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Jan-Werner Müller

Wo Europa endet. Ungarn, Brüssel und das Schicksal der liberalen Demokratie

Berlin: Suhrkamp 2013 (edition suhrkamp digital); 79 S.; 7,99 €; ISBN 978-3-518-06197-8
Paul Lendvai nennt in einem Interview Ungarn unter Viktor Orbán eine „parlamentarische Diktatur“. Jan‑Werner Müller formuliert vorsichtiger, doch auch ihm drängen sich Parallelen zu Putins „gelenkter Demokratie“ auf. Denn Orbáns Partei „Fidesz hält den Staat besetzt“ (29), wodurch trotz Wahlen, geduldeter Demonstrationen und kritischer Stimmen wirkliche Machtwechsel immer unwahrscheinlicher würden. Müller schildert in seinem Essay, wie Orbán mit illegitimen, aber meist nicht illegalen Mitteln eine geschlossene Gesellschaft etabliert, und reflektiert, was die EU dagegen tun soll, darf und eigentlich kann. Er fragt nach der Berechtigung Brüssels zum Eingriff und entwickelt drei Kriterien für die Setzung demokratieschützender Maßnahmen: Erstens müsse die betreffende Regierung sich schon aktiv demokratiefeindlich verhalten haben, zweitens müssten ihre Handlungen systematischen Charakter aufweisen und es müsse drittens eine schlechte Prognose vorliegen, dass das Land nicht mehr zur politischen Selbstkorrektur fähig sei. Daraufhin diskutiert Müller die bereits vorhandenen EU‑Instrumente (so einen Stimmrechtsentzug nach Artikel 7 des Vertrags über die Europäische Union), bringt Alternativideen von Kollegen zur Sprache (etwa, dass jeder Ungar sich auf den Schutz seiner EU‑Bürgerschaft berufen könnte) und überlegt schließlich selbst neue politische und rechtliche Eingriffsmöglichkeiten. Was laut Müller fehlt, ist eine Institution, die politischen Alarm auslösen kann, aber auch über ausreichend Urteilskraft und Autorität verfügt. Auf Basis der einst vorgegebenen Kopenhagener Beitrittskriterien plädiert der Autor analog zur Venedig‑Kommission des Europarats (die Staaten verfassungsrechtlich berät) dafür, eine „Kopenhagen‑Kommission“ (59) zu schaffen. Abschließend setzt er die Entwicklungen in Ungarn mit der Krise der politischen Legitimität der EU in Beziehung und sucht die Lösung in der grundsätzlichen „Neuverteilung politischer Autorität in der EU“ (66). Eine EPU, Europäische Politische Union, könnte sich mit einer gewählten Kommission dem Modell einer europäischen Regierung annähern und damit in letzter Konsequenz den bestehenden „Exekutivföderalismus“ (Jürgen Habermas) mit einem Legislativföderalismus ergänzen.
Tamara Ehs (TE)
Dr. phil., Politikwissenschaftlerin am IWK Wien und Lehrbeauftragte an der Universität Salzburg (http://homepage.univie.ac.at/tamara.ehs/)
Rubrizierung: 3.12.612.21 Empfohlene Zitierweise: Tamara Ehs, Rezension zu: Jan-Werner Müller: Wo Europa endet. Berlin: 2013, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/35860-wo-europa-endet_43892, veröffentlicht am 13.06.2013. Buch-Nr.: 43892 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken