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Oliver Marchart

Die Prekarisierungsgesellschaft. Prekäre Proteste. Politik und Ökonomie im Zeichen der Prekarisierung

Bielefeld: transcript Verlag 2013 (Gesellschaft der Unterschiede 8); 247 S.; kart., 22,99 €; ISBN 978-3-8376-2192-1
Der mittlerweile zu unbestrittener Prominenz gelangte Prekarisierungsbegriff dient nicht mehr länger nur der Beschreibung einer Abweichung vom ‚Normalarbeitsverhältnis‘, sondern scheint verstärkt gesellschaftsdiagnostische Züge anzunehmen. Hier setzt Oliver Marchart an, wendet sich aber gegen ein reduktionistisches Verständnis von Prekarisierung als Synonym für eine ‚neue Unterschicht‘. Vielmehr sei es aus gesellschaftsanalytischer Sicht sinnvoll, „unter Prekarisierung einen tendenziell die Gesamtheit sozialer Verhältnisse umfassenden oder diese prägenden Prozess [zu] verstehen“ (25). Dies ist dadurch bedingt, dass die Abnahme von unbefristeter Vollzeitarbeit neue Formen sozialer und rechtlicher Ein‑ und Ausschlüsse produziert. Damit „tritt das Phänomen der Prekarisierung gleichsam über die Ufer der Arbeitswelt und beginnt in soziale Verhältnisse einzusickern“ (9). Marchart führt zunächst in vier für sein Anliegen relevante Ansätze ein (Regulationstheorie, Gouvernementalitätsstudien, Postoperaismus und pragmatische Soziologie), bevor er sich einer diskursanalytischen Hegemonietheorie als „integrierende Matrix“ (85) dieser Ansätze zuwendet. Auf dieser Basis wird im empirischen Teil die EuroMayDay‑Bewegung untersucht und gezeigt, wie über den Prekaritätsbegriff der Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Ausbeutungsverhältnissen hergestellt wird. Entscheidend ist dabei die „Selbstinfragestellung und Entsubjektivierung“ (211), die die EuroMayDay‑Bewegung – wie auch andere Prekarisierungsproteste – von klassischen sozialen Bewegungen unterscheidet („postidentitäre soziale Bewegungen“, 220). Der Protest gegen die Prekarisierung unserer Lebensverhältnisse mache eine solche Selbstreflexion deshalb notwendig, weil wir als Subjekte „mit unseren Handlungen in unsere eigene Objektivierung verstrickt“ sind und folglich „gegen unsere eigene Subjektivierungsweise protestieren“ (227) müssen. Dies wird am Beispiel der Prekarisierung, in der politische, ökonomische und gesellschaftliche Entwicklungen mehr denn je verflochten sind, besonders deutlich. Marchart schließt folglich mit einem Ausblick auf die demokratietheoretische Bedeutung, auf die der postidentitäre Charakter von Protesten in der „Prekarisierungsgesellschaft“ verweist: Wo der Protest gegen eine spezifische Entwicklung notwendigerweise sämtliche Identitäten und Lebensbereiche einschließt (und hinterfragt), kann den „Ausgang aus der Postdemokratie [...] nur ein hegemoniales Projekt integraler Demokratisierung weisen“ (230).
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Rubrizierung: 5.422.22 Empfohlene Zitierweise: Björn Wagner, Rezension zu: Oliver Marchart: Die Prekarisierungsgesellschaft. Bielefeld: 2013, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/38231-die-prekarisierungsgesellschaft_43412, veröffentlicht am 02.04.2015. Buch-Nr.: 43412 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken