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Müssen wir Russland besser verstehen lernen? Eine kritische Auseinandersetzung mit den Argumenten für eine neue Russlandpolitik

01.10.2019
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Prof. Dr. Hannes Adomeit

Putin Flughafen ankunft Msc 2007 Moerk006 wikimediaAnkunft von Präsident Wladimir Putin 2007 in München, wo er auf der 43. Münchener Sicherheitskonferenz seine viel beachtete Rede hielt. Foto: Kai Mörk, via Wikimedia Commons (Lizenz: CC BY 3.0 DE)

 

In jüngster Zeit mehren sich die Stimmen sozialdemokratischer und auch christdemokratischer Landespolitiker, die nicht nur eine Aufhebung der Sanktionen gegen Russland verlangen, sondern auch, dass man Russland besser verstehen und die ausgestreckte Hand Putins endlich ergreifen solle.1 Die meisten der dabei verwandten Argumente und Begrifflichkeiten entstammen einer Gruppe von Autoren und ehemaligen Politikern, die sich seit 2014 um die Vermittlung eines positiven Bildes von Russland und seines Präsidenten bemühen und die der Bundesregierung, den Medien und der Wissenschaft vorhalten, sie würden Russland nicht richtig verstehen und stattdessen ein Feindbild projizieren. Ein typisches Beispiel dafür ist das Buch „Russland verstehen“ von Gabriele Krone-Schmalz, das den Anspruch erhebt, ein wirklichkeitsgetreues Abbild Russlands zu zeichnen.2 In einem weiteren Buch kritisiert die selbe Autorin die Medien und die Politik „des Westens“ als arrogant und unfähig, die innere Entwicklung Russlands und seiner Außenpolitik zu verstehen.3 Deutschlands „Mainstream“-Medien betrieben zudem eine „Dämonisierung“ Putins und bauten ein „Feindbild Russland“ auf.

Auch in einem von Adelheid Bahr, der Witwe Egon Bahrs, herausgegebenen Buch wird auf die angeblich friedenspolitisch gefährlichen Folgen einer Dämonisierung Putins verwiesen. In dem Sammelband „Warum wir Frieden und Freundschaft mit Russland brauchen“4 repräsentieren die 25 Autoren ein breites Spektrum der deutschen Politik und Gesellschaft. Darunter sind der ehemalige Ministerpräsident Brandenburgs und Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums Matthias Platzeck (SPD), Politiker wie Sigmar Gabriel (SPD), Wolfgang Kubicki (FDP), Oscar Lafontaine (Die Linke) und die frühere Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer (Grüne), Frank Elbe, ehemaliger Leiter des Planungsstabs im Auswärtigen Amt, Harald Kujat, ehemaliger Generalinspekteur der Bundeswehr, Publizisten wie Wolfgang Bittner, Daniela Dahn und Gabriele Krone-Schmalz, Wissenschaftler wie Peter Brandt und Joachim Spanger, der Dirigent Justus Frantz und der Liedermacher Konstantin Wecker.

Das Buch leitet aus der Kritik an Putin eine erhöhte Kriegsgefahr ab. Dabei knüpft es an zwei vorangegangene „Aufrufe“ an. Der erste erschien am 5. Dezember 2014 und beschwor bereits in der Überschrift „Wieder Krieg in Europa?“ eine angeblich existierende Kriegsgefahr und machte den Standpunkt der Autoren klar, dass ein Krieg in Europa, bräche er aus, „Nicht in unserem Namen!“ geführt werden dürfe. Wie die Wochenzeitung „Die Zeit“ im Vorspann zu diesem Appell schrieb, würden mehr als 60 Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Medien eindringlich vor einem Krieg mit Russland warnen und eine neue Entspannungspolitik für Europa fordern. Ihren Appell richteten sie an die Bundesregierung, die Bundestagsabgeordneten und die Medien. Initiiert wurde der Aufruf vom früheren Kanzlerberater Horst Teltschik (CDU), dem ehemaligen – mittlerweile verstorbenen –Verteidigungsstaatssekretär Walther Stützle (SPD) und der früheren Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer (Grüne).5 Der zweite „Aufruf“ vom 12. April 2018 wiederholte diese Argumente und war von Teltschik und Vollmer sowie von dem ehemaligen Vizepräsidenten der Europäischen Kommission Günther Verheugen (FDP), dem ehemaligen Ministerpräsidenten Bayerns Edmund Stoiber (CSU) und dem ehemaligen Staatsminister im Auswärtigen Amt Helmut Schäfer (FDP) unterzeichnet.6

Zur Motivation für den Appell 2014 wurde Teltschik von der „Zeit“ mit den Worten zitiert: „Uns geht es um ein politisches Signal, dass die berechtigte Kritik an der russischen Ukraine-Politik nicht dazu führt, dass die Fortschritte, die wir in den vergangenen 25 Jahren in den Beziehungen mit Russland erreicht haben, aufgekündigt werden.“7 Darum geht es auch in seinem Buch „Russisches Roulette“, das zudem den Anspruch erhebt, die Entwicklung der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen „Vom Kalten Krieg zum Kalten Frieden“ nachzuzeichnen.8

In der seriösen Osteuropa-Wissenschaft wurden diese Aufrufe kritisiert, weil in ihnen die Ergebnisse wissenschaftlich abgesicherter Forschung mehr oder weniger vom Tisch gewischt würden. So stellten über 100 deutschsprachige Osteuropaexperten und -expertinnen zum Aufruf 2014 fest, dass die meisten seiner Unterzeichnenden nur geringe Expertise zum postsowjetischen Raum, wenig relevante Rechercheerfahrung und offenbar keine besonderen Kenntnisse über die Ukraine besäßen.9 Ähnlich urteilt der Gründungsdirektor des Bremer Osteuropa-Instituts, Wolfgang Eichwede, über das von Adelheid Bahr herausgegebene Buch. Dies sei von populistischen Slogans übersät und enttäusche wegen seiner Pauschalität der Urteile und Vorurteile sowie seiner Geschichtsvergessenheit nahezu auf ganzer Linie.10

Im Folgenden geht es darum, die Kernargumente der Kritiker westlicher Russland-Forschung und -Politik zu beleuchten und zu fragen, wie wirklichkeitsgetreu und stichhaltig diese tatsächlich sind. Während die „Aufrufe“ und die Ausführungen der meisten Autoren, die den Anspruch erheben, Russland und Putin richtig zu verstehen, von der mangelnden Bereitschaft gekennzeichnet sind, die Argumente des von ihnen so bezeichneten und abgewerteten „Mainstreams“ ernsthaft zu prüfen, trifft dies zumindest nicht für Teltschik zu. Infolgedessen setzt sich die nachfolgende Untersuchung ausführlicher mit seinen Ansichten auseinander.11
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1 So vertrat etwa Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer die Ansicht, dass Russlands Präsident Putin mit Initiativen wie dem Wirtschaftsforum in St. Petersburg dem Westen die Hand reiche. „Wir müssen aber die ausgestreckte Hand der Russen auch ergreifen.“ „Wir müssen die Sanktionen abbauen“ − Deutschland und Russland nähern sich wieder an, T-online.de, 7. Juni 2019, https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/id_85893948/ende-der-sanktionen-gefordert-deutschland-und-russland-naehern-sich-wieder-an.html.
2 Krone-Schmalz 2017. − Um die Auseinandersetzung mit den Kernargumenten der Kritiker westlicher Forschung, Medien und Politik möglichst sachlich zu führen, wird hier der Begriff „Putin-“ oder „Russland-Versteher“ nicht gebraucht.
3 Krone-Schmalz 2018.
4 Bahr 2018.
5 „Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!“, Die Zeit vom 5.12.2014 (nachfolgend zitiert als „Aufruf 2014“).
6 Aufruf 2018.
7 Aufruf 2014.
8 Teltschik 2019b. Praktisch als Vorankündigung des Buches gab er dem „Spiegel“ dazu am 10. März 2019 ein Interview (Teltschik 2019a).
9 Gegenaufruf OsteuropaexpertInnen 2014.
10 Eichwede 2018.
11 Nach Überzeugung dieses Rezensenten ist Teltschik (im Gegensatz zu einigen anderen Apologeten Putins und seiner Politik) über den Verdacht erhaben, dass seinem Engagement persönliche Motive wie Profilierungssucht oder finanzielle Interessen zugrunde liegen. Dieser Schluss gründet auf einer langjährigen guten Beziehung. Diese begann Mitte der 1960er-Jahre im gemeinsamen Studium der Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin, dem Besuch von Vorlesungen und Seminaren bei Richard Löwenthal und politischem Engagement im RCDS. Die Kontakte sind seitdem nie abgebrochen. Keine Annäherung gab es allerdings in den in mehreren persönlichen Gesprächen deutlich gewordenen scharf unterschiedlichen Standpunkten zur Politik Russlands unter Putin.

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Der vollständige Beitrag ist erschienen in SIRIUS – Zeitschrift für Strategische Analysen, Band 3, Heft 3, Seiten 224-241, DOI: https://doi.org/10.1515/sirius-2019-3002 (online erschienen am 07.09.2019)

 

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