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Helga Schultz / Angela Harre (Hrsg.)

Bauerngesellschaften auf dem Weg in die Moderne. Agrarismus in Ostmitteleuropa 1880 bis 1960

Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2010 (Studien zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Ostmitteleuropas 19); 296 S.; brosch., 46,- €; ISBN 978-3-447-06272-5
Der „Agrarismus trat als Gegenkonzept auf den Plan, als die Industrielle Revolution Institutionen, Werte und Strukturen der traditionellen Agrargesellschaften umwälzte“ (9), erläutert Helga Schultz einleitend. Er sei der Industrialisierung der westlichen Moderne entgegengesetzt worden und damit als alternativer Modernisierungsdiskurs zu verstehen. Der Agrarismus habe insbesondere im östlichen Europa Wurzeln schlagen können. „Dies war die Region mächtiger Bauernparteien“ (10), einer politischen Strömung, deren Blütezeit mit dem Zweiten Weltkrieg endete. Sie steht im Mittelpunkt der Beiträge, die ein Ergebnis eines von der Volkswagen-Stiftung an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder geförderten Projektes sind. Vermittelt wird ein erster Überblick über eine zumeist konservative Bewegung, deren Ziele zunächst in der Beseitigung feudaler Abhängigkeit und Erlangung von ausreichendem Eigentum an Boden bestanden. Außerdem wurde ein Zugang zu Kredit und Markt angestrebt und später auch die politische Teilhabe durch allgemeines Wahlrecht und Selbstverwaltung. In der Tschechoslowakei, Polen und den baltischen Staaten sei das demokratische Potenzial dieser Bewegungen unübersehbar gewesen, schreibt Angela Harre. In Ungarn dagegen verfolgten die einflussreichen Eliten des Landes eine depolitisierende Strategie, wie Zsombor Bódy in seiner Analyse zeigt, „die durch das Ausschalten der Konflikte auf die Konservierung der gegebenen Sozialordnung zielte“ (116). In anderen Ländern zeigte sich eine hohe Affinität zum Autoritarismus und zum Faschismus, dies wird in verschiedenen Beiträgen deutlich. Einbezogen in diese Betrachtung werden mit einem Beitrag auch die autoritär-faschistischen Diktaturen in Italien, Portugal und Spanien in der Zwischenkriegszeit. Spätestens mit dem Zweiten Weltkrieg und unter dem anschließenden Druck der stalinistischen Regime verlor der Agrarismus seine Bedeutung, der Betrachtungszeitraum endet mit den staatlich verordneten Kollektivierungen. Angeschlossen werden könnte allerdings eine für die Gegenwart wichtige Frage – ob und inwieweit in den noch immer agrarisch geprägten Ländern Osteuropas, die nunmehr Mitglieder der EU sind, Gedanken des Agrarismus noch eine politische Wirkung entfalten können.
Natalie Wohlleben (NW)
Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
Rubrizierung: 2.22 | 2.2 | 2.61 | 2.62 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Helga Schultz / Angela Harre (Hrsg.): Bauerngesellschaften auf dem Weg in die Moderne. Wiesbaden: 2010, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/33542-bauerngesellschaften-auf-dem-weg-in-die-moderne_40136, veröffentlicht am 09.06.2011. Buch-Nr.: 40136 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken