Einkommensentwicklung, Ungleichheit und Armut. Ergebnisse unterschiedlicher Datensätze
Analyse
Einkommensentwicklung, Ungleichheit und Armut. Ergebnisse unterschiedlicher Datensätze
In der Ungleichheits- und Armutsdebatte würden zunehmend Zeitreihenbrüche unkritisch als tatsächliche Veränderungen dargestellt, schreibt Judith Niehues. Anhand unterschiedlicher Daten aus dem Mikrozensus, des SOEP und EU-SILC veranschaulicht sie, wie sich je nach verwendeter Quelle und Betrachtungszeitraum unterschiedliche Ergebnisse und Trends bei der Entwicklung von Einkommen und Vermögen abbilden lassen. So zeigt sich bei der Betrachtung des Zeitraums seit der Wiedervereinigung bis heute ein höheres Niveau an Einkommensungleichheit als beim Blick auf die Entwicklung des vergangenen Jahrzehnts. Niehues plädiert für einen kritischen Umgang mit den Datensätzen und für Plausibilitätstests.
Analyse
Einkommensentwicklung, Ungleichheit und Armut
Ergebnisse unterschiedlicher Datensätze
Zusammenfassung
Das Thema Ungleichheit nimmt einen immer größeren Raum in der öffentlichen und medialen Debatte ein. Vor allem in der Zeit vor der Bundestagswahl 2017 zeichneten Studien und die Berichterstattung ein düsteres Bild der Einkommens- und Ungleichheitsentwicklung in Deutschland. Der viel zitierte und alarmierend interpretierte Befund, dass die ärmeren 40 Prozent der Bevölkerung seit der Wiedervereinigung kaum reale Einkommenszuwächse verbuchen konnten, stellt sich bei genauerer Betrachtung allerdings als wenig robust heraus. Bei geringfügiger Verschiebung des Startpunkts der Betrachtung und bei einer Berücksichtigung von Stichprobenveränderungen wird aus einem realen Zuwachs von ein Prozent bereits ein Zuwachs von immerhin knapp acht Prozent über den Zeitraum der letzten zwanzig Jahre. Es zeigt sich vor allem, dass in den Zeiten positiver Wirtschaftsentwicklung im vergangenen Jahrzehnt die unteren Einkommensgruppen relativ in gleichem Maß wie die mittleren und oberen Einkommensgruppen am Wohlstand partizipiert haben. Dies spiegelt sich auch in der stabilen Einkommensverteilung seit 2005 wider – nach einem vorherigen Anstieg zwischen 1999 und 2005. Anders als bei der Ungleichheit deutet sich bei der Entwicklung der Armutsgefährdung seit etwa 2010 ein erneuter Anstieg an. Dieser sollte in der Debatte allerdings gesondert beurteilt werden, da er unter anderem mit der Flüchtlingsmigration der vergangenen Jahre zusammenhängt. Insgesamt werden in der Ungleichheits- und Armutsdebatte zunehmend Zeitreihenbrüche unkritisch als tatsächliche Veränderungen dargestellt. Dieser Beitrag wirbt für einen kritischeren Umgang mit den zugrunde liegenden Datensätzen und für Plausibilitätstests.
Ungleichheitsdiskurs im Bundestagswahlkampf
Kaum ein Befund bestimmte die Ungleichheitsdebatte im Bundestagswahlkampf 2017 so sehr wie die Bruttostundenlohnentwicklung der unteren 40 Prozent der Beschäftigten oder die Realeinkommensentwicklung der ärmeren 40 Prozent der Bevölkerung. Der Befund, dass sich im Zeitraum von 1995 bis 2015 die realen Bruttostundenlöhne der unteren 40 Prozent der abhängig Beschäftigten rückläufig entwickelten, dürfte das meistzitierte Ergebnis aus dem Fünften Armuts- und Reichtumsbericht (BMAS, 2017) sein. Hinter diesem Befund verbirgt sich vor allem eine positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Denn durch den starken Beschäftigungszuwachs der vergangenen Jahre hat sich die Beschäftigungsstruktur stark verändert – bei den abhängig Beschäftigten im Jahr 2015 handelt es sich keineswegs um die gleiche Personengruppe wie in den 1990er-Jahren. Beispielsweise dürften viele Arbeitslose, die 1995 keine Löhne bezogen, in der Tendenz eher am unteren Rand der Lohnverteilung in den Arbeitsmarkt eingestiegen sein. Aktuelle Entwicklungen bekräftigen, dass diese nicht auf dem niedrigen Lohnniveau verharren, denn im Zeitraum von 2010 bis 2015 zeigt sich eine eher angleichende Lohnentwicklung mit erkennbaren Zuwächsen im unteren Lohnbereich (Möller, 2016; Brenke/ Kritikos, 2017).
Der zweite Befund bezieht sich auf die Entwicklung der realen Nettoeinkommen der ärmeren 40 Prozent der Bevölkerung auf Basis des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP): Demnach sei seit 1999 das real verfügbare Einkommen dieser Bevölkerungsgruppe zurückgegangen, während die realen Einkommen der restlichen 60 Prozent der Bevölkerung deutlich gestiegen seien (Grabka/ Goebel, 2017, 76). Im Vergleich zu der vorherigen Betrachtung der Lohnungleichheit ist dieser Befund insofern bedenklicher, als er andeutet, dass sich der kräftige Beschäftigungszuwachs des vergangenen Jahrzehnts nicht in einem Anstieg des Realeinkommens der unteren Einkommensbereiche niedergeschlagen hat. Im Rahmen einer Diskussion um den möglichen Einfluss von Stichprobenänderungen innerhalb des SOEP untersucht dieser Beitrag die zitierten Befunde. Anhand der Vor- und Nachteile unterschiedlicher Befragungsdatensätze wird darüber hinaus gezeigt, wie bereits die Verwendung unterschiedlicher Datensätze und Methoden zu sehr unterschiedlichen Befunden im Bereich der Verteilung und Entwicklung von Armutsrisiken, der Ungleichheit, aber auch der Einkommensentwicklung bestimmter Bevölkerungsgruppen führen kann.
Unterschiedliche Befragungsdatensätze
Zu der Analyse der Einkommensverteilung und der Einkommenszuwächse in bestimmten Teilen der Bevölkerung sind Haushaltsbefragungsdatensätze erforderlich. In Deutschland gibt es vorrangig drei Datensätze mit unterschiedlichen Charakteristika:
- Im Rahmen des Mikrozensus werden vom Statistischen Bundesamt jedes Jahr rund 830.000 Personen zu ihren Lebensbedingungen befragt. Der Mikrozensus liefert hauptsächlich Informationen über die Haushalts und Familienstruktur der Bevölkerung, die Erwerbsbeteiligung und die Migrationsbewegungen. Als größter Datensatz mit verpflichtender Teilnahme gilt die Bevölkerungszusammensetzung des Mikrozensus gemeinhin als Referenzstatistik für die übrigen Haushaltsbefragungen. Für Einkommensanalysen eignet sich der Mikrozensus nur bedingt, da das Einkommen lediglich über eine einzige Frage nach dem monatlichen Haushaltsnettoeinkommen in Einkommensklassen erfasst wird. Aufgrund der Stichprobengröße ist er jedoch der einzige Datensatz, der Analysen auf tiefgliedriger regionaler Ebene ermöglicht.
- Das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) ist eine repräsentative Wiederholungsbefragung, die bereits seit 1984 jährlich Daten bezüglich Einkommen, Erwerbstätigkeit, Bildung und subjektiver Einschätzungen erhebt. Im Auftrag des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) werden zurzeit mehr als 35.000 Personen in knapp 15.000 Haushalten in Deutschland erfasst. Das SOEP zeichnet sich durch die detaillierte Abfrage einzelner Einkommenskomponenten des Vorjahres, eine sehr umfangreiche Daten und Methodendokumentation sowie das Bemühen aus, durch regelmäßige Stichprobenergänzungen auch spezifische Teilgruppen wie Personen mit Migrationshintergrund oder bestimmte Familienformen repräsentativ abzubilden.
- Die auf Basis von vergleichbaren Mindeststandards europaweit von Statistischen Ämtern durchgeführte European Union Statistics on Income and Living Conditions (EU-SILC) stellt die Standardquelle für die Messung von Armut und Lebensbedingungen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) dar. Die EUSILC ergibt sich aus einer Teilstichprobe der zufällig im Rahmen des Mikrozensus ausgewählten Haushalte, die sich bereiterklärt haben, für weitere Befragungen zur Verfügung zu stehen, und kann daher als mehrstufige Zufallsauswahl gesehen werden. In der EUSILC werden jährlich rund 14.000 Haushalte befragt. In einer Übergangsphase bis zur Welle 2007 wurde ein Teil der deutschen Stichprobe allerdings noch über eine repräsentative Quotenauswahl gewonnen.
Entwicklung der Einkommensungleichheit
Einer der Kernpunkte der Ungleichheitsdebatte beschäftigt sich mit der Frage, ob die Einkommensungleichheit in Deutschland zugenommen hat oder nicht. Das am häufigsten verwendete Maß zur Messung der Ungleichheit ist der standardisierte Gini-Koeffizient, der auf Werte zwischen 0 und 1 normiert ist: Bei einem Wert von 0 herrscht vollkommene Gleichheit, das heißt alle Bürger besitzen das gleiche Einkommen. Wenn ein Bürger das gesamte Einkommen auf sich vereint, beträgt der Gini-Koeffizient den Maximalwert 1. Standardmäßig wird dabei das bedarfsgewichtete Nettoeinkommen eines Haushalts (Äquivalenzeinkommen) nach Abzug von Steuern und zuzüglich monetärer Transferleistungen verwendet. Wie von internationalen Experten empfohlen, wird bei den SOEP-Berechnungen ebenfalls der Nettomietvorteil aus selbstgenutztem Wohneigentum als zusätzlicher Einkommensbestandteil berücksichtigt (The Canberra Group, 2001).
Abbildung 1 zeigt die Entwicklung der Ungleichheit der Nettoeinkommen auf Basis der drei genannten Befragungsdatensätze. Einzig das SOEP erlaubt eine Betrachtung der Ungleichheitsentwicklung seit der Wiedervereinigung. Mit Ausnahme eines leichten temporären Anstiegs im Jahr 1994 zeigen sich bis 1999 keine statistisch signifikanten Veränderungen beim Gini-Koeffizienten. In den darauffolgenden Jahren ist ein deutlicher Anstieg der Ungleichheit zu beobachten. Ab dem Jahr 2005 zeigen sich wiederum keine statistisch signifikanten Änderungen in der Höhe der Ungleichheit. Das heißt kleinere Änderungen können auf Zufallseinflüsse der Stichproben zurückgeführt werden und sind daher nicht aussagekräftig (Wagner, 2012). Ergebnisse auf Basis des Mikrozensus sind konsistent ab 2005 verfügbar. Für jedes der einzelnen Jahre zwischen 2005 und 2016 gibt die amtliche Sozialberichterstattung einen Gini-Koeffizienten von 0,29 an – und es besteht somit ebenfalls keine Veränderung der Ungleichheit ab 2005. Die Daten der EU-SILC deuten dagegen auf einen wenig plausiblen Anstieg der Ungleichheit zwischen 2005 und 2006 in Höhe von 3,6 Gini-Punkten hin. Aufgrund der Stichprobenumstellung zum Einkommensjahr 2006 lässt sich die Zeitreihe allerdings nicht konsistent interpretieren (Grabka, 2011, 2). Die Armuts- und Reichtumsberichterstattung verzichtet daher auf die Darstellung der ersten Erhebungswellen. In den Folgejahren zeigt sich gemäß EU-SILC zunächst ein Rückgang der Ungleichheit, der durch einen erkennbaren Anstieg in den Jahren 2011 bis 2013 umgekehrt wird.
Aufgrund des umfassenden Einkommenskonzepts und der Möglichkeit einer längerfristigen Betrachtung greifen Ungleichheitsstudien am häufigsten auf die Daten des SOEP zurück. Wegen der starken Standardisierung der Konzepte der Verteilungsforschung kommen die meisten Analysen daher zu sehr ähnlichen Ergebnissen (siehe beispielsweise Horn et al., 2017, 7). Kleinere Unterschiede in den ersten Jahren seit der Wiedervereinigung können darauf zurückgehen, dass der Ungleichheitsberechnung nominale oder reale Einkommen zugrunde liegen. In der Regel ist dies bei der Betrachtung der Ungleichheit innerhalb eines Landes unerheblich, aufgrund der vom Statistischen Bundesamt bis 1997 ausgewiesenen unterschiedlichen Inflationsraten für Ost- und Westdeutschland führt eine reale Betrachtung allerdings zu etwas geringeren Ungleichheits- und Armutskennzahlen bis etwa 1994. Da es jedoch bis jetzt noch nicht zu einer vollständigen Preisanpassung zwischen Ost- und Westdeutschland gekommen ist, basieren die vorliegenden Ungleichheitsziffern durchgängig auf nominalen Einkommen.
Die Darstellung der Ungleichheitsentwicklung verdeutlicht, warum die Studien dennoch zu unterschiedlichen Bewertungen kommen. Betrachtet man den Zeitraum seit der Wiedervereinigung bis heute, ist ein höheres Niveau an Einkommensungleichheit zu beobachten. Fokussiert man hingegen auf die Entwicklung des letzten Jahrzehnts, dann hat sich die Ungleichheit nicht verändert. Der Verlauf der Ungleichheitsentwicklung in Abbildung 1 verdeutlicht ebenfalls die Bedeutung der Darstellung der jährlichen Ungleichheitsentwicklung. Die Verwendung ausgewählter Jahre – beispielsweise 1994, 2004 und 2014 – würde fälschlicherweise auf einen kontinuierlichen Trend hindeuten und die Trendwende im Einkommensjahr 2005 hin zu einer seit mittlerweile zehn Jahren stabilen Verteilung vernachlässigen.
Unterschätzte Einkommensentwicklung
Auch wenn in der Ungleichheitsdebatte der annähernd stabile Gini-Koeffizient seit 2005 ein weitgehend akzeptierter Befund ist (besonders wenn Konfidenzintervalle berücksichtigt werden), wird häufig darauf verwiesen, dass bei der positiven Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung der letzten Jahre ein Rückgang der Ungleichheit hätte erwartet werden können. Abbildung 2 zeigt die Realeinkommensentwicklung auf Basis der Datensätze im vergangenen Jahrzehnt. Die Betrachtung beginnt 2006, da der Zeitreihenbruch in der EU-SILC von 2005 auf 2006 mit einem wenig plausiblen realen Anstieg des Medianeinkommens um elf Prozent einherging.
Auf Basis des SOEP und des Mikrozensus ergibt sich zunächst eine vergleichbare Entwicklung des realen Medianeinkommens zwischen 2006 und 2010 mit einem Anstieg von rund vier Prozent. In den Folgejahren deutet der Mikrozensus weiterhin auf einen Anstieg hin, das SOEP allerdings zunächst auf einen Rückgang bis 2013. Insgesamt zeigt sich im SOEP seit der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise weder beim Median- noch beim Durchschnittseinkommen ein realer Einkommenszuwachs. Ein vergleichbares Bild zeigt sich bei den Einkommensdaten der EU-SILC, allerdings wird es durch einen starken Realeinkommensanstieg in den Folgejahren überkompensiert.
Ein Abgleich der Einkommensentwicklung in Abbildung 2 mit der Ungleichheitsentwicklung in Abbildung 1 verdeutlicht, dass sich in Zeiten steigender bedarfsgewichteter Medianeinkommen im SOEP durchaus ein leichter, statistisch nicht signifikanter Rückgang der Ungleichheit zeigt. In Zeiten einer rezessiven Einkommensentwicklung kehrt sich dies wieder um. Dieser Zusammenhang ergibt sich auch in der EU-SILC. Der erkennbare Anstieg des Gini-Koeffizienten im Zeitraum 2011 bis 2013 erfolgt bei einem gleichzeitigen realen Rückgang des Medianeinkommens um 2,6 Prozent. Der Anstieg der realen Nettoeinkommen zwischen 2013 und 2015 geht wiederum mit einem Rückgang des Gini-Koeffizienten einher. Anstelle der Frage, warum die Ungleichheit nicht zurückgeht, rückt somit die Frage in den Vordergrund, warum sich im Zeitraum von 2009 bis 2013 gemäß SOEP und EU-SILC keine positive Einkommensentwicklung zeigt, wie sie im Mikrozensus oder auch in den volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen für die real verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte angezeigt wird.
Realeinkommensentwicklung in den Einkommensgruppen
Der zu Beginn zitierte Befund, die unteren Einkommensgruppen hätten zum Teil real weniger Einkommen zur Verfügung als zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung, geht auf die Einkommensentwicklung gemäß SOEP zurück. Abbildung 3 dokumentiert die relative Veränderung der durchschnittlichen realen Nettoeinkommen in den unteren und oberen zehn Prozent der Einkommensverteilung sowie die durchschnittliche Entwicklung der ärmeren 40 und der oberen 60 Prozent der Bevölkerung seit 1991. Tatsächlich zeigt sich bei Betrachtung der Entwicklung des durchschnittlichen Realeinkommens der jeweils ärmsten zehn Prozent eines Jahres ein recht deutlicher Rückgang um neun Prozent bis 2014. Auch die jeweils einkommensärmeren 40 Prozent der Bevölkerung können kaum einen Anstieg der Realeinkommen verbuchen. Für die oberen 60 Prozent der Bevölkerung ergibt sich dagegen ein Zuwachs von rund 15 Prozent, bei den oberen zehn Prozent von über 25 Prozent. Der viel zitierte Befund scheint sich somit zunächst zu bestätigen. Eine genauere Betrachtung der Abbildung 3 und die Diskussion im vorherigen Abschnitt werfen allerdings einige Fragen bezüglich der Plausibilität dieser Entwicklung auf. Zunächst fällt der Einbruch der Realeinkommen der ärmsten zehn Prozent zwischen dem Einkommensjahr 1993 und 1994 auf. Hierdurch startet diese Gruppe bereits mit einem realen Minus von gut zehn Prozentpunkten ab Mitte der 1990er-Jahre. Teilweise geht dieser Rückgang auf eine neu in das SOEP eingehende Migrationsstichprobe zurück, eine vollständige Erklärung konnten allerdings auch weitergehende Analysen nicht liefern.
Weiterhin bleibt offen, welche realwirtschaftlichen Entwicklungen nach der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise zu einem erkennbaren Realeinkommensrückgang bei einem großen Teil der Bevölkerung geführt haben sollen – zumal sogar die SOEP-Daten selbst in diesem Zeitraum auf höhere relative Lohnzuwächse bei den Geringverdienern gegenüber der Mitte der Lohnverteilung hinweisen (Brenke/ Kritikos, 2017). Auch der überaus deutliche Realeinkommensrückgang bei den ärmsten zehn Prozent ist überraschend, da die Regelsätze für die Grundsicherung im betrachteten Zeitraum einen leichten realen Anstieg aufweisen und gleichzeitig die absolute Anzahl an Grundsicherungsleistungsempfängern leicht zurückgegangen ist. Weitere Berechnungen auf Basis des SOEP zeigen, dass die Entwicklung auch nicht aus dem demografischen Wandel resultiert, da der Realeinkommensrückgang noch etwas deutlicher ausfällt, wenn wahlweise die Ruhestandsbevölkerung aus der Analyse ausgeschlossen wird oder Renten als Einkommensquelle unberücksichtigt bleiben.
Aufgrund fehlender realwirtschaftlicher Erklärungen stellt sich die Frage, ob die negative Einkommensentwicklung auf die spezifischen Stichprobenergänzungen ab der SOEP-Welle 2010 zurückzuführen ist. Neben den üblichen zufallsbasierten Auffrischungsstichproben wurde das SOEP seither um spezielle Stichproben von Alleinerziehenden, Mehrkindfamilien, Familien mit kleinen Kindern, Familien im kritischen Einkommensbereich sowie zwei Migrationsstichproben (2013 und 2015) ergänzt. Die zusätzlichen Beobachtungen haben den großen Vorteil für Forscher, dass sie ebenfalls repräsentative Auswertungen dieser spezifischen Teilgruppen ermöglichen. Für die zeitliche Interpretation der SOEP-Querschnitte könnte es aber durchaus Implikationen haben, wenn in der SOEP-Welle 2015 über die Hälfte der Beobachtungen auf spezielle Sonderstichproben ab 2010 zurückgeht.
Sensitivitätsanalyse der Einkommensentwicklung
Im Folgenden wird die Robustheit der Realeinkommensentwicklung überprüft. Zunächst zeigt sich bereits eine substanzielle Veränderung des Befunds, wenn man den Startzeitpunkt der Betrachtung von 1991 auf 1994 verschiebt. Hierdurch rückt die Realeinkommensveränderung der ärmsten 10 Prozent in den positiven Bereich und der Zugewinn der unteren 40 Prozent erhöht sich um mehr als 3 Prozentpunkte. Am Beispiel der Migrationsstichprobe des Jahres 2013 soll darüber hinaus der mögliche Einfluss spezifischer Stichproben auf die Einkommensentwicklung gezeigt werden. Ergänzende Migrationsstichproben sind notwendig, um die in Befragungsdaten häufig unterrepräsentierten Fälle mit Migrationserfahrung adäquat abzubilden. Hierfür wurde im Rahmen der SOEP-Welle 2013 eine zusätzliche Migrationsstichprobe erhoben, die allerdings wie üblich erst in der SOEP-Welle 2014 (Einkommensjahr 2013) mit rund 5.700 Beobachtungen in die Verteilungsanalysen mit einbezogen wurde, da sich die Antworten bei erstmaliger Beantwortung systematisch von den Folgejahren unterscheiden.
Tabelle 1 stellt die Einkommensveränderung zwischen 2012 und 2013 dar, wenn die Migrationsstichprobe nicht zu diesem Zeitpunkt ins SOEP gekommen wäre. Hierfür werden die Beobachtungen der Migrationsstichprobe von der Berechnung ausgeschlossen und die Gewichte der verbleibenden Beobachtungen an die soziodemografischen Randsummen des Mikrozensus angepasst (gemäß der Kriterien Haushaltstyp, Alter, Geschlecht, Region und Nationalität), um weiterhin eine repräsentative Abbildung der Gesellschaft zu erreichen. Ein vollständiges Herausrechnen der Migrationsstichprobe wird hierdurch allerdings nicht erreicht, da der Einfluss der Beobachtungen der Migrationsstichprobe auf die Schätzung der Non-Response-Gewichte und deren Einfluss auf die Berechnung imputierter Einkommen und Mieten unberücksichtigt bleibt. Für die dargestellte relative Veränderung zwischen 2013 und 2014 wurden die Beobachtungen der Migrationsstichprobe in beiden Jahren berücksichtigt und die Veränderung gleicht somit der in Abbildung 3.
Wie Tabelle 1 zeigt, wird bei der Betrachtung ohne Migrationsstichprobe aus dem Rückgang der durchschnittlichen Realeinkommen der ärmsten zehn Prozent zwischen 2012 und 2013 um 3,2 Prozent ein Anstieg von 0,5 Prozent und aus dem Realeinkommensrückgang der unteren 40 Prozent der Bevölkerung um 2,3 Prozent ein Anstieg um 0,7 Prozent. Die Ergänzung der zusätzlichen Beobachtungen mit Migrationshintergrund hat demnach zu einer Reduktion der Realeinkommen der unteren 40 Prozent um rund drei Prozentpunkte zwischen den beiden Jahren geführt. Nun lässt sich argumentieren, dass der Querschnitt inklusive der Migrationsstichprobe die Bevölkerung besser abbildet als zuvor und somit die Einkommen im unteren Einkommensbereich zuvor überschätzt wurden. Da viele Befragte der Migrationsstichprobe schon während der 1990er-Jahre nach Deutschland eingewandert sind, damals aber noch nicht im SOEP erfasst wurden, wäre allerdings mindestens der Zeitpunkt des Einkommensrückgangs falsch terminiert. Ursachen und wirtschaftspolitische Implikationen ließen sich auf Basis dieser Entwicklung nicht mehr adäquat berechnen. Es lässt sich zudem argumentieren, dass auch die erstmalige Berücksichtigung der Migranten ohne besondere Kommentierung ein zu kritisches Bild der Einkommensentwicklung suggeriert. Denn die sozialpolitische Bewertung des Befunds der Einkommensentwicklung der unteren 40 Prozent der Bevölkerung dürfte unterschiedlich ausfallen, wenn der Rückgang weitgehend darauf zurückgeführt werden kann, dass Migranten mit einem anfangs geringen Einkommen neu in die Betrachtung eingehen. Bei der hier vorgeschlagenen Berechnungsmethode würde weiterhin berücksichtigt, inwiefern die Migranten in den Folgejahren von der wirtschaftlichen Entwicklung profitieren.
Mit Blick auf die Einkommensentwicklung der unteren 40 Prozent der Bevölkerung zeigt sich, dass sich durch das Herausrechnen des Struktureffekts der Migrationsstichprobe das Bild der Einkommensstruktur insofern ändert, als sich für die unteren 40 und oberen 60 Prozent der Bevölkerung seit 2005 eine weitgehend parallele Einkommensentwicklung ergibt. Durch die zusätzliche Verschiebung des Startzeitpunkts ergeben sich für die unteren 40 Prozent keine stagnierenden Realeinkommen, sondern zumindest ein Zuwachs von knapp acht Prozent in den letzten zwei Jahrzehnten. Ein ähnlicher Umgang mit den weiteren Ergänzungsstichproben ab der SOEP-Welle 2010 deutet darauf hin, dass der Realeinkommenszuwachs sogar noch höher ausgefallen sein dürfte und es sich somit um eine untere Grenze der Entwicklung handelt. Auch im Vergleich zum Mikrozensus wurde hierdurch nur ein Teil der Differenz in der Einkommensentwicklung aufgeholt. Am oberen Ende könnte allerdings ebenfalls der Rückgang der Beobachtungen aus der Hocheinkommensstichprobe des Jahres 2002 die Entwicklung unterschätzen. Auf Basis der alternativen Berechnungen zeigt sich zwar bei nahezu allen Ergänzungsstichproben seit der Welle 2010 ein ungleichheitserhöhender Effekt, der Gesamteffekt auf die Ungleichheit bleibt somit allerdings unklar. Dem Rückgang der Beobachtungen der Hocheinkommensstichprobe steht der Einmaleffekt des Anstiegs der Einkommen bei erstmaliger Berücksichtigung im Einkommensjahr 2002 gegenüber.
Bestimmung von Armutsrisikogruppen
Eine bedeutende Funktion der Befragungsdatensätze ist die Identifikation von Bevölkerungsgruppen mit hohem Armutsrisiko. In diesem Beitrag werden nur die Ergebnisse der unterschiedlichen Datensätze für die häufig verwendete Armutsgefährdungsquote präsentiert, ohne unterschiedliche Verfahren der Armutsmessung zu beurteilen (Schröder, 2017). Als relativ einkommensarm gilt, wer weniger als 60 Prozent des bedarfsgewichteten Medianeinkommens zur Verfügung hat. Die unterschiedlichen Datenquellen deuten bereits auf sehr unterschiedliche Armutsgefährdungsschwellen hin (Tabelle 2). Gemäß Mikrozensus ist die Armutsschwelle mit 917 Euro monatlich am niedrigsten, da bei einer Abfrage der Nettoeinkommen mit einer einzelnen Frage Einkommenskomponenten tendenziell unterschätzt werden und besonders unregelmäßige Einkommensquellen untererfasst werden. Die Armutsgefährdungsschwelle und damit auch das Medianeinkommen liegen gemäß SOEP am höchsten. Allerdings wird hier – im Gegensatz zur Standardbetrachtung gemäß EU-SILC – ebenfalls der Nettomietwert aus selbstgenutztem Wohneigentum als Einkommensbestandteil berücksichtigt. Ohne Nettomietwert würde die Schwelle bei rund 1.000 Euro liegen und wäre somit etwas geringer als in der EU-SILC.
Trotz der unterschiedlich hohen Armutsgefährdungsschwellen liegen die Armutsgefährdungsquoten auf Basis des Mikrozensus und des SOEP auf einem ähnlichen Niveau. Die Quote gemäß EU-SILC liegt um etwa ein Prozentpunkt höher, was eventuell auf die im Vergleich zum SOEP höhere Armutsgefährdungsschwelle zurückgeht. Deutlich größer sind allerdings die strukturellen Unterschiede im Armutsrisiko nach Altersgruppen und Haushaltstypen. Gemäß SOEP und Mikrozensus zeigen sich deutlich überdurchschnittliche Armutsrisiken für die Altersgruppen unterhalb von 25 Jahren. Die EU-SILC deutet hingegen auf ein unterdurchschnittliches Armutsrisiko bei Kindern unter 18 Jahren hin. Im Jahr 2014 sind laut EU-SILC etwa 1,9 Millionen Kinder von Armut bedroht, auf Basis des SOEP liegt diese Anzahl mit rund 2,8 Millionen armutsgefährdeten Kindern um fast eine Million höher. Im Gegensatz dazu weisen die europäischen Daten auf ein überdurchschnittliches Armutsrisiko der 50- bis 64-Jährigen hin. Im Einklang mit der Einkommensentwicklung gemäß des Lebenszyklus-Modells hat diese Altersgruppe auf Basis des SOEP und des Mikrozensus das geringste Armutsrisiko. Auch das Armutsrisiko von Familien mit drei Kindern oder mehr (Mehrkindfamilien) fällt auf Basis der EU-SILC unterdurchschnittlich aus – in den anderen Datensätzen liegt es um beinahe zehn Prozentpunkte höher. Dagegen ist das Armutsrisiko von Alleinerziehenden auf Basis des SOEP und Mikrozensus deutlich höher.
Entwicklung des Armutsrisikos
Für die Interpretation der Entwicklung der sozialpolitisch sehr bedeutenden Armutsrisikoquote haben die zuvor diskutierten Eigenschaften der Datensätze ebenfalls Konsequenzen. Auch hier wird die Entwicklung ab 1994 berücksichtigt, um den erklärungsbedürftigen Einkommenseinbruch im SOEP unberücksichtigt zu lassen. Da es sich bei der relativen Einkommensarmut um eine Beschreibung der Ungleichheit im unteren Einkommensbereich handelt, überrascht es nicht, dass sich bei der Entwicklung der Armutsgefährdungsquote der letzten zwei Jahrzehnte (Abbildung 4) eine weitgehend ähnliche Entwicklung wie bei der Ungleichheit zeigt. Bei dem leichten Anstieg der Armutsgefährdungsquote in den letzten Jahren täuscht die Ähnlichkeit der Datensätze allerdings über die in Abbildung 2 dargestellte unterschiedliche Entwicklung der Realeinkommen hinweg. Gemäß Mikrozensus geht der Anstieg der Armutsgefährdungsquote mit einem Anstieg der realen Armutsgefährdungsschwelle einher, im SOEP mit tendenziell stagnierender Armutsgefährdungsschwelle, in der EU-SILC sogar eher mit einer rückläufigen Schwelle. Berechnungen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) auf Basis des Mikrozensus deuten darüber hinaus darauf hin, dass der Anstieg der Armutsgefährdung ab dem Jahr 2011 stark mit der gestiegenen Zuwanderung und Flüchtlingsmigration zusammenhängt (Seils/ Höhne, 2017). Die konstante Armutsgefährdungsquote bei der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund bei gestiegener Armutsgefährdungsschwelle ist ein Indiz dafür, dass sich die Einkommen der unteren Einkommensgruppen zwar nicht überdurchschnittlich, aber relativ in gleichem Maß wie die der mittleren Einkommensgruppen entwickelt haben. Ein ähnliches Bild für die letzten Jahre zeigt sich auf Basis des SOEP, wenn der Sondereffekt der Migrationsstichprobe herausgerechnet wird.
Bei den EU-SILC-Daten zeigt sich wiederum der deutliche Bruch zwischen den Einkommensjahren 2005 und 2006, der zu einem wenig plausiblen Anstieg der Quote um 2,7 Prozentpunkte führt (Abbildung 4). Ein Großteil des Armutsanstiegs in den EU-SILC-Daten seit 2004 geht somit auf den Strukturbruch durch die Änderung der Stichprobenziehung zurück. Dies hat auch Implikationen für weitergehende Analysen spezifischer Teilgruppen auf Basis dieser Daten, wie beispielsweise dem Befund, dass sich die Erwerbsarmutsrate zwischen 2004 und 2014 verdoppelt habe (Spannagel et al., 2017). Ein Betrachtungsbeginn nach der Stichprobenänderung würde den Anstieg der Erwerbsarmut bereits um rund zwei Prozentpunkte reduzieren.
Auch der erkennbare Anstieg der Erwerbsarmut zwischen 2011 und 2013 auf Basis der EU-SILC ist mit einem Fragezeichen zu versehen, da beispielsweise der WSI-Verteilungsmonitor selbst zeigt, dass die Erwerbsarmut auf Basis des Mikrozensus im Zeitraum 2005 bis 2016 von 7,3 Prozent auf 7,7 Prozent nur geringfügig anstieg (WSI, 2017). Mit einem Anstieg von 8,1 Prozent auf 9,2 Prozent weist auch das SOEP auf eher geringfügige Änderungen bei der Erwerbsarmut hin (BMAS, 2017, 559), die bei Herausrechnen der Migrationsstichprobe noch geringer ausfallen dürften.
Implikationen für Verteilungsstudien
Die Debatte um die Entwicklung und Bewertung der Ungleichheit war eines der zentralen Themen des zurückliegenden Bundestagswahlkampfs 2017. Da viele Vorarbeiten im Bereich der internationalen Verteilungsforschung und Empfehlungen internationaler Expertenkommissionen weitgehend standardisierte Berechnungsmethoden vorgeben, sollte es zumindest in der Faktenlage kaum Unterschiede zwischen den einzelnen Studien geben. Vergleichbare Befunde oder nachvollziehbare Unterschiede sind besonders in vermeintlich postfaktischen Zeiten eine wichtige Basis für das Vertrauen in die wissenschaftliche Arbeit im Bereich der Verteilungsforschung. Dieser Beitrag hat allerdings gezeigt, dass unterschiedliche Befunde der Ungleichheits- und Armutsentwicklung auch auf unterschiedliche Datenquellen und Stichprobenänderungen zurückgehen können. Problematisch ist ebenfalls, wenn die Verwendung unterschiedlicher Datensätze entgegengesetzte Armutsrisikogruppen in den Vordergrund stellen kann. Eine verlässliche Bestimmung erhöhter Armutsrisiken ist für eine zielgerichtete Armutsbekämpfung unabdingbar. Auf Basis bereits erfolgter Vorarbeiten und Plausibilitätsüberlegungen deutet dieser Beitrag auf drei erste Implikationen für die künftige, komparative Verteilungsforschung hin:
- Bei der Darstellung der zeitlichen Entwicklung von Verteilungstrends sollte der deutliche Zeitreihenbruch der EU-SILC-Daten zwischen der Welle 2006 und 2007 (Einkommensjahre 2005 und 2006) berücksichtigt werden. Verteilungsvergleiche inklusive des Bruchs zwischen den Einkommensjahren 2005 und 2006 scheinen insofern unangemessen.
- Die Identifikation von Armutsrisikogruppen sollte überprüft werden. Der Mikrozensus und das SOEP weisen auf deutlich überdurchschnittliche Armutsrisiken für Kinder und Mehrkindfamilien hin. In der EU-SILC fällt das Armutsrisiko im Alter vergleichsweise hoch aus, Kinder sind hingegen nur unterdurchschnittlich häufig von Armut bedroht.
- Aufgrund der Panelstruktur des SOEP sind Ergänzungsstichproben notwendig, um beispielsweise Migrationsbewegungen adäquat abzubilden. Vor allem bei der Beurteilung der Einkommensentwicklung sollte der Einfluss zusätzlicher Stichproben allerdings stärker bei der Interpretation berücksichtigt werden.
Bewertung der Ergebnisse
Die Vor- und Nachteile der einzelnen Befragungsdatensätze lassen einige Schlüsse mit Blick auf die Verteilungsindikatoren zu. Nachdem sich die Ungleichheit nach der Wiedervereinigung bis etwa 1999 kaum verändert hat, zeigt sich ein erkennbarer Anstieg bis etwa 2005. Danach ist die Verteilung weitgehend stabil. In der medialen Debatte wurde häufig darauf verwiesen, die unteren Einkommensgruppen hätten nicht vom Wachstum der vergangenen Jahre profitiert. Mit Blick auf die Einkommensentwicklung gemäß SOEP und EU-SILC ist festzuhalten, dass sich in Zeiten positiver Medianeinkommensentwicklung tendenziell Anzeichen sinkender Ungleichheit, bei negativer Einkommensentwicklung Zeichen steigender Ungleichheit zeigen. Während andere makroökonomische Kennziffern eine durchweg positive Wirtschaftsentwicklung im Anschluss an die Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise andeuten, bildet das SOEP eine Einkommensstagnation, das EU-SILC sogar rezessive Einkommen bis 2013 ab. Aussagen, die unteren Einkommen würden nicht vom Wachstum profitieren, sind somit nicht eindeutig belegt. Bei einer alternativen Berücksichtigung der Stichprobenänderungen im SOEP würde sich beispielsweise ein Realeinkommensgewinn der unteren 40 Prozent der Bevölkerung in Höhe von acht Prozent in den letzten zwei Jahrzehnten ergeben, gegenüber etwas mehr als 14 Prozent bei den oberen 60 Prozent der Bevölkerung. Für beide Einkommensgruppen dürfte diese Entwicklung eher eine untere Grenze darstellen.
Dies stellt nicht den übergeordneten Befund infrage, dass die Ungleichheit aktuell auf einem höherem Niveau liegt als zu Zeiten der Wiedervereinigung. Etwa seit 2005 haben alle Einkommensgruppen relativ in gleichem Maß von der positiven Wirtschaftsentwicklung profitiert. Unabhängig von wirtschaftspolitischen Begründungen ist das Jahr 2005 in der Verteilungsdebatte bedeutend, da sich nach dem vorherigen Anstieg die Ungleichheit seit mittlerweile mindestens zehn Jahren nicht mehr statistisch signifikant verändert hat. Unabhängig von der normativen Bewertung der Höhe der Ungleichheit ist dieser Befund beachtenswert, da er der Wahrnehmung vieler widerspricht, die Einkommen würden sich kontinuierlich auseinanderentwickeln. Zudem sollte ein großes Fragezeichen an die viel zitierte Einkommensentwicklung der unteren 40 Prozent der Bevölkerung gesetzt werden, da der Rückgang der Realeinkommen eines so großen Teils der Bevölkerung in den letzten Jahren realwirtschaftlich schwer zu erklären ist.
Literatur
BMAS – Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2017, Lebenslagen in Deutschland. Fünfter Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Berlin
Brenke, Karl / Kritikos, Alexander S., 2017, Niedrige Stundenverdienste hinken bei der Lohnentwicklung nicht mehr hinterher, in: DIW Wochenericht, 84. Jg. Nr. 21, S. 407-416
Grabka, Markus, M., 2011, Schriftliche Stellungnahme, Deutscher Bundestag, Ausschuss für Arbeit und Soziales, Ausschussdrucksache, Nr. 17(11)727, Berlin
Grabka, Markus, M. / Goebel, Jan, 2017, Realeinkommen sind von 1991 bis 2014 im Durchschnitt gestiegen – erste Anzeichen für wieder zunehmende Einkommensungleichheit, in: DIW-Wochenbericht, 84. Jg., Nr. 4, S. 71-82
Horn, Gustav A. / Behringer, Jan / Gechert, Sebastian / Rietzler, Katja / Stein, Ulrike, 2017, Was tun gegen die Ungleichheit?, Wirtschaftspolitische Vorschläge für eine reduzierte Ungleichheit, IMK Report, Nr. 129, Düsseldorf
Möller, Joachim, 2016, Lohnungleichheit – Gibt es eine Trendwende?, IAB-Discussion Paper, Nr. 9, Nürnberg
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Erstveröffentlichung:
Judith Niehues: Einkommensentwicklung, Ungleichheit und Armut. Ergebnisse unterschiedlicher Datensätze, in: IW Trends 3/2017 – Vierteljahresschrift zur empirischen Wirtschaftsforschung, Jg. 44: 117-135
https://www.iwkoeln.de/fileadmin/publikationen/2017/364450/IW-Trends_2017-03_Niehues.pdf
Demokratie und Frieden
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Verteilung anschaulich erklärt
In diesem interaktiven Video erklärt Judith Niehues, wie Ungleichheit überhaupt gemessen wird, welche Rolle staatliche Absicherung und Renten spielen und wie Deutschland im internationalen Vergleich bei Nettoeinkommen, Markteinkommen und Vermögen abschneidet.
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