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Gunilla Budde (Hrsg.)

Kapitalismus. Historische Annäherungen

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011; 191 S.; 24,95 €; ISBN 978-3-525-30131-9
Dass der Sammelband eine klaffende Lücke im deutschen Sprachraum füllt, sagt viel über das Verhältnis der deutschen Sozialwissenschaften zum Begriff des Kapitalismus aus. Während „capitalism“ im Englischen weitgehend selbstverständlich als analytische Kategorie verwendet wird, haftet dem Terminus im Deutschen zumeist eine implizite ideologische und politisch aufgeladene Dimension an und fristet gegenüber Begrifflichkeiten wie etwa der Marktwirtschaft eher ein Schattendasein. Dass die Schwierigkeiten, von „Kapitalismus“ zu sprechen, gleichsam aber den Blick auf wesentliche Fragestellungen und analytische Erkenntnisse versperren, zeigt nicht nur der Beitrag Jürgen Kockas, anlässlich dessen Verabschiedung als Hochschullehrer die meisten Artikel dieses Buches entstanden sind: „[D]er Kapitalismus-Begriff zwingt geradezu zum Blick über die Marktmechanismen hinaus, auf ihren Kontext, auf ihre sozialen, kulturellen und politischen Bedingungen und Folgen“ und wirke so „der letztlich kognitiv unproduktiven Aufspaltung der Wirklichkeit in voneinander getrennte Analysesegmente entgegen“ (178). Die Autoren folgen in ihren Beiträgen allesamt dieser Einschätzung und legen in historischer und interdisziplinärer Perspektive dar, wie Kapitalismus in unterschiedlichen Lebensbereichen geschaffen, er- und gelebt wird. So zeigt zum Beispiel van der Linden in einer globalgeschichtlichen Betrachtung, dass die gängige Verknüpfung von Kapitalismus und freier Lohnarbeit eine verkürzende Sicht darstellt. Der Kapitalismus habe seine Entwicklung bis heute vielmehr einem variierenden Zugriff auf unterschiedliche Arbeitsformen zu verdanken, die nicht zuletzt auch Sklaverei oder Haus- und Erziehungsarbeit einbeziehen. Dementsprechend müsse auch der Begriff der Arbeiterklasse neu und umfassender gedacht werden. Frevert zeigt in einem anderen schönen Beitrag, dass Gefühle entgegen der landläufigen Meinung nicht als Gegenstück zur kapitalistischen Rationalität verstanden werden dürften, sondern im Gegenteil ein wesentliches Element kapitalistischer Entwicklung darstellten. „Die Geschichte des Kapitalismus ist […] noch nicht geschrieben“ (15) – das Buch bietet jedoch mindestens einen lohnenswerten Anknüpfungspunkt.
Björn Wagner (BW)
Dipl.-Politologe, Doktorand und Lehrbeauftragter, Universität Jena.
Rubrizierung: 2.22 | 2.2 | 2.23 | 2.3 Empfohlene Zitierweise: Björn Wagner, Rezension zu: Gunilla Budde (Hrsg.): Kapitalismus. Göttingen: 2011, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/34227-kapitalismus_41073, veröffentlicht am 29.03.2012. Buch-Nr.: 41073 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken