. 04.2020

IPG-Journal

 

Hans-Jürgen Burchardt / 06. 05.2020

Bundesministerium für Bildung und Forschung

 

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