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Aliaksandr Dalhouski

Tschernobyl in Belarus. Ökologische Krise und sozialer Kompromiss (1986-1996)

Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2015 (Historische Belarus-Studien 4); 220 S.; 38,- €; ISBN 978-3-447-10415-9
Geschichtswiss. Diss. Gießen; Begutachtung: T. Bohn, H. J. Bömelburg. – Als im April 1986 der Reaktorblock 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl explodierte, gingen mehr als 70 Prozent der freigesetzten Radioaktivität als Fallout auf den Südosten der damaligen Belorussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) nieder. Dies stellte Gesellschaft und Politik vor maßgebliche Herausforderungen, deren Bewältigung zum Gegenstand eines spezifischen sozialen Kompromisses wurde. Dessen Entstehung, Leistung und Einwirkung auf die belarussische Gesellschaft sind Gegenstand der Studie. Der Autor zeigt auf Grundlage einer umfassenden historischen Quellenanalyse, wie die Katastrophe von den Betroffenen und den Machthabern wahrgenommen wurde und wie das Krisenmanagement im Kontext von Glasnost und Perestroika in einen informellen sozialen Kontrakt mündete. Dieser sollte zum einen die drängendsten Probleme der Bevölkerung lösen, zum anderen aber auch der Protestverhinderung dienen. Die empirische Analyse konzentriert sich auf eine hermeneutisch‑narrative Aufarbeitung der schriftlichen Eingaben, in denen die Bevölkerung spezifische Forderungen an die Machthaber artikulierte. Gerade im Kontext von Glasnost wird deutlich, dass währenddessen die selektive Informationspolitik der Regierung auf eine Normalisierung der Situation zielte und letztendlich zur Verdrängung des eigentlichen Ausmaßes der Katastrophe führte. Erst im Zuge ansteigender Erkrankungsraten rückte die radioaktive Belastung ab 1988 wieder in den öffentlichen Fokus. Mit den Umbruchprozessen ab 1989 erfuhr der Themenkomplex Tschernobyl eine deutliche Politisierung, die einen wichtigen Beitrag zum temporären Demokratisierungsprozess des Landes leistete. Dieser fand jedoch mit der Verschlechterung der ökonomischen Lage nach 1991 ein jähes Ende, dennoch wurden vor allem die wohnungspolitischen Forderungen der Bevölkerung weitgehend erfüllt. Erneut setzte sich in der ehemaligen Sowjetrepublik das paternalistische Politikverständnis durch. Der Autor zeichnet ein vielschichtiges und umfangreiches Bild der damaligen Ereignisse und leistet damit einen wichtigen Beitrag zur historischen Analyse der gesellschaftlichen‑politischen Reaktion auf dem Atomunfall im Kontext der Transformation des belarussischen Staates bis 1996.
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Rubrizierung: 2.622.252.22 Empfohlene Zitierweise: Martin Repohl, Rezension zu: Aliaksandr Dalhouski: Tschernobyl in Belarus. Wiesbaden: 2015, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/39455-tschernobyl-in-belarus_47893, veröffentlicht am 25.02.2016. Buch-Nr.: 47893 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken