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Philipp-Christian Wachs

Der Fall Theodor Oberländer (1905-1998) Ein Lehrstück deutscher Geschichte

Frankfurt a. M./New York: Campus Verlag 2000; 533 S.; geb., 78,- DM; ISBN 3-593-36445-X
Geschichtswiss. Diss. München; Gutachter: M. Wolffsohn. - Die Frage nach der Rolle von Adenauers Vertriebenenminister Oberländer (1953-1960) im Nationalsozialismus und im Zweiten Weltkrieg ist bereits zu früheren Zeitpunkten der Gegenstand von verschiedenen Untersuchungen in Wissenschaft, Publizistik und Justiz gewesen. Konkret ging es hierbei vor allem um die Vorwürfe, Oberländer habe sich als Offizier aktiv am Pogrom von Lemberg sowie an weiteren Kriegsverbrechen im Kaukasus beteiligt. Wachs greift diese Thematik umfassend auf und versucht, "durch einen gründlichen, unvoreingenommenen Blick in alle verfügbaren Quellen eine erneute, inhaltliche Prüfung des Falles Oberländer vorzunehmen" (17; Hervorhebung im Original). In der Tat konnte der Autor seine wissenschaftliche Abhandlung auf der Basis einer Fülle von bislang nicht zugänglichen und ausgewerteten Quellen und Dokumenten anfertigen, was in der Gesamtschau zweifelsohne ein Novum darstellen dürfte. Insbesondere durch die Einsichtnahme in zahlreiche Schriftstücke aus der DDR - in der Oberländer 1960 in einem Schauprozess in Abwesenheit schuldig gesprochen und zu lebenslanger Haft verurteilt worden war, was schließlich mit zu seinem Rücktritt vom Regierungsamt in der Bundesrepublik beitrug - gelingt es dem Verfasser, neue Erkenntnisse über die Instrumentalisierung des "Falles Oberländer" durch den Osten zu erarbeiten und insgesamt ein weitgehend differenziertes Bild über die Person Oberländer zu zeichnen. Ergänzt wurde die intensive Archivarbeit (die sich auch auf das Studium und die Auswertung von Akten und Dokumenten aus dem Dritten Reich sowie von Prozessunterlagen aus der Bundesrepublik erstreckt) durch Gespräche mit Zeitzeugen, allen voran Oberländer selbst, mit dem der Autor bis wenige Tage vor dessen Tod im Sommer 1998 regelmäßig kommunizierte und der - an seiner Rehabilitierung interessiert - Wachs Einsicht in seine Tagebuchaufzeichnungen und in diverse private Schriftstücke gewährte. Trotz dieser "Nähe" zum Objekt der biografischen Studie unterzieht der Verfasser die Aussagen Oberländers zumeist einer kritischen Prüfung im Lichte aller heranziehbaren Quellen. Im Ergebnis entlastet Wachs Oberländer im Hinblick auf den Vorwurf der Beteiligung an Kriegsverbrechen, räumt aber offen ein, dass eine eindeutige Bewertung seiner akademischen und politischen Rolle im Dritten Reich als "Ostlandforscher" ein schwieriges Unterfangen darstellt: "Doch Mitwirkung bedeutet immer auch einen Grad an Mitverantwortung - bis zur Mitschuld." (496) Die sehr lesenswerte Untersuchung, die in einem lebhaften, bisweilen recht modernen Erzähl- und Sprachstil verfasst ist, hat in der Tat ein "Lehrstück deutscher Geschichte" zum Gegenstand: Durch die Verzahnung der Person und des Wirkens Oberländers mit einer Zeitspanne, die sich von der Weimarer Republik über das Dritte Reich bis in die Frühgeschichte der Bundesrepublik und der DDR erstreckte und in deren Verlauf er spätestens seit dem Beginn der 30er-Jahre an einer exponierten Stelle stand, gewinnt der politisch und historisch interessierte Leser auch eine Fülle von Eindrücken über diese einzelnen Phasen sowie insbesondere den Übergang zwischen ihnen. Besonders hervorhebenswert ist überdies die Darstellung der Rolle der Justizsysteme im "Fall Oberländer" in der DDR und in der Bundesrepublik - hier noch bis in die 90er-Jahre hinein -, die trotz der Entlarvung des DDR-Unrechtssystems auch im Blick auf die west- bzw. gesamtdeutsche Justiz nicht unkritisch ausfällt. Weiteren Auflagen ist für die Erleichterung der wissenschaftlichen Arbeit mit dem Buch die Ergänzung um ein Personenverzeichnis zu wünschen.
Axel Lüdeke (AL)
Dr., Politikwissenschaftler.
Rubrizierung: 2.331 | 2.312 | 2.313 | 2.35 | 2.314 Empfohlene Zitierweise: Axel Lüdeke, Rezension zu: Philipp-Christian Wachs: Der Fall Theodor Oberländer (1905-1998) Frankfurt a. M./New York: 2000, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/11906-der-fall-theodor-oberlaender-1905-1998_14207, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 14207 Rezension drucken