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George Packer: Die letzte beste Hoffnung. Zum Zustand der Vereinigten Staaten

15.02.2022
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Autorenprofil
Dr. Arno Mohr
Hamburg, Rowohlt Verlag 2021

George Packer stellt in „Die letzte beste Hoffnung. Zum Zustand der Vereinigten Staaten“ die vier unterschiedlichen Erzählungen dar, was jenes aktuell von Krisen geschüttelte Amerika aus den unterschiedlichen Perspektiven der seit der Nachkriegszeit auseinanderdriftenden Gesellschaft eigentlich ist: entweder frei, smart, wahr oder gerecht. Ebenso präsentiert der US-Autor die Einsicht: Wo die Gefahr wächst, ist auch das Rettende angelegt. So heiße es, sich nun auf den Geist des self government zu besinnen. Arno Mohr ist dem für uns in seiner Rezension nachgegangen. (tt)

Eine Rezension von Arno Mohr

„Die letzte beste Hoffnung“ – Wer hier spricht, ist nicht nur George Packer, sondern auch eine, vielleicht die, Ikone des amerikanischen Gemeinwesens: Abraham Lincoln. In seiner jährlichen Botschaft an den Kongress vom Dezember 1862 verwendet Letzterer diese Worte „the last best hope of earth“, um anzudeuten, dass in dieser Formel jener ‚American Spirit‘ eingeschrieben ist, der in seiner klassischen Selbstdeutung das Exzeptionelle der amerikanischen Regierungsweise zum Ausdruck bringt, nämlich die berühmte Formel: „government of the people, by the people, for the people“. Eigentlich darf es keine Parteien, Fraktionen oder Faktionen geben. Oder wie Thomas Jefferson es ein halbes Jahrhundert zuvor angemahnt hatte: Differenzen darf und soll es schon geben, aber es gilt der Blasphemie vorzubeugen: „every difference of opinion, is not a difference of principle“, das heißt: „we are all republicans – we are all federalists.“ Wenn wir Amerikaner dieser Botschaft willentlich entraten, dann gehen wir zugrunde, dann gehen wir selbst durch unsere eigenen Hände zugrunde. Wir, nicht eine andere Macht, richten uns selbst, als „eine Nation freier Menschen“, zugrunde. Diese Prophezeiung entstammt erneut dem Munde Lincolns, George Packer erachtet diese als zitierenswert in seinem „Vorwort“, wenn er seine Scheinwerfer auf den Zustand seines Landes wirft.

Die amerikanische Gemütsverfassung im Jahre 2020 – dem Jahr übrigens, in dem Packer zufolge es „zum schamlosesten Versuch [kam], „die Demokratie abzuschaffen“ (23) – glich einem Menschen, der orientierungslos durch die Gegend stakste, ohne Sinn und Verstand, ohne ein Ziel ins Visier zu nehmen, weil ihm der Mut und der Wille dazu abhandengekommen waren. Der Sozialraum, in dem er sich bewegte, ist der hochgiftige, penetrant stinkende Ausfluss der Erbschaft des Trump'schen Regierens. Diese bereitet Packer Sorge, große Sorge. Alle Grundsätze, die die amerikanische Demokratie auszeichnen, von denen viele andere Länder profitiert haben, sind in den vier Jahren der Trump-Präsidentschaft hinweggefegt worden. Durch die Missachtung der heiligen Institutionen, die Kaperung des Staatsapparates durch eine solipsistische machtbesessene politische Klasse, die mittels Betrügereien, Unwahrheiten, Tricksereien, Schaumschlägerei, Charakterlosigkeit, Schamlosigkeit und vieles andere mehr vermochte, ihre Verantwortungslosigkeit gegenüber dem amerikanischen Volk bis ins Extreme zu steigern.

Ihre fanatische Anhängerschaft wusste dies zu schätzen. Es war die Pandemie, die es ‚geschafft‘ habe – Packer nennt diesen Vorgang: das Virus habe uns „ein Geschenk gemacht“, weil es uns gezwungen habe, „den Blick auf uns selbst zu richten“ (12) –, die selbstindizierte Destruierung des Landes in zwei Lager anzuheizen beziehungsweise real werden zu lassen. Der Riss durch die Nation gehe zwischen dem „blauen“ Amerika (die Koalition der Demokraten), das für Wandel, und dem „roten“ Amerika (die Koalition der Republikaner), das für Restauration steht (166). Beide befänden sich in einem „kalten Krieg“, stünden sich wie in einem „heißen Krieg“ gegenüber. (23 ff.). Schon allein ein solcher Gedankengang indiziert, dass dieses ideelle Amerika verloren gegangen ist. Es ist usurpiert worden durch eine Regierungsmaschinerie, die sich die Nation für ihre eigenen schmalspurigen, egoistischen und unwürdigen Zwecke gleichsam als Privateigentum aneignete. Waren die vier Jahre der Trump-Administration schon im Ganzen für amerikanische Demokratie- und Verfassungsfreunde eine Zumutung, dann haben sowohl die Pandemie als auch die sichtbare Polizeigewalt gegen Schwarze und der damit einhergehende Rassismus dafür gesorgt, dass sich aus einer Präsidentschaft ein furor praesidialis Bahn brach, wie er zuvor in den USA noch nie in Erscheinung getreten war.

Die Ortsbestimmung, die George Packer über sein Land vor seiner Agonie in der Trump-Ära liefert, differenziert er in vier „Narrativen“: das „Freie Amerika“ (84 ff.), das „Smarte Amerika“ (102 ff.), das „Wahre Amerika“ (117 ff.) und das „Gerechte Amerika“ (138 ff.). Diese vier Gesichter – Packer nennt sie „Narrative“ – seien entstanden, weil Amerika der Aufgabe nicht gewachsen war, nach dem Krieg „aus einer Mittelschicht-Demokratie [...] eine Demokratie werden zu lassen“, eine „catch-all-democracy“, die für alle „liefer[e]“. Gemeint sind faktisch auch „alle“: die unterdrückten Schwarzen, die Kranken und Gebrechlichen, die sich eine Krankenversicherung nicht leisten konnten und können; die Arbeitslosen (insbesondere die Industriearbeiter aus den niedergehenden Produktionszweigen), die keinen Schutz vor Unternehmer-Willkür einfordern konnten und können; die Obdachlosen, an die niemand dachte und denkt und die ihr kümmerliches Dasein fristen; die Indigenen, die man von vorne bis hinten betrog und weiterhin an den Rand der Gesellschaft drängt. Sie alle fallen aus dem Raster des Gleichheitsgrundsatzes, alle gegensätzlichen Beteuerungen sind das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt sind. Das „Freie Amerika“ Packers ist charakterisiert durch die ungehinderte Energie des individuellen „pursuit of happiness“. Das „Smarte Amerika“ gebe viel auf Intelligenz und poche auf Veränderungen. Das „Wahre Amerika“ identifiziere sich mit einem begrenzten Ort, wolle also „geerdet“ sein. Und das „Gerechte Amerika“ fordere „die Auseinandersetzung mit dem, was die anderen vermeiden wollen.“ (157)

Diesen vier essentials ist nach Packers Auffassung ihr Verderben immanent. Sie tendieren in bestimmten Lagen dazu, der Spaltung des Landes Vorschub zu leisten, „einen Stamm gegen den anderen zu stellen“ (157). Der Glaube an sie sei im vergangenen halben Jahrhundert geschwunden. Amerika sei von einer ‚normativierten‘ Gleichheit in eine tatsächliche Ungleichheit abgedriftet, nicht nur im materiellen Sinne, sondern in gleichem Maße hinsichtlich des sozialen Anerkanntseins der deprivierten Gesellschaftsschichten. Überhaupt spielt der Begriff der „Gleichheit“ bei Packer eine besondere Rolle. Er steht hier ganz unter dem Einfluss von Alexis de Tocqueville, auch wenn Packer dies nicht immer zum Ausdruck bringen muss. Tocquevilles berühmtes Buch über die Demokratie in Amerika von 1835 (1. Bd.) und 1840 (2. Bd.) bezeichnet der Autor gar als „das klügste Buch zum Thema“ (245). Der französische Aristokrat hatte erkannt, dass es die ‚Gleichheit der Bedingungen‘ (egalité des conditions) ist, die in Amerika die Demokratie trägt, mithin der gleiche Zugang zu den Lebenswelten, die individuelles Glück und individuellen Wohlstand zu begünstigen vermögen. Im politischen Sinne bietet der Gleichheitsgrundsatz nicht nur die Möglichkeit, sich an der Regelung der Angelegenheiten zu beteiligen, die alle angehen, sondern bedeutet vielmehr auch das Recht dazu innezuhaben. Darin manifestiere sich die Freiheit, weil so niemand eine tyrannische Macht ausüben könne. An diese Gedankengänge knüpft Packer an im Kapitel über „Das gleiche Amerika“ (160-183): An einer Stelle spricht der Autor von der Gleichheit als dem „verborgene[n] Code Amerikas“ (177), konkretisiert im „Wunsch, jedermann ebenbürtig zu sein“ (das heißt freilich nicht, dass die Menschen gleich sein sollen). Das, was wir in Deutschland „Gleichheit vor dem Gesetz“ nennen, ist hiermit in Amerika weniger angesprochen als vielmehr ein, wie Packer es nennt, „instinktiver Egalitarismus“ (178).

George Packer sieht natürlich, wie Tocqueville auch, die großen Gefahren von „Gleichheit“. Ihre Übersteigerung lässt sich mit der Atomisierung der Gesellschaft gleichsetzen. Alles ist im Fluss, und alte Bindungen brechen auf, Verpflichtungen außerhalb des persönlichen Feldes besitzen keinen Stellenwert mehr. Ein solches extremes Gleichheitsgefühl setze von Natur aus Kräfte frei, die zu ebensolcher Ungleichheit führten. Niemand fühle sich mehr für die Ausgestoßenen und Unterprivilegierten zuständig. Packer meint sogar, diese Entwicklung könne in eine „neue Aristokratie“ münden (181). Trotzdem insistiert der Autor auf der Unabdingbarkeit der Existenz von Gleichheit für das Gelingen einer Demokratie. Diese bestehe eben nicht nur „aus Pergament und Marmor“, sondern gehe auf in dem, was Dolf Sternberger einst als „lebende Verfassung“ bezeichnet habe (ebenda). Bei Packer heißt das sinngemäß: „Selbstregierung ist Demokratie in Aktion“. Self government ist also das Zauberwort Packers, in dem jene „Demokratie in Aktion“ ihren Kulminationspunkt erreicht. Dieses Prinzip gründe auf der Fähigkeit zu streiten, zu debattieren, zu überzeugen, dem Gegenüber zuzuhören sowie auf dem Erfordernis, Kompromisse zu schließen (15 f.).

Man merkt den traurigen, gelegentlich resignierten Unterton in Packers Ausführungen: Wie weit ist es mit seinem Land nur gekommen? Dabei wollten die Amerikaner doch die Demokratie! (210) Amerika sei kein „Licht [mehr] für andere Völker“. Es sei instabil, und die bewährten Institutionen würden infrage gestellt. „Und da uns niemand zu Hilfe kommen werde, müssen wir uns selbst aus dem Sumpf ziehen“ (19). Die Rettung liege darin, sich auf den Geist des self government zu besinnen (211). Wir müssten aber diese „Kunst der Selbstregierung“ (Tocqueville) wieder erlernen. Das gelingt aber nur, wenn die Bedingungen der Möglichkeit von Gleichheit wieder ins Werk gesetzt würden (211). Das Eine schaffe das Andere. Ein schwieriges Unterfangen für ein desillusioniertes, um nicht zu sagen, segregiertes Land! Fast schon ein tautologisches Konstrukt.

Packers Buch ist keine Jeremiade auf die Vereinigten Staaten von Amerika. Der Optimismus, den Packer immer wieder versprüht, seine von Zuversicht getragene Seelenlage, ist dem Buch sehr zugute gekommen. Es unterscheidet sich wohltuend von zahlreichen, lediglich nach Aufmerksamkeit haschenden oberflächlich gearbeiteten literarischen Schnellschüssen. Man kann indes natürlich über viele Einsichten des Autors trefflich streiten. Aber: Auch Einsichten, die man nicht teilt, haben ihren guten Zweck – sie zwingen zum Überprüfen der eigenen Position. So definiert sich wohlverstandene Kritik. Die braucht das Riesenland jetzt, und man kann George Packer und vielen anderen Amerikanern auch nur wünschen, dass Amerika den Weg aus seiner größten Krise nach dem Bürgerkrieg mit Anstand und Würde finden wird.

 

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