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Özay Mehmet

Fundamentalismus und Nationalstaat. Der Islam und die Moderne. Aus dem Englischen übersetzt von Uwe Ahrens

Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2002; 355 S.; kart., 16,- €; ISBN 3-434-46104-3
Der Grund für die Neuauflage dieses Buches, das in der englischsprachigen Originalausgabe 1990 und auf Deutsch erstmals 1994 erschien, dürfte bei den Ereignissen des 11. September zu suchen sein. Seit den islamistisch motivierten Terroranschlägen ist in der westlichen Welt das Interesse am Islam und seinen politischen Implikationen deutlich gewachsen. In diesem Buch fragt der Autor, er ist Professor of International Affairs an der Carleton University in Kanada, warum große Teile islamischer Gesellschaften in Armut leben. Seine Analyse hält allerdings strengen wissenschaftlichen Kriterien nicht stand: Mehmet entwickelt seine Lösungsansätze von der festen Vorgabe ausgehend, dass nur im Einklang mit dem Islam eine Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen erreicht werden könne. Denn bisher, so der Autor, sei die islamische Unterentwicklung hauptsächlich auf eine fehlende Tradition konstruktiver Gesellschafts- und Sozialpolitik zurückzuführen. Die Bedeutung der politischen Systeme und Fragen der politischen Beteiligung klammert Mehmet dabei auffallend aus; er konzentriert sich allein auf wirtschaftliche Fragen. Als Beispiel dienen ihm dabei die Türkei und Malaysia. In beiden Ländern zeichnet er das Versagen des Staatskapitalismus nach, der der eigentliche Schuldige an der aktuellen Unterentwicklung sei, nicht der Islam. Mit dem Staatskapitalismus sei auch der Säkularismus gescheitert (66). Das Wiederaufleben des Islam - gemeint sind islamistische Bewegungen und nicht die private Religiosität - sei in erster Linie die Reaktion der Bevölkerung auf unerfüllte Hoffnungen. Der Autor erwähnt dabei leider nur in einem Satz, dass die aus Saudi-Arabien, Kuwait und Libyen fließenden Petro-Dollars "eine gewisse Rolle" bei der Ausbreitung der islamistischen Bewegungen spielen. Mittlerweile ist bekannt, dass diese gewisse Rolle einen erheblichen Anteil bedeutet. Es erscheint also aus heutiger Sicht nicht akzeptabel, diesen Aspekt in einem Satz abzutun. Denn nicht unerheblich dürfte die Frage sein, welche Rolle diese Bewegungen bis hin zu den terroristischen Gruppen ohne dieses Geld spielen würden. Das Buch hätte, einen ernst gemeinten wissenschaftlichen Ansatz vorausgesetzt, in diesem Punkt für die Neuauflage einer Überarbeitung bedurft. Wie aber, um auf die zentrale Frage des Buches zurückzukommen, kann die Unterentwicklung behoben werden? Das Konzept der westlichen Welt, in der sich der Nationalstaat als Träger einer Politik am nationalen Wohlstand orientierte (9), hält der Autor nicht für einfach übertragbar, weil ein Muslim aufgrund des umfassenden Anspruchs seiner Religion vor allem ein Muslim sei und höchstens an zweiter Stelle der Bürger seines Staates. Denkbar sei aber eine "instrumentale Staatstheorie". Der Staat leite seine Legitimität daraus ab, "dass er ökonomische Ungleichheit und soziales Unrecht überwindet und seine Verantwortlichkeit gegenüber den Bürgern ernst nimmt" (8). Gleichzeitig kritisiert der Autor die kapitalistische Wirtschaftsform von einem marxistischen Standpunkt aus (109), sodass sein tatsächlicher Lösungsansatz ungenau bleibt. Um die Realität des Nationalstaates mit dem Universalismus des Islam auszusöhnen, schlägt Mehmet am Schluss seiner Ausführungen eine moderne Form des alten Kalifats vor (322). Inhalt: I. Die islamische Identitätskrise: 1. Identitätskrise an der islamischen Peripherie. Beispiel Türkei und Malysia. II. Das islamische Dilemma: 2. Islamische Unterentwicklung. Ursachen und Lösungsmöglichkeiten; 3. Der islamische Gesellschaftsvertrag. Das Streben nach sozialer Gerechtigkeit und das Problem der Gesetzgebung; 4. Der Islam und die wirtschaftliche Entwicklung. Das Problem der Kompatibilität. III. Die Entwicklung der islamischen Peripherie: Die nationalistische Phase: 5. Nationalismus versus Islam. Die Debatte um die Modernisierung in der Türkei und in Malysia; 6. Der türkische Etatismus. Die Einführung einer nicht wettbewerbsorientierten Wirtschaftsordnung; 7. Malaysia - Entwicklung durch die New Economic Policy (NEP). Das mißbrauchte Treuhandsystem. IV. Entwicklung an der islamischen Peripherie: Der moderne Staat und die Privatisierung als Herausforderung: 8. Islam, moderner Staat und unvollkommener Wettbewerb. Verbieten oder kontrollieren?; 9. Privatisierung in Malaysia. Der Übergang von der nationalistischen zur marktwirtschaftlichen Entwicklungsdoktrin; 10. Privatisierung der türkischen Wirtschaft. V. Resümee: 11. Verantwortungsvolle Entwicklungsstrategie an der islamischen Peripherie. Regulation, Wettbewerb und staatliche Politik.
Natalie Wohlleben (NW)
Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
Rubrizierung: 2.23 | 2.63 | 2.68 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Özay Mehmet: Fundamentalismus und Nationalstaat. Hamburg: 2002, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/16527-fundamentalismus-und-nationalstaat_18984, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 18984 Rezension drucken