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Byung-Chul Han: Die Krise der Narration

18.10.2023
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Autorenprofil
Dr. Thomas Mirbach
Berlin, Matthes & Seitz Berlin 2023

Narrative scheinen allgegenwärtig. Byung-Chul Han argumentiert hingegen, dass sie an Bedeutung eingebüßt haben. Sein Begriff des Narrativs zielt auf intersubjektiv geteilte integrative Erzählungen. Diese gerieten durch Veränderungen der Öffentlichkeit (Stichwort: soziale Medien) unter Druck und würden durch tendenziell narzisstische Akte der Selbstdarstellung ersetzt. Hier setzt auch die Einschätzung unseres Rezensenten an, der im Buch mehr als ein „Klagen über den Gemeinschaftsverlust“ erblickt – mit handfesten politischen Auswirkungen. (jm)


Eine Rezension von Thomas Mirbach

Der ursprünglich aus der Literaturwissenschaft stammende Begriff des Narrativen ist mittlerweile jenseits aller disziplinären Zuordnungen in den alltäglichen Sprachgebrauch eingewandert und wird – so scheint es – nahezu beliebig verwendet (Assmann 2023). Dieser inflationäre Gebrauch ist für Byung-Chul Han, Professor für Philosophie und Kulturwissenschaft an der Universität der Künste Berlin, nicht nur Zeichen einer narrativen Krise, sondern darüber hinaus auch eine „pathologische Erscheinung der Gegenwart“ (14). Sein Essay, der einen Blick auf die Vorgeschichte dieser Pathologie werfen möchte, beginnt mit starken Thesen. Dazu gehört die Entgegensetzung von Erzählungen, die Gemeinschaften stiften, und dem, was in den sozialen Medien in Form permanenter Selbstdarstellungen zur Vereinzelung der Kommunizierenden führt. Die zunehmende Informatisierung der Gesellschaft erzeuge immer neue Bedarfe nach narrativen Verankerungen, zugleich aber seien die kursierenden Narrative in ihrer Konstruiertheit durchschaubar und würden deshalb als kontingent wahrgenommen. Schließlich fördere eine Digitalisierung, die Erzählungen durch Storytelling ersetzt, eine konsumistische Subjektivierung, für die der Erlebnischarakter von Produkten oder Ereignissen im Vordergrund stehe (9 ff.).

Eine Diskussion dieser Thesen verfolgt Han in zweierlei Hinsichten. Einerseits entwirft er mit vielfältigen Bezügen auf das Werk Walter Benjamins ein emphatisches Modell des Erzählens. Andererseits geht er an zentralen Beispielen den Folgen einer durch technische Dispositive geprägten Kommunikation nach.

Sein Verständnis des Erzählens, illustriert an Beispielen philosophischer und literarischer Tradition, wird nicht systematisch entwickelt. Es hat – im Rahmen eines Essays gewiss zulässig – nahezu den Charakter eines Postulats und liefert in erster Linie eine aus der Tradition gespeiste Referenz, der gegenüber die seines Erachtens pathologischen Phänomene kontrastiert werden. Durch den Vollzug des Erzählens erhielten Ereignisse einen Ort in einer Geschichte, der durch Auswahl und Verknüpfung ihrer Elemente einen Abstand zum Geschehen erzeugt. Erzählen im emphatischen Sinn bedeutet für Han, dass Ereignisse in sinnstiftender Weise auf Basis von Erfahrungen und Überlieferungen in eine temporale Struktur (mit Anfang und Ende) eingebettet werden. Die Sinnstiftung setze zugleich eine spezifische interaktive Relation voraus: „Erzählen und Lauschen bedingen einander. Die Erzählgemeinschaft ist eine Gemeinschaft der Lauschenden“ (21).

Wenn man das Thema so zuschneidet, dann stellen sich indes Fragen hinsichtlich der Gemeinschaftsbildung als wesentlicher Funