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BREXIT aus Versehen – ein Überblick. Das britische EU-Referendum 2016: Hintergründe, Widersprüche, Perspektiven

15.05.2017
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Prof. Dr. Paul J.J. Welfens

Never give eu up London Brexit pro EU protest March 25 2017 25

 

Am 23. Juni 2016 wurde das von Premierminister David Cameron seit 2013 angekündigte EU-Referendum durchgeführt, für das dieser ein Ja (Remain) empfahl – zumal er zu Jahresbeginn gegenüber der EU einige Zugeständnisse für das United Kingdom (UK) hatte aushandeln können: verzögerte Sozialleistungen für Zuwanderer und Binnenmarktvertiefungsschritte in den Bereichen Digitalwirtschaft, Energie und Dienstleistungen. Das Referendum endete mit einer weithin unerwarteten 51,9-prozentigen Mehrheit für die Leave-Seite, also dem mehrheitlichen Beschluss der Volksbefragung für einen EU-Austritt Großbritanniens (BREXIT). Wie sich allerdings zeigen lässt, ist dieses Ergebnis sonderbar, da man bei normaler Informationspolitik der Cameron-Regierung 52,1 Prozent pro EU-Mitgliedschaft erhalten hätte. Das legt jedenfalls die Anwendung von UK-Popularitätsfunktionen nahe, die den Zusammenhang von Stimmenanteil für die Regierung mit dem Wirtschaftswachstum – und anderen Variablen – abbildet.

Cameron verschickte zwar vom 11. bis zum 13. April 2016 eine 16-Seiten-Informationsbroschüre an die Haushalte in England, erwähnte aber mit keinem Wort die Befunde der neuen Finanzministeriumsstudie zu den langfristen EU-Vorteilen Großbritanniens: 10 Prozent Einkommensverlust seien von einem BREXIT zu erwarten, so die Treasury Study, die merkwürdigerweise erst eine Woche nach dem Versand der Info-Broschüre in England veröffentlicht wurde – regierungsintern waren alle Zahlen der 201-Seiten-Studie natürlich bekannt: dass der BREXIT 6 Prozent langfristigen Einkommensverlust in mittlerer Schätzvariante bezüglich eines begrenzten künftigen EU-Binnenmarktzugangs bringen werde und 4 Prozent Einkommensminus wegen der Nichtrealisierung der von Cameron ausgehandelten Binnenmarktvertiefungen für UK. Cameron trat nach dem Referendum zurück und seine Innenministerin Theresa May, langjährig unter anderem für Zuwanderungsfragen zuständig, wurde neue Regierungschefin; sie wiederholte immer wieder, dass BREXIT Brexit heiße und eine hohe Legitimität habe – und ein Erfolg sein werde.

Eine hohe Legitimität hat die BREXIT-Entscheidung sicherlich angesichts der verfälschenden Informationspolitik der Cameron-Regierung nicht. Wie Frau May aus einem Fehlreferendum eine Erfolgspolitik machen wird, bleibt abzuwarten und kann bezweifelt werden. Es lässt sich die These vertreten, dass der britische EU-Austritt eine historische Selbstschädigung eines unter Cameron zunehmend unüberschaubaren und teilweise entprofessionalisierten UK-Politiksystems ist: mit der von ihm im Vorfeld des EU-Referendums in Auftrag gegebenen Regierungsstudie zu den langfristigen britischen EU-Vorteilen wollte oder konnte der sonderbare Cameron in seiner Referendums-Informationsbroschüre für alle Haushalte nichts anfangen: Der Hauptbefund der Studie hieß 10 Prozent Einkommensverlust im Fall eines EU-Austritts und war Cameron keine Zeile wert. Beim Schottland-Unabhängigkeitsreferendum, zwei Jahre zuvor, hatte er den schottischen Haushalten noch vorgerechnet, dass jeder Schotte im Fall der Unabhängigkeit 1.400 Pfund pro Kopf – und die EU-Mitgliedschaftsvorteile – verlieren würde: und Schottland blieb ein Teil des Vereinigten Königreichs. Beim BREXIT-Fall ging es zwar sogar um rund 1.800 Pfund pro Kopf, aber diese Zahl enthielt Cameron den Haushalten vor. Der populäre BREXIT-Befürworter Boris Johnson ließ bei der Referendumskampagne auf seinem Wahlkampf-Bus die falsche Nachricht wissen, UK zahle wöchentlich 350 Millionen Pfund als Beitrag an die EU. Die korrekte Zahl zum Netto-Beitrag war halb so hoch. Diesen Mann berief May als Außenminister.

Fakten spielten kaum eine Rolle

Zu den bemerkenswerten Befunden beim Referendumsbeschluss gehört nicht allein, dass die Wählerschaft bei den drei Top-Motivationspunkten zur Entscheidung gar keine EU-Themen nannte. Bemerkenswert war auch, dass es eine vor allem von der Leave-Seite vertretene populistische Position gab, nach der Expertenmeinungen etwa zu den britischen EU-Austrittskosten irrelevant seien. Offenbar ging es aus Sicht der Austrittsbefürworter nicht einfach nur um ökonomisch-politische Sachfragen, sondern auch um Gefühlsaspekte und einen neuen Hang zum Nationalismus oder eine Sehnsucht nach einer neuen britischen Größe – etwa im Kontext des Commonwealth, für das man eine neue Führungsposition anstrebte. Die Tatsache, dass der EU-Anteil an den britischen Exporten langfristig wegen des starken Wirtschaftswachstums in Asien zurückging, übersetzten manche EU-Gegner als Argument, dass sich auf die seit der Mitgliedschaft 1973 stark gewachsenen EU-UK-Wirtschaftsverflechtungen auch ohne großen Schaden teilweise verzichten ließe. Dass fast die Hälfte der britischen Exporte auch 2016 noch in die EU gingen – etwa 12 Prozent des UK-Bruttoinlandsproduktes darstellend –, nahm man da eher nicht zur Kenntnis. Die Mehrheit gegen eine britische EU-Mitgliedschaft setzte sich aus älteren Wählern sowie weniger gebildeten beziehungsweise ärmeren Schichten angehörenden Menschen zusammen. Gegen eine angeblich undemokratische EU und zu viel EU-Bürokratie polemisierte über Jahre nicht nur die Anti-EU-Partei UKIP, die vor allem die Rückkehr zu nationaler politischer Souveränität forderte, sondern auch der konservative Regierungschef Cameron.

UK wollte in den 1960er-Jahren dringend in die Europäische Union, die damals schon eine Zollunion war und mehr Gemeinschaftspolitik betrieb als die EFTA, die es verließ, um 1973 zusammen mit Dänemark und Irland EU-Mitglied zu werden. Nach über 40 Jahren Kooperation mit am Ende 27 EU-Partnerländern die Union zu verlassen, ist ein Jahrhundertschritt; eine Art politischer Isolationismus-Zug der alten internationalen Macht Großbritannien, die nun ökonomische und geografische Aspekte regionaler Kooperationschancen zu ignorieren scheint und zudem einen neuen Megazweifel an der Verlässlichkeit britischer Orientierung säht. Zu den sonderbaren Befunden etwa einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung gehört, dass das EU-Wissen in UK relativ schwach ist – jedenfalls deutlich geringer als etwa in Polen, ganz zu schweigen von Frankreich, Italien oder Deutschland. Für diese großen Wissenslücken tragen britische Regierungen, aber sicher auch die Europäische Kommission die Hauptverantwortung. Dass man seitens der EU mit dem Projekt Währungsunion 1999 eine Integrationsvertiefung wählte, die UK nicht mitgehen wollte, hat die britische Verbindung mit der EU geschwächt – zumal das Euro-Krisenmanagement in den Jahren 2010 bis 2015 zeitweise wenig professionell aussah und auch Konstruktionsdefizite des Euro verdeutlichte. Die Flüchtlingskrise auf dem europäischen Kontinent in 2015/2016 zeigte die EU beziehungsweise die Schengen-Staaten – also die EU ohne Irland und UK – zudem mit ernsten Problemen konfrontiert, die auch politische Abwehrreaktionen oder eine Isolierungsneigung in Großbritannien verstärkten (UK und Großbritannien wird hier der Einfachheit halber austauschbar gesetzt, wobei UK eigentlich für Großbritannien plus Nordirland steht).

In dem britischen Referendums-Wahlkampf mischte sich die EU-Kommission nicht ein, was teilweise nachvollziehbar ist. Aber die korrekte Zahl zu den EU-Kosten hätte der Chef der Europäischen Kommission in allen EU-Ländern per blauen Doppeldeckerbus die Europäer wissen lassen können. Doch für die Verbreitung einfacher EU-Fakten wollte die Kommission offenbar nicht eintreten; gerade nationale Netto-Beiträge und Netto-Empfangszahlen hält man in Brüssel seit jeher gerne unter dem Tisch. Jean-Claude Juncker als Kommissionschef reiste jedenfalls nicht einmal zu einer Rede nach UK und auch eine EU-weite Info-Kampagne zu gegebener Zeit unterließ er. Dass die EU sich einen so kleinmütigen Kommissionspräsidenten leistet, passt nicht zum größten Binnenmarkt der Welt, dem allerdings demnächst – nach BREXIT – 18 Prozent des Bruttoinlandsproduktes fehlen werden. Das Europäische Parlament soll zur Abklärung der Fehlinformationen in Großbritannien einen UK-Referendums-Untersuchungsausschuss gründen und sich mit der Frage von Mindeststandards für EU-Referenden befassen. Auch vom britischen Parlament könnte man einen solchen Referendumsausschuss zu Camerons Info-Verhalten eigentlich erwarten.

Bedeutung der Immigration

Ein ernstes und gewichtiges Politikrätsel bei der Referendumskampagne in UK war die starke Thematisierung der EU-Immigration, die von Cameron – auch von May als seiner Ministerin (und von ihr später auch als Regierungschefin: siehe White Paper Februar 2017) – als ein britisches Überforderungsproblem dargestellt wurde. Die OECD-Analyse zeigt jedoch, dass die EU-Zuwanderung einen Netto-Beitrag zum britischen Haushalt bringt. Die Größenordnung der EU-Zuwanderung war mit 0,2 Prozent jährlichem Bevölkerungszuwachs gering, 4 Prozent Anteil an der UK-Bevölkerung machten 2016 die weitgehend gut integrierten EU-Bürger aus. UK hatte nicht nur einst selbst den EU-Binnenmarkt mit seinen vier Freiheiten, nämlich Freihandel bei Waren und Dienstleistungen, freier Kapitalverkehr und freier Personenverkehr, gefördert, sondern bei der von London stark forcierten EU-Osterweiterung auf eine nationale Übergangsfrist bei der Personenfreizügigkeit verzichtet – wie auch Schweden und Irland, die offene Stellen – wie UK – aus dem Pool an neuen Zuwanderern aus Osteuropa zu besetzen hofften.

Perfiderweise wurde offenbar die EU-Immigrationsdebatte von Cameron politisch seit 2013 hochgezogen, um einen Sündenbock für die von ihm selbst umgesetzten massiven Kürzungen bei den Finanz-Transfers an die Kommunen zu haben: Binnen fünf Cameron-Regierungsjahren erfolgte eine enorme Kürzung um 3,5 Prozent des britischen Bruttoinlandsproduktes – im Kern, um die nach der Bankenkrise auf 11 Prozent gestiegene Staatsdefizitquote (Defizit/Bruttoinlandsprodukt) zu drücken. Die entstehende Unterversorgung mit lokalen öffentlichen Gütern führte im Klima der Anti-Immigrationsrhetorik der Cameron-Regierung zu einer häufigen Reaktion der Bürgerinnen und Bürger: Die Unterversorgung sei ja wohl Spiegelbild der allzu hohen EU-Immigration. Das ist eine grundsätzliche Fehlinterpretation, gegen die weder Cameron noch seine Innenministerin May je das aufklärende Wort erhoben haben. Die aufgezeigten Zusammenhänge lassen die Schlussfolgerung zu: Die Bankenkrise hat letztlich in Kombination mit politischem Fehlverhalten der Cameron-Regierung zum BREXIT wesentlich beigetragen – seit der Bankenkrise ist auch das Vertrauen der Bevölkerung in die politischen und wirtschaftlichen Eliten Großbritanniens stark geschwächt.

Im Übrigen wird nicht nur ein BREXIT mit einem künftig verschlechterten britischen Zugang zum EU-Binnenmarkt das britische Wachstum zeitweise abschwächen, dies gilt auch für den denkbaren Fortzug der gut drei Millionen EU-Einwanderer in UK, die zur Wirtschaft beziehungsweise zum Produktionsergebnis der zweitgrößten EU-Volkswirtschaft in wichtigen Bereichen über viele Jahre beigetragen haben. Wenn in UK das Bruttoinlandsprodukt wegen des BREXIT um 6 Prozent geringer ausfällt , dann wird das EU27-Bruttoinlandsprodukt – via Handelseffekte und andere Verbindungskanäle – um 1 Prozent sinken. Eine EU-Wachstumsverminderung wirkt dann wiederum negativ auf UK zurück.

„Global Britain“?

Die von BREXIT-Minister David Davis ausgegebene Losung, man werde ein Mehr an Wachstum über eine künftige Serie von britischen bilateralen Freihandelsabkommen erreichen, zeigt die strategische Globalisierungsorientierung der May-Regierung – seit Anfang 2017 von May als „Global Britain“ politisch propagiert: als hätte das Referendum grünes Licht für mehr Globalisierung gegeben, wo doch gerade Wahlkreise mit hohen Importzuwächsen aus China offenbar zu den eher BREXIT-orientierten Regionen gehörten. Das kann allerdings so gar nicht funktionieren, da es allenfalls mit den USA und Japan zu einem Freihandelsabkommen mit nennenswerten ökonomischen Effekten kommen kann. Die britische Exportrichtung USA steht für kaum mehr als 2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes und einen deutlich verschlechterten Handelszugang in der EU27 können steigende britische US-Exporte nicht kompensieren. Mit China wird es schon aus politischen Gründen – auch die enge UK-US-Verbindung mit ihren Restriktionen ist zu bedenken – kaum ein breites Freihandelsabkommen geben. Mit Indien ist ein großes Freihandelsabkommen auch eher nicht realisierbar, da die dortige Regierung bei Verhandlungen sicherlich deutlich nach Visa-Erleichterungen fragen wird. Die künftige britische Handelspolitik wird in jedem Fall ein Mehr an Bilateralismus bringen, der gemeinsamen EU-Handelspolitik wird man sich nicht mehr unterordnen wollen. Für die eigene Freihandelspolitik bedarf UK jedoch langfristig eines Systems funktionsfähiger internationaler Organisationen, wie etwa auch der Welthandelsorganisation oder der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich. Deren Funktionieren aber wird durch den neuen britischen Hauptpartner USA unter der Trump-Administration mit ihrem Fokus auf Bilateralismus beziehungsweise Abkehr vom Multilateralismus erkennbar untergraben.

Einen Freihandelszugang zu Japan hätte Großbritannien als EU-Mitglied via die aktuellen EU-Japan-Verhandlungen bekommen können. Künftig – nach 2019 beziehungsweise dem BREXIT-Vollzug – wird die EU allerdings nur mit vier Fünftel des bisherigen ökonomischen Gewichtes international verhandeln können. Da wird schon ein Nachteil des britischen EU-Austritts sichtbar. Den Ausfall an UK-Netto-Beitragszahlungen von etwa neun Milliarden Euro – 0,4 Prozent des britischen Nationaleinkommens – wird man verschmerzen können, wobei hier durchaus konfliktreiche Verhandlungen der EU27-Länder absehbar sind. Einen Teil der Einnahmenverluste wird die EU27 durch Zolleinnahmen für Importe aus UK abdecken können.

