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Stephan Lamby: Ernstfall: Regieren in Zeiten des Krieges. Report aus dem Inneren der Macht

07.09.2023
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Autorenprofil
Dr. Michael Kolkmann
München, C.H. Beck 2023

Der Journalist Stephan Lamby hat die wichtigsten Akteure des politischen Berlins seit dem russischen Angriff auf die Ukraine aus nächster Nähe beobachtet. Er schildert, wie die Bundesregierung den Kriegsausbruch erlebte, was der „Zeitenwende“-Rede von Olaf Scholz vorausging und warum zwischen Robert Habeck und Christian Lindner eine „Aufmerksamkeits-Konkurrenz“ ausbrach. Dank zahlreicher Gespräche und exklusiver Einblicke gelingt Lamby ein kenntnisreicher Blick hinter die Kulissen, der für „jede weitergehende Beschäftigung mit der Ampel-Regierung (…) unverzichtbar sein wird“, so Michael Kolkmann. (dk)


Eine Rezension von Michael Kolkmann

Der Journalist und Dokumentarfilmer Stephan Lamby hat mit seinem Buch „Entscheidungstage“ im Frühjahr 2022 eines der besten, weil spannendsten Bücher über den Bundestagswahlkampf 2021 veröffentlicht. Nun hat er mit „Ernstfall“ ein Buch über die ersten anderthalb Jahre der aktuellen Ampel-Koalition geschrieben. Darin kartiert er detailliert und kenntnisreich die Bedingungen, unter denen das aktuelle Ampel-Kabinett regiert. Einige der ersten Szenen, die Lamby schildert, drehen sich um die Unterzeichnung des Koalitionsvertrages: Im „Futurium“ mitten im Berliner Regierungsviertel unterzeichnen die Spitzenvertreter*innen der Ampel-Parteien im Dezember 2021 den Koalitionsvertrag mit dem Titel „Mehr Fortschritt wagen“. Danach wird mit Sekt und Orangensaft angestoßen. Und nur wenige Wochen später steht der Aufbruch der neuen Regierung im Schatten des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine – mit damals noch nicht absehbaren Konsequenzen für die deutsche Außen-, Wirtschafts- und Energiepolitik. Wenige Monate nach den Sondierungs- und Koalitionsverhandlungen wirkt das berühmt gewordene Selfie von Christian Lindner, Volker Wissing, Annalena Baerbock und Robert Habeck zu Beginn der Sondierungsgespräche „wie ein verblichenes Foto in einem alten Familienalbum“ (193).

„Dieses Kabinett ist mit guten Absichten gestartet“ (10), hält Lamby eingangs fest. Und fährt fort: „Die 17 Männer und Frauen haben ihr politisches Leben lang darauf hingearbeitet, an die Macht zu kommen und Entscheidungen gemäß ihren Überzeugungen zu treffen. Ihnen blieben jedoch nur ein paar Wochen. Dann mussten sie innerhalb kürzester Zeit umdenken. Und zwar gewaltig“ (ebd.). Eindringlich skizziert Lamby die neuen Kontextbedingungen deutscher Politik nach dem Angriff Russlands: „Der russische Krieg ist der größtmögliche Schock. Er katapultiert unser Denken weit in die Vergangenheit zurück. Dummerweise ist noch nicht klar, ob wir in die Zeit des Kalten Krieges oder noch weiter in die Zeit des Ersten Weltkrieges geschleudert werden. Sicher ist, dass das Freund-Feind-Denken, von dem wir glaubten, es längst überwunden zu haben, zurück ist. Auch die Bereitschaft, militärische Gewalt als Mittel der Politik zu akzeptieren, ist wieder da, und sei es als Gegen-Gewalt. Das ganze Land macht im Schnelldurchgang einen Selbsterfahrungskurs durch“ (9f.). Beinahe minutiös werden die Ereignisse der vergangenen anderthalb Jahre geschildert, etwa die Vorbereitungen auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, die vielen Anzeichen dafür, dass Putin es erst meinen könnte. Ebenso detailliert beschreibt er die Stunden und Tage des Kriegsausbruchs und wie die führenden Akteure der Bundesregierung diesen erlebt haben. Und danach natürlich die Bemühungen der Bundesregierung, mit dem Krieg und den damit einhergehenden Konsequenzen umzugehen. Lamby - und das macht den besonderen Reiz seines Buches aus - beschränkt sich in seinem Werk nicht nur auf den Blick auf das öffentliche Geschehen auf der Bühne, also darauf, was vor dem Vorgang passiert, sondern er schaut auch hinter den Vorhang. Um dies tun zu können, hat er zahlreiche persönliche Gespräche mit den beteiligten Akteuren geführt.

Auf den folgenden knapp 400 Seiten wird deutlich: Regieren ist im deutschen Mehrebenensystem aus politikwissenschaftlicher Perspektive ein kontinuierlicher Moderationsprozess, eine fein ziselierte Abstimmungsarbeit zwischen den unterschiedlichen politischen Akteuren: zwischen den drei Koalitionspartnern, die zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs gerade einmal 100 Tage miteinander regiert haben, aber auch innerhalb der einzelnen Parteien sowie auf internationaler Bühne. Und insofern werden nebenbei auch Emmanuel Marcon, Joe Biden, Boris Johnson und Rishi Sunak sowie Ursula von der Leyen und viele andere zu wiederkehrenden Darsteller*innen des Buches. Die europäische Ebene stellt gerade hinsichtlich der Abstimmung mit den politischen Akteuren anderer Länder eine wichtige Dimension dar, aber auch die Landespolitik und hier insbesondere der Ausgang diverser Landtagswahlen beeinflussen die Berliner Bundespolitik in nicht unerheblichem Maße.

In den Gesprächen, die dem Buch zugrunde liegen, konzentriert sich Lamby stark auf die bereits aus dem Bundestagswahlkampf 2021 und seinem Buch „Entscheidungstage“ bekannten Personen: Bundeskanzler Olaf Scholz, Finanzminister Christian Lindner, Außenministerin Annalena Baerbock sowie Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck. Andere Akteure, die in den vergangenen anderthalb Jahren durchaus eine wichtige Rolle gespielt haben, kommen eher am Rande vor, etwa Innenministerin Nancy Faeser oder der aktuelle Verteidigungsminister Boris Pistorius (der allerdings bereits zuvor als Innenminister Niedersachsens den einen oder anderen Auftritt im Buch hat). Spannend zu lesen ist auch die Einbindung von Akteuren, die für gewöhnlich nicht im Hauptfokus der öffentlichen und veröffentlichten Meinung stehen. So führte Lamby unter anderem mehrere umfangreiche Gespräche mit dem Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt, dessen Aufgabe darin besteht, abseits der Öffentlichkeit intern für ein möglichst geräuschloses Regieren zu sorgen.

Deutlich wird auch, wie sehr die große Herausforderung der „Zeitenwende“ mit innenpolitischen und parteitaktischen Aspekten verwoben ist: „[A]uch in Zeiten schwerer Krisen ist in Berlin immer noch Platz für parteitaktische Spiele“ (102), konstatiert Lamby. Die parteipolitischen Gesetzmäßigkeiten sind nicht außer Kraft gesetzt worden. Dies arbeitet Lamby insbesondere für die Minister Habeck und Lindner heraus, deren Ressorts in einer „Aufmerksamkeits-Konkurrenz“ (134) miteinander stehen (auch das Konkurrenzverhältnis zwischen dem Bundeskanzler und der Außenministerin ist an anderer Stelle Thema der Darstellung). Mit Blick auf die politische Kommunikation der Akteure macht Lamby wichtige Unterschiede aus, insbesondere zwischen Scholz (der „Sphinx aus Hamburg“, 148) und den grünen Kabinettsmitgliedern Habeck und Baerbock: „[W]ährend Scholz als zögerlich, kalt und arrogant wahrgenommen wird, gelten die beiden Stars der Grünen als einfühlsam und bürgernah“ (167).

An manchen Stellen weist Lambys Erzählung über das Tagesgeschehen hinaus, etwa wenn globale Aspekte in den Blick genommen werden: „Längst ist der Wettbewerb zwischen Kapitalismus und Kommunismus vom Konflikt zwischen demokratischen und autoritären Staatsformen abgelöst“ (32). Mit China gerät ein zentraler Akteur in den Fokus des Buches. Auch die Konflikte in Mali und Niger sowie die Herausforderung rund um Taiwan finden Berücksichtigung. Doch neben der großen weltpolitischen Bühne geht es für Lamby auch in die Niederungen der bundesdeutschen Innenpolitik, etwa nach Leuna und Schwedt, nach Merseburg und Wilhelmshaven.

Ein immer wiederkehrendes Motiv sind die „Lektionen der Geschichte“, die von unterschiedlichen Akteuren innerhalb wie außerhalb der Bundesrepublik bemüht werden, um für oder gegen eine bestimmte politische Entscheidung zu argumentieren. Zugleich zeigt sich im Buch die Bedeutung von Entscheidungen früherer Regierungen in der Gegenwart. Lamby spricht von den „Lebenslügen der deutschen Politik der letzten Jahre“ (11), gerade auf dem Feld der Energiepolitik. Zahlreiche Warnungen vor einer zu starken Abhängigkeit von russischem Gas, die auch Angela Merkel und Olaf Scholz bekannt waren, „wurden in den Berliner Wind geschlagen“ (11). Gelegentlich flicht Lamby persönliche Reminiszenzen ein, etwa anhand der Erinnerungen an seinen eigenen Wehrdienst oder die großen außenpolitischen Debatten zur Amtszeit von Helmut Schmidt. In Bonn aufgewachsen, ist Lamby im „Zentrum westdeutscher Macht“ quasi „von Kindesbeinen an“ (9) mit Politik in Berührung gekommen.

Die oft zitierten Zwänge des Amtes lassen sich bei Lamby eindrucksvoll an der Person Robert Habecks studieren, der zwischen den Positionen und Forderungen seiner eigenen Partei und den Erfordernissen des Regierens hin- und hergerissen ist. Und so wie Habeck als grüner Spitzenpolitiker und Bundesminister „zwischen mehreren Stühlen“ (248) sitzt, stehen auch seine Grünen immer wieder vor Zerreißproben, etwa mit Blick auf Lützerath im rheinischen Braunkohlerevier, wo die Grünen plötzlich „auf beiden Seiten stehen, auf der Seite der Demonstranten und der Seite der Regierungen“ (321).

Ohne es explizit zu erwähnen, thematisiert Lamby in seinem Buch den in der Politikwissenschaft diskutierten Unterschied zwischen Entscheidungs- und Darstellungspolitik. Ersteres beschreibt den internen Abstimmungsprozess innerhalb der Regierung, mit den eigenen Parlamentsfraktionen und mit den Ländern; letzteres ist die öffentliche Kommunikation darüber. Mit Verweis auf Max Webers „Politik als Beruf“ schreibt Lamby: „Scholz und Habeck bemühen sich geradezu, das Schmieden von Kompromissen zur demokratischen Staatskunst zu veredeln“ (52). Deutlich wird aber auch, dass beide, wie erwähnt, völlig unterschiedlich kommunizieren.

An einigen Stellen ist die Darstellung etwas sehr dramatisch ausgefallen, etwa auf Seite 64, wo es heißt: „Olaf Scholz wird ein Krisenkanzler sein. Wenn es sehr schlecht läuft, wird er ein Kriegskanzler sein“, oder auf Seite 83, nachdem Putin die Atomstreitkräfte Russlands in Alarmbereitschaft versetzt hat: „Wie weit wird Putin noch gehen? An diesem Tag scheint alles möglich zu sein. Keine Prognose ist zu düster“. Die Geschichte, die Lamby erzählt, hätte diese Überspitzung gar nicht nötig gehabt, sie ist so oder so dramatisch genug.

Zeitlich endet die Darstellung Lambys mit dem NATO-Gipfel in Vilnius Mitte Juli 2023. Das vorliegende Buch bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte für die zukünftige Beschäftigung von Politikwissenschaftler*innen mit den Themen des Buches.“ Lamby ist mit „Ernstfall“ eine kenntnisreiche Beschreibung des Turbo-Regierens seit dem 24. Februar 2022 gelungen. Er vermisst gekonnt die politische Tektonik der Ampel-Regierung und legt damit eine umfassende und detaillierte Grundlage, die für jede weitergehende Beschäftigung mit der Ampel-Regierung auf absehbare Zeit unverzichtbar sein wird. Während Lamby vor allem Zahlen, Daten und Fakten präsentiert, würde sich aus politikwissenschaftlicher Sicht die Analyse anschließen (müssen). Aber mit „Ernstfall“ ist ein starker Auftakt gelungen.

 

Hinweis: Der dazugehörige ARD-Dokumentarfilm von Stephan Lamby "Ernstfall – Regieren am Limit" läuft am 11.09. um 20:15 Uhr im Ersten. In der ARD Mediathek ist "Ernstfall" ab 10. September als Doku-Serie zu sehen.

CC-BY-NC-SA
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