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Norman M. Naimark

Stalin und der Genozid. Aus dem Amerikanischen von Kurt Baudisch

Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2010; 157 S.; 16,90 €; ISBN 978-3-518-42201-4
Die von Stalin veranlassten Massenmorde in der Sowjetunion der 30er-Jahre sollten als Genozid klassifiziert werden, lautet die These von Naimark, Professor für Geschichte in Stanford. Seine essayistischen Ausführungen basieren auf einem Vortrag, den er als „Stanford-Suhrkamp Lecture“ im Dezember 2009 in Berlin hielt. Naimark plädiert dafür, die Definition von Genozid auf soziale und politische Gruppen zu erweitern – so, wie es in den frühen Entwürfen der „Konvention über Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“ der UN vorgesehen war. Als diese 1948 verabschiedet wurde, waren allerdings „jegliche sozialen, ökonomischen oder politischen Gruppen“ (30) außen vor geblieben. Dies geschah auf Betreiben der Sowjetunion und ihrer Verbündeten, wie Naimark aufzeigt, die sich zudem mit rechtsgerichteten Regimen in dieser Frage verbündet hatten. Seit dem Ende des Kalten Krieges aber haben die baltischen Staaten mit Verfahren, in denen auch eigene Staatsbürger wegen Völkermordes am eigenen Volk verurteilt wurden, die Rechtsprechung weiterentwickelt und den Genozid-Begriff neu gefasst. Naimark verweist außerdem auf die internationale Rechtsprechung zum Fall Srebrenica, die Ermordung der bosnischen Muslime wird ebenfalls als Genozid definiert. Diese Rechtsauffassungen lassen sich seiner Meinung nach auf Ereignisse in der Sowjetunion anwenden. Dazu zählen die Entkulakisierung, also die Enteignung, Verbannung und auch Ermordung von Bauern, um sie als soziale Gruppe in das sowjetische System zu zwingen; außerdem der Holodomor, die Hungersnot in der Ukraine 1932/33. Die ausreichende Ernte war den Bauern abgenommen und ihnen die Flucht aus den Hungergebieten verwehrt worden; im Hintergrund stand die Absicht, die Ukraine als Nation auszulöschen. Diese Absicht benennt Naimark auch für andere Nationalitäten in der Sowjetunion (Polen, Deutsche, Koreaner, Tschetschenen und Inguschen). Sie wurden deportiert und mussten unter erbärmlichen Umständen in der Verbannung leben, viele starben. Auch den Großen Terror, der sich ebenfalls gegen die eigene Bevölkerung richtete und jeden treffen konnte, zählt Naimark zu den Genoziden, für die Stalin verantwortlich war. Abschließend vergleicht Naimark dessen Verbrechen mit denen der Nationalsozialisten. Zwar „sollte der Holocaust aus mehreren Gründen als der allerschlimmste Fall von Genozid in der Neuzeit angesehen werden“ (140), dennoch weist die Geschichte der Völkermorde im Stalinismus und im Dritten Reich „mehr gemeinsame als unterschiedliche Punkte“ (129) auf.
Natalie Wohlleben (NW)
Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
Rubrizierung: 2.252.622.24 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Norman M. Naimark: Stalin und der Genozid. Frankfurt a. M.: 2010, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/33155-stalin-und-der-genozid_39623, veröffentlicht am 19.01.2011. Buch-Nr.: 39623 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken