Stefan Malthaner, Simon Teune (Hrsg.): Eskalation. G20 in Hamburg, Protest und Gewalt
14.11.2023Wer an den G20-Gipfel in Hamburg zurückdenkt, wird sich eher an die gewaltvollen Ausschreitungen im Stadtgebiet erinnern als an die vielfältigen Proteste, die zeitgleich zum politischen Gipfeltreffen der führenden Industrienationen stattfanden. Dieser Sammelband möchte die Entwicklungen der damaligen Eskalation untersuchen: Dabei wird die Verstrickung von Protest und Gewalt ebenso analysiert wie die Rolle (sozialer) Medien oder die Aufarbeitung durch Politik und Justiz. Das Buch stützt sich teilweise auf Ergebnisse des Forschungsprojektes “Mapping #NoG20”. (tt)
Eine Rezension von Armin Pfahl-Traughber
Beim G20-Gipfel in Hamburg kam es 2017 zu Krawallen, die das bislang bei solchen Gelegenheiten bekannte Ausmaß weit überschritten. Mitunter war den Ausschreitungen ein rauschartiger Charakter zu eigen, Eskalationen führten zu Plünderungen und Straßenschlachten. Wie erklärt sich aber diese Entwicklung in der Rückschau? Antwort auf die Frage will ein Sammelband geben, der „Eskalation. G20 in Hamburg, Protest und Gewalt“ als passenden Titel trägt. Herausgegeben haben ihn die beiden Sozialwissenschaftler Stefan Malthaner und Simon Teune. Sie sprechen in der Einleitung berechtigterweise von einer „Eskalation mit Ansage“ (14), denn wirklich überrascht hätte man von der Dynamik der Konflikte nicht sein müssen. Später wurden je nach Betrachterinnen und Betrachter die üblichen Schuldzuweisungen vorgenommen: Manchmal war alles nur Polizeigewalt, manchmal alles nur Protestgewalt. Eine differenzierte Betrachtung ging angesichts derart polarisierter Deutungen in der öffentlichen Wahrnehmung unter. Das ist auch in den Folgejahren so geblieben, woran der vorliegende Sammelband etwas ändern will.
Er enthält 25 Beiträge, die in drei Kapitel unterteilt wurden und meist von Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftlern stammen. Zunächst geht es um Analysen der Protestwoche, wobei die jeweiligen Ausgangskonstellationen und Eskalationsdimensionen bei der Polizei und bei der Protestbewegung thematisiert werden. Andere Beiträge konzentrieren sich auf relevante Schlüsselereignisse („'Welcome to Hell', Blockadefinger und brennende Schanze") oder auf die Rolle der sozialen Medien ("Filter der Nachrichtenproduktion", "Eskalation in Tweets"). Danach steht die Einbettung in den Kontext im Zentrum: Diese Aufsätze widmen sich der Auswertung von Demonstrationsbefragungen oder der Geschichte der Gipfelproteste, der parlamentarischen und strafrechtlichen Aufarbeitung oder den jeweiligen Einordnungen in den Protestspektren. Und schließlich geht es um die spätere Debatte. Diese Beiträge kreisen meist um Eskalation und Deeskalation im Protest, sprechen aber auch die mangelnde Fehlerkultur bei nicht wenigen Akteuren an oder erörtern die Konsequenzen eines behaupteten polizeilichen Rigorismus. In diese Abhandlungen integriert wurde ein Gespräch mit dem bekannten Gewaltdeuter Jan Philipp Reemtsma, der sich zu den besonderen Entgrenzungen der Gewalt äußert.
Wie bei den meisten Aufsatzsammlungen zu einem bestimmten Thema hat man es auch hier nicht mit einem abgerundeten Werk zu tun. Eher wirken die einzelnen Beiträge etwas fragmentarisch und ergeben erst in der Gesamtschau eine gewisse Systematik. Auf allgemeine Einsichten weisen die Herausgeber zum Schluss hin: „Gewalt entsteht, wenn sich unterschiedliche Partien in situativ wechselnden Konstellationen in Interaktionsmuster verstricken, die Gewalt ermöglichen oder als einzig verbleibende Handlungsoptionen erscheinen lassen“ (276). Darüber hinaus heben sie folgende drei Aspekte hervor: Bereits in der Ausgangssituation war ein Eskalationspotential erkennbar. Deutungskämpfe über eine Erklärung durchziehen mit besonderer Polarisierung den öffentlichen Raum. Und der Gewaltaspekt gilt als besonderes Kriterium für die jeweiligen Wertungen. Die Autorinnen und Autoren sehen mit den Herausgebern den „Fall“ G20-Gipfel bilanzierend „als eine analytische Linse an, um anhand von Grenzen und Grenzüberschreitungen das Verhältnis von Gewalt und Protest zu bestimmen“ (281). Dazu liefert der Sammelband vielfältiges Material.
Hierbei fallen aber auch Einseitigkeiten auf, die sich auf die hauptsächlichen Konfliktparteien beziehen. Durchaus angemessen wirken die kritischen Ausführungen darüber, dass die Hamburger Polizei keiner deeskalierenden Strategie folgte. Gleichwohl ignorieren manche Beiträge, was eine Aktion und was eine Reaktion ist. Dies mag durch eine bestimmte Positionierung erklärbar sein, die wie folgt eingeräumt wird: „Den Vorwurf, aus einer Position der Sympathie für soziale Bewegungen heraus die gewaltsamen Aspekte von Protestereignissen stiefmütterlich behandelt zu haben, muss sich die Bewegungsforschung sicherlich gefallen lassen“ (282). Indessen kann auch bei der Beobachtung einer Eskalation zwischen unterschiedlichen Konfliktakteuren festgestellt werden: Ohne Ausschreitungen durch Demonstrantinnen und Demonstranten hätte die Polizei gar nicht überreagieren können. Das noch im Internet auffindbare Mobilisierungsvideo „Welcome to hell“ stand tatsächlich für eine „selbsterfüllende Prophezeiung“ (77), das Einschwören auf „Pflastersteine“ und „Scherben“ löste die entsprechenden Wirkungen aus.