UK steht selbst nur für knapp ein Fünftel des EU28-Gewichtes und dass es auf sich allein gestellt ähnlich gute Marktzugangsbedingungen bei Freihandelsabkommen erzielen kann wie die EU28, ist nicht anzunehmen. UK wird sich zudem bei sektoralen Freihandelsvereinbarungen damit auseinandersetzen müssen, dass UK-Exportprodukte für zollfreien EU27-Marktzugang 60 Prozent Mindestwertschöpfungsanteil nachweisen müssen, was die internationale Wettbewerbsfähigkeit britischer Produzenten schwächt; deren bestehende EU-Produktionsnetzwerke werden entwertet. Das bedeutet Realeinkommens- und Jobverluste. Dass der BREXIT obendrein einen enormen britischen Einflussverlust in Europa bedeutet, sei hier ergänzend angemerkt.

Zu den Sonderbarkeiten des BREXIT gehört, dass die EU-Kommission davon sichtbar überrascht wurde; diese hat sich offenbar auf das methodisch schwache Euro-Barometer verlassen, das in der Frühjahrs-Umfrage 2016 einen viel geringeren EU-Gegner-Anteil auswies als 51,9 Prozent. Dass sich dann nicht ein einziges Paar von Städtepartnerschaft zwischen UK-Städten und etwa deutschen oder französischen Städten im Vorfeld des Referendums positiv zu Remain UK geäußert hat, zeigt auch eine dramatische EU-Schwäche auf der Ebene der „Integration von unten“.

Die Fülle komplizierter BREXIT-Fragen, vor denen UK steht, bedeutet Wohlfahrtsverluste, interne politische Spannungen und wohl weiteren Druck hin auf eine widersprüchliche Politik. Dass UK sich zu einem schnellen Abschluss eines USA-UK-Freihandelsabkommens entschließen wird, ist anzunehmen; Großbritannien steht für ein Viertel der US-Exporte in die EU28. Zögerlichkeit kann es sich bei einer transatlantischen Liberalisierung kaum leisten und die beiderseitigen Vorteile sind erheblich. Ein solcher US-UK-Freihandelsvertrag wird dann den EU27-Ländern verdeutlichen, dass man bei dem bis Ende 2016 unter der Obama-Administration nicht abgeschlossenen Transatlantischen Freihandelsabkommen EU-USA (TTIP) erhebliche Chancen zur Einkommenssteigerung und transatlantischen Integration für viele Jahre verpasst hat. 2016 wird man daher als für die EU historisches Jahr verpasster Chancen einordnen können. Auch geht vom BREXIT ein negatives Signal an andere Integrationsräume (zum Beispiel ASEAN, Mercosur) in der Weltwirtschaft, die sich teilweise über Jahrzehnte an der EU-Integration orientiert haben. Regionale Desintegration wird ökonomische Wohlfahrts- und Einkommensverluste durch verminderte Spezialisierungsgewinne einerseits, aber auch durch erhöhte regionale Konfliktintensitäten andererseits bedeuten. Dabei ist nicht auszuschließen, dass die internationale Destabilisierung, die vom BREXIT ausgeht, noch vonseiten der USA unter Trump mit seiner Unterminierung der internationalen und multilateralen Organisationen verstärkt wird.

Die EU im 21. Jahrhundert

Dass die EU an Attraktivität über Jahre hinweg verloren hat, ist Teil-Hintergrund der BREXIT-Entscheidung; die langjährige Banken- und Eurokrise sowie die Flüchtlingswelle haben kein attraktives EU-Bild in der Wahrnehmung vieler Bürger geschaffen. Eine EU-Öffentlichkeit ist nicht entstanden und dazu tragen die nationalen Regierungen auch noch bei, indem sie öffentlich-rechtliche TV-Programme zum digitalen Geo-Blocking zulassen.

Never give eu up London Brexit pro EU protest March 25 2017 25Londoner protestieren gegen den Brexit, 25. März 2017. Foto: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:London_Brexit_pro-EU_protest_March_25_2017_25.jpg: CC BY-SA 4.0)Geringe Popularitätswerte der Europäischen Union und eine fast ununterbrochen sinkende Wahlbeteiligung bei Europa-Wahlen sind schon lange ein Signal dafür, dass die Europäische Union Probleme hat, ihren politisch-ökonomisch-kulturellen Wert einer großen Mehrheit in den EU-Ländern zu verdeutlichen. Die EU kann allerdings auch auf einige positive Felder verweisen: Reisefreiheit, Beihilfenaufsicht – hier wird Steuerzahlern ein unnötig hohes Subventionsbudget für Altindustrien beziehungsweise ein Subventionswettlauf erspart –, Einkommensgewinne durch mehr Intra-EU-Handel, mehr Direktinvestitionen in Europa und erhöhte Innovationsdynamik gehören zu den Vorteilen der EU-Mitgliedschaft; Länder und Regionen mit geringem Einkommen profitieren von EU-Transfers und zudem werden Städtepartnerschaften unterstützt. Die EU hat Kompetenzen im Bereich Handelspolitik sowie die Möglichkeit, bei der Wettbewerbs- und Regulierungspolitik teilweise Vorgaben zu setzen.

Die EU hat über Jahre, das kann man kritisch feststellen, zu wenig eigene Aufgabenfelder dem frühen 21. Jahrhundert angemessen definiert. Sie ist zu langsam in der Digitalisierung – allein Grünbuch plus Weißbuch plus Direktivenabschluss dauern fünf bis sechs Jahre, was völlig unangemessen mit Blick auf die kurzen digitalen Innovationszyklen ist. Zu wenig ist die EU erfolgreich in Asien aufgetreten, soweit es um den Abschluss von Freihandelsabkommen ging; statt mit den ASEAN-Ländern insgesamt zu verhandeln, die gerade 2016 einen an der EU orientierten Binnenmarkt umgesetzt haben, hat die EU nur mit Singapur ein Abkommen unterzeichnet, zudem mit Korea als Land außerhalb der ASEAN. Neue Herausforderungen werden kaum angegangen, obwohl das Vorschlagsrecht der Europäischen Kommission dieser eigentlich große Möglichkeiten gibt. Wenn etwa die Mehrzahl der EU-Länder sich neuerdings starken Direktinvestitionszuflüssen aus China gegenüber sieht – oftmals seitens chinesischer Staatsunternehmen –, so wäre ja hier durchaus ein Feld mit Gemeinschaftsinteressen: etwa wenn die Frage zu thematisieren ist, warum ein Teil der Sektoren in China für EU-Direktinvestoren bei Mehrheitsübernahmen verschlossen ist. Chinas Investoren hingegen haben in den EU-Ländern weithin freie Direktinvestitionsmöglichkeiten. Hier hätte die EU-Kommission tatsächlich von sich aus viel stärker aktiv werden können und sie sollte es mindestens in Zukunft sein. Dass die Kommission seit der Euro-Krise sichtbar geschwächt ist, nämlich durch die steigende Rolle des Europäischen Rates, ist allerdings auch festzustellen.

Selbst wenn die EU beim Referendum von den britischen Wählern eine knappe Mehrheit erhalten hätte, so ist offensichtlich, dass sie dringend reformbedürftig ist. Mag sie jeweils in den 1960er-, 70er-, 80er- und 90er-Jahren ihre je eigenen Funktionen und Vorteile gehabt haben, so ist seit dem Ende des Kalten Krieges ein Reform- und Legitimitätsdefizit festzustellen: Es war schon bei den Wahlen zum Europäischen Parlament 2014 augenfällig und eigentlich schockierend, dass UKIP und der Front National als Anti-EU-Parteien eine relative Mehrheit in ihren Ländern gewinnen konnten; in Deutschland erhielt die „Neupartei“ AfD hohe Stimmenanteile.

Die EU steht nicht nur einem BREXIT gegenüber, der bald ein Austrittsmodell für andere EU-Länder sein könnte, sondern auch die USA sind unter Trump mit ihrem schon im Präsidentschaftswahlkampf sichtbaren Nato-Schwächungs- und Anti-EU-Kurs ein gewichtiger Destabilisierungsfaktor. Ein US-Präsident, der öffentlich den BREXIT begrüßt und sich von über 60 Jahren europäischer Integrationsunterstützung der USA abwendet, kann für die EU-Integration nur als Destabilisierungsfaktor angesehen werden – und ein US-Präsident, der eine ausländerfeindliche Präsidentschaftskandidatin wie Marine Le Pen in Frankreich unterstützt, war über mehr als ein halbes Jahrhundert undenkbar.

Soll die EU nun kleiner und kompakter auf mehr Legitimität hoffen, quasi das Subsidiaritätsprinzip statisch noch mehr als bisher betonen? Eine solche Sichtweise ist verfehlt, wie die Analysen der Forschungsgruppe Wahlen zeigen: Die deutschen Wähler verstehen sehr wohl die relevanten Politik- und Themenfelder bei Kommunal-, Landes- und Bundestagswahlen zuzuordnen. Bei Europa-Wahlen sagen aber die Wähler mehrheitlich, dass sie nicht verstünden, bei welchen Themen die EU kompetent sei. Daher geben viele Wähler dann auch mal radikalen kleinen Parteien ihre Stimme, sodass über die Europa-Wahlen in Deutschland, aber sicher auch in anderen EU-Ländern, politischer Radikalismus begünstigt wird – mit anschließender politischer Investition der Anti-EU-Parteien bei Nationalwahlen, für die man EU-Ressourcen faktisch legal (und auch illegal) mobilisiert. Das ist ein absurdes ökonomisches und politisches Destabilisierungsprogramm, dem Berlin, Paris und andere Hauptstädte in der EU bislang unverantwortlich passiv zusehen.

Eine dogmatische statische Anwendung des Subsidiaritätsprinzips, das eine handlungsfähige EU verhindert, ist nicht sinnvoll. Der Vergleich der Staatsverbrauchsquote der EU von 1 Prozent und der US-Staatsverbrauchsquote – auf Bundesebene – von 9 Prozent zeigt, dass Brüssel weit von einem Optimum entfernt ist, das sich etwa aus der Theorie des fiskalischen Föderalismus herleiten lässt.

Aus diesem Grund braucht die EU mehr politischen Aktionsraum und sollte die viel zu geringe bisherige 1-prozentige Staatsausgabenquote zügig überwinden: Infrastruktur-Ausgaben und Verteidigungsausgaben als zusätzliche EU-Ausgabenkategorien wären hier sinnvoll, zudem die Finanzierung der ersten sechs Monate Arbeitslosenversicherung (ohne Jugendarbeitslosigkeit; hier sind die einzelnen EU-Länder vor allem über ihre Mindest-Lohngesetzgebung klar selbst verantwortlich). Eine supranationale Staatsverbrauchsquote von etwa 5 Prozent in Brüssel wird die EU-Sichtbarkeit für die Wählerschaft erhöhen und daher die Intensität des politischen Wettbewerbs bei Europa-Wahlen steigern, also auch die Effizienz der supranationalen Politik verbessern – und ein Weniger an Stimmen für radikale Anti-EU-Parteien bringen. Eine erhöhte Brüsseler Staatsverbrauchsquote kann auch eine Basis für eine bessere beziehungsweise effizientere antizyklische Fiskalpolitik in der Eurozone sein, wo man bislang gegenüber den USA deutlich zurückliegt. Sinnvoll ist allerdings zugleich, dass die EU ihre überzogene Regulierungspolitik in vielen Bereichen deutlich zurücknimmt. Auch eine breite Stabilisierung der Eurozone ist dringlich, wobei etwa Griechenland vor allem zunächst eine Verfassungsreform braucht – etwa mit einer Verankerung der politischen Unabhängigkeit des Statistikamtes – und darüber hinaus auch endlich einen bedingten Schuldenschnitt. Eine politische Union der Euro-Staaten ist durchaus erwägenswert, wobei jedoch am Anfang nicht ohne Weiteres alle Euro-Länder mitwirken sollten. Die Alternative zur Euro-Politikunion ist ein Zerfall der EU, vermutlich im Windschatten einer neu wachsenden EFTA als regionaler Freihandelszone unter UK-Führung. Die Europäische Kommission zeigt wenig Sinn für kritische Selbstreflexion und konzeptionelle durchdachte Politikansätze finden sich eher selten.

Bei einem EU-Zerfall drohen die Länder sich bald in einer Situation ähnlich der Ende des 19. Jahrhunderts wiederzufinden, als die Großmächte in Europa jeweils Militärausgabenquoten von etwa 4 Prozent verzeichneten: mehr als das Doppelte des Wertes von 2016 für große EU-Länder. EU-Desintegration ist denkbar und Kosten werden sich nicht nur in Einkommens- und Jobverlusten zeigen, sondern auch in einem Verlust an internationalem institutionellem Kapital, das sich in den EU-Institutionen – mit britischer Mitwirkung noch – hochwertig zeigt.

Reformbedarf in der EU

Mittelfristig sind 5 bis 6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes als Staatsverbrauchsquote in der Eurozone erwägenswert, was eine Aufgaben- und Ausgabenverlagerung auf die supranationale Politikebene bedeutet. Der Gesamtsteuersatz kann durchaus sinken, sofern es relevante Effizienzgewinne bei der EU-Politikebene gibt. Die genannte erhöhte Staatsverbrauchsquote wäre als Reform immer noch nur die Hälfte dessen, was die USA auf der obersten Politikebene ausgeben (hinzukommen auf der US-Bundesebene noch 11 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Sozialpolitik). Mit kombinierter supranationaler und nationaler Schuldenbremse – 0,5 beziehungsweise 0,35 Prozent strukturelle, konjunkturneutrale Defizitquote – hätte man dann auch eine Eurozonen-Fiskalpolitik, die ähnlich gut wie die der USA wirken könnte. Der Internationale Währungsfonds hat vorgerechnet, dass ein 1-prozentiger Einkommensschock in den USA und der EU dazu führt, dass in der Eurozone die Konsumquote dreimal so stark zurückgeht wie in den USA.

Für die EU gilt: durchdachte Integrationsvertiefung auf der Basis von Bürgerdialogen und Verfassungsfortschritten ist nach dem BREXIT gefordert. Gegenüber UK muss man nicht unbedingt dem Außenminister und gelernten Altphilologen Boris Johnson folgen, der leichtfertig meint, UK bräuchte am Ende beim BREXIT mit der EU auch nicht unbedingt einen Austritts- beziehungsweise Binnenmarktzugangsvertrag. Dass Frau May als Regierungschefin den frühen Schulterschluss ausgerechnet mit dem wirtschaftspolitisch widersprüchlichen US-Präsidenten Trump sucht, der zudem in der Klimapolitik gegen den Konsens der Wissenschaft handelt, zeigt zudem ein verqueres Paar.

Da 62 Prozent der Schotten für Remain beim Referendum gestimmt haben, ist es nicht erstaunlich, dass vonseiten des schottischen Parlamentes ein neues Referendum zur Unabhängigkeitsfrage gefordert wird. Schottlands Unabhängigkeit und der UK-Zerfall durch ein Ende der 1707 zwischen Schottland und England geschlossene Union ist durchaus im BREXIT-Kontext denkbar; jedenfalls wird man in Schottland die Option eines neuen Referendums zur Unabhängigkeit ernsthaft verfolgen. Was das ganze EU-Referendum des Vereinigten Königreiches angeht, so mag man anmerken, dass ohne ein zweites Referendum am Ende niemand wissen kann, was die Mehrheit der Briten – bei normalem Informationsstand – in Sachen EU-Mitgliedschaft denn wirklich will. Es ist sicherlich Sache der Briten, ein EU-Referendum abzuhalten, aber gängige westeuropäische informationspolitische Mindeststandards mit Blick auf das Referendumsthema wird man von der Regierung wohl erwarten müssen.

Es liegt wesentlich an Deutschland und Frankreich, in der EU durchdachte neue Integrationsperspektiven zu entwickeln und jeweils auch national notwendige Reformen durchzusetzen. Für Frankreich geht es dabei um mehr Wachstumsdynamik und vor allem um eine deutliche Verminderung des relativ hohen, regional undifferenzierten Mindestlohnsatzes, der zu einer hohen Jugendarbeitslosenquote über viele Jahre beigetragen hat. Die Jugendarbeitslosenquote Frankreichs ist über Jahrzehnte dreifach so hoch wie in der Schweiz und gut doppelt so hoch wie in Deutschland gewesen. In einer Zeit eines aggressiven Islamismus ist die sehr hohe französische Jugendarbeitslosenquote ein lebensgefährliches Problem. Dass man etwa Karl Poppers Buch „Logik der Forschung“ von 1934 bis heute nicht ins Arabische übersetzt hat – durchaus auch unter Nutzung von EU-Kommissionsmitteln – kann man nur bedauern. Die Expansion des Populismus in vielen EU-Ländern untergräbt die Stabilität und Prosperität wichtiger Mitgliedstaaten; eine unzureichend reformierte EU kann zum weiteren Treiber für Nationalismus und Populismus werden.

Die Zukunft nach dem Brexit

Was die Erwartungen der britischen BREXIT-Wähler angeht, die von einem EU-Austritt Großbritanniens ökonomische Vorteile und Machtzuwachs erwarten, kann man mit einiger Sicherheit feststellen, dass hier viele BREXIT-Wähler – oft mit eher geringem Bildungsgrad – Illusionen unterliegen. Allerdings kann man aus der britischen Wahlforschung und der Analyse von Anti-EU-Motiven in UK auch klar entnehmen, dass vor allem Menschen mit Befürchtungen eines Verlustes an nationaler Identität sich gegen die EU positioniert haben. Die Europäische Union wäre also gut beraten, diese Befunde klug zur Kenntnis zu nehmen. Die Reformgeschwindigkeit in EU-Ländern und auf EU-Ebene ist erkennbar unzureichend, um mit den großen Herausforderungen erfolgreich fertig zu werden. Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass die EU27 allmählich zerfällt und dann um Deutschland eine Art neues Mitteleuropa entsteht, während sich Frankreich als Mittelmeerführungsmacht wird präsentieren wollen. Dass man auf dem Balkan und in Osteuropa mit Blick auf Russland besondere Interessengegensätze haben wird und dass Europa ins späte 19. Jahrhundert zurückfallen könnte – allerdings mit den Großmächten China und USA als globalen Führungsmächten im Nacken – wäre dann denkbar.

Die ökonomischen Kosten des BREXIT sind in UK in 2016 kaum sichtbar gewesen. Denn die starke Pfund-Abwertung beflügelt die britischen Nettoexporte und die US-Aktienhausse nach der Trump-Wahl hat auch die britischen Aktienmärkte nach oben gezogen – die unerwartet solide globale Wirtschaftsentwicklung und der EU27-Wirtschaftsaufschwung stabilisieren zunächst UK. Aber schon 2017 wird die starke Pfund-Abwertung aus 2016 über eine deutlich erhöhte Inflationsrate ein Abbremsen der Zuwächse des Realeinkommens britischer Bürgerinnen und Bürger bringen. Das Wirtschaftswachstum wird abgebremst. Das gilt zusätzlich, wenn Greenfield-Investments ausländischer Multis ab 2017 ausbleiben – also die Errichtung neuer Betriebsstätten in UK –, da man einen verschlechterten britischen Marktzugang zum EU27-Binnenmarkt in der Zukunft befürchtet. Dass Direktinvestitionszuflüsse im Bereich der internationalen Unternehmenszusammenschlüsse und -beteiligungen in UK anziehen, erklärt sich wesentlich aus der starken realen Pfund-Abwertung; künftig wird ein noch größerer Teil der britischen Wirtschaft ausländischen Investoren gehören. Das ist wohlfahrtsökonomisch keineswegs vorteilhaft, da ein erhöhter Teil der in der britischen Wirtschaft erwirtschafteten Gewinne in das Ausland abfließen wird: Es wird nicht allein – wie in der Treasury-Studie betont – das Wachstum des britischen Bruttoinlandsproduktes über etwa eine Dekade geschmälert, sondern in besonderer Weise wird sich auch das Wachstum des Bruttonationaleinkommens vermindern. Was die britische, europäische und globale Wahrnehmung der BREXIT-Kosten angeht, so werden diese in UK umso stärker wahrgenommen werden, je höher der Wachstumsvorsprung der Euro-Staaten gegenüber UK ist – Letzteres wird langfristig eine um etwa einen halben Prozentpunkt verminderte Wachstumsrate haben. Ob eine Kombination geeigneter wachstumsförderlicher nationaler und EU-bezogener Reformen hier tatsächlich einen EU- beziehungsweise Euro-Vorteil sichtbar werden lässt, ist abzuwarten.

Eine hinreichende Problemorientierung fehlt in führenden Ländern der Eurozone noch, von angemessenen energischen Reformen in Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien ganz zu schweigen. Wenn etwa Deutschlands Finanzminister die enorm hohen Exportüberschüsse – mehrjährig um 8 Prozent des Bruttoinlandsproduktes und zwar bei in der EU vereinbarter Obergrenze von 6 Prozent – als nicht beeinflussbar darstellt, so ist dies erstens ökonomisch unrichtig und zweitens auch nicht EU-dienlich. Wenn Deutschland durchaus verständlicherweise fordert, dass etwa die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspaktes einzuhalten sind – 3 Prozent Defizitquote und 60 Prozent Schuldenquote als Standard-Obergrenzen –, dann kann es schlecht mit einem mehrjährigen Überschießen bei der 6-prozentigen Obergrenze für Leistungsbilanzdefizite auftreten, ohne Einfluss zu verlieren und das Regelwerk der EU insgesamt zu beschädigen. Eine sinnvolle Senkung der deutschen Mehrwertsteuersätze zur Stärkung der Inlandsnachfrage und damit zur Dämpfung der deutschen Exportdynamik kann der Finanzminister – noch dazu bei guter Etatlage und Haushaltsüberschüssen – eigentlich zügig umsetzen. Die Dämpfung der deutschen Exportüberschüsse bedeutet spiegelbildlich, dass man zur Exportdynamik der EU- beziehungsweise Euro-Partnerländer beiträgt (und sich dabei auch klug der wenig gerechtfertigten US-Kritik an den hohen deutschen Exportüberschüssen entzieht). Die EU27 ist ein großer und ökonomisch heterogener Wirtschaftsraum mit politisch wenig stabilen Führungsländern; ob eine nach 2017 verbesserte Kooperation und bessere Wirtschaftspolitik in Deutschland und Frankreich sowie Italien zu einer EU27-Stabilisierung nachhaltig wird beitragen können, bleibt abzuwarten. UK dürfte auf seinem BREXIT-Weg fortfahren, trotz ökonomisch klarer Nachteile; erst die denkbare Abspaltung Schottlands könnte nach 2019 zu einer politischen Krise in London und auch bei der Konservativen Partei führen.

Dass Europa durch den BREXIT insgesamt ökonomisch und politisch geschwächt wird, ist unübersehbar. Die Entscheidung in UK ist eine historische Abkehr Großbritanniens von Europa, das überraschende Abstimmungsergebnis zeigt zudem, dass die EU ein sehr schwaches politisches Management hat. Der Graben zwischen den Funktionseliten und großen Teilen der Bevölkerung beziehungsweise der Wählerschaft ist in einigen EU-Ländern gewachsen, gerade auch seit der schweren transatlantischen Bankenkrise 2008/09. Die weitere Expansion populistisch-nationalistischer Kräfte in den politischen Systemen in Europa könnte zum EU-Zerfall – mit langfristig dramatischen Konsequenzen – beitragen. Der Mangel an Selbstkritik nach dem 23. Juni 2016 in Brüssel und in der EU insgesamt ist ein ernstes Problem. Insgesamt lässt sich die UK-Abstimmung als ein Fehlreferendum ansehen, aus dem viele Beobachter weitreichende Schlussfolgerungen ziehen. Es bleibt das klare Simulationsergebnis, dass ein informationspolitisch normaler Referendumsablauf zu einer Pro-EU-Mehrheit geführt hätte. Paradoxerweise hat zum BREXIT auch der Kapitalmarkt beigetragen, auf dem die großen Akteure in der Woche vor dem 23. Juni 2016 auf eine Pro-EU-Mehrheit wetteten. Hier hat eine falsche Politikwahrnehmung zu einer sich selbst zerstörenden Vorhersage am Kapitalmarkt und einer Pfund-Aufwertung geführt; hätte es eine starke Pfund-Abwertung gegeben, die gut 700.000 zusätzliche unentschlossene Wähler für Remain hätte stimmen lassen, dann hätte sich ebenfalls eine sich selbst zerstörende Vorhersage – in andere Richtung – ergeben. Wie man für einen neutralen Kapitalmarkt im Umfeld eines Referendums sorgen kann, bleibt eine große Frage mit neuer Nuance: ob letztlich ohne besondere Kapitalmarkt-Regulierungen Marktwirtschaft und Demokratie problemlos zusammenpassen.

Siehe zum BREXIT-Monitoring auch www.eiiw.eu

Dieser Text erscheint außerdem als EIIW Paper Nr. 234.

 

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Literatur

Die ausführliche Analyse hat Prof. Dr. Paul J.J. Welfens in seinem Buch „BREXIT aus Versehen. Europäische Union zwischen Desintegration und neuer EU“ (Wiesbaden, Springer VS 2017) veröffentlicht, die englischsprachige Ausgabe ist unter dem Titel „An Accidental Brexit“ erschienen.

 

Welfens

 


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