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Gerd Brudermüller / Kurt Seelmann (Hrsg.)

Zweiklassenmedizin?

Würzburg: Königshausen & Neumann 2012 (Schriften des Instituts für angewandte Ethik e. V. 12); 211 S.; geb., 25,- €; ISBN 978-3-8260-5041-1
Existiert in Deutschland eine Zweiklassenmedizin? Das deutsche Gesundheitssystem wird in dieser Hinsicht immer wieder kritisiert. Ob diese Kritik berechtigt ist, wird in diesem Sammelwerk aus unterschiedlichen Perspektiven untersucht. In einem instruktiven Beitrag diskutiert Dieter Birnbacher zunächst, auf welcher Grundlage die soziale Gerechtigkeit einer Gesundheitsversorgung generell bewertet werden kann. Ausgehend von John Rawls‘ Gerechtigkeitstheorie unterscheidet Birnbacher zwischen drei Stufen: Zunächst gebe es universale, für alle geltende Normen, wozu die Freiheitswahrung in Form der Patientenselbstbestimmung und das Recht auf Abwehr eines medizinischen Paternalismus sowie eine elementare Gesundheitsversorgung gehöre. Dann müssten Normen auf einer zweiten Stufe sicherstellen, dass eine Chancengleichheit im Sinne eines gleichen Zugangs zu Gesundheitsversorgungsleistungen unabhängig von ökonomischem und sozialem Status bestehe. Zuletzt sollten Normen des sozialen Lastenausgleiches gelten. Das dahinterstehende Prinzip ist in Abgrenzung zu Rawls‘ Differenzprinzip eine Version des „Prioritarismus“. Dieser besagt, „dass den relativ Schlechtergestellten weitergehende Ansprüche an solidarischen Leistungen zukommen als anderen, solange ihre Lebenschancen unter einem jeweils gesellschaftlich definierten Normalniveau liegen, und zwar entsprechend dem Ausmaß, in dem sie dahinter zurückbleiben“ (14). Auf dieser Grundlage spricht Birnbacher dem deutschen System der Gesundheitsversorgung dann insgesamt ein gutes Zeugnis aus. Eine Verletzung der Chancengleichheit erkennt er jedoch durch das Nebeneinander von gesetzlicher und privater Krankenkasse aus mehreren Gründen – zum Beispiel wegen des Anreizes zur Bevorzugung von Privatpatienten. Dass dieser Anreiz aufgrund der höheren Berechnungsmöglichkeit bei Privatpatienten bei gleicher Behandlungstherapie äußerst groß ist, zeigt dann der Beitrag der Allgemeinmedizinerin Sabine Rahmann. Sehr kritisch betrachtet Giovanni Maio die derzeitige Situation, die er von einer Marktorientierung der Medizin gekennzeichnet sieht. Diese Ökonomisierung verändere die bisher geltenden Werte in der Medizin in der Art, dass heute Ärzte primär die gute Bilanz verfolgten statt „Anwalt des Patienten“ (40) zu sein. Fragen von Rationierungsnotwendigkeiten und ‑möglichkeiten werden zudem in weiteren Beiträgen besprochen. Eine Möglichkeit, das Gesundheitssystem gerechter und zugleich finanzierbar zu machen, sieht Birnbacher in einer steuerfinanzierten Einheitsversicherung zur Grundversorgung, die durch private Zusatzversicherungen ergänzt werden könnte.
Jan Achim Richter (JAR)
Dipl.-Politologe, Doktorand, Universität Hamburg.
Rubrizierung: 2.343 | 2.35 Empfohlene Zitierweise: Jan Achim Richter, Rezension zu: Gerd Brudermüller / Kurt Seelmann (Hrsg.): Zweiklassenmedizin? Würzburg: 2012, in: Portal für Politikwissenschaft, http://pw-portal.de/rezension/35839-zweiklassenmedizin_43697, veröffentlicht am 19.06.2013. Buch-Nr.: 43697 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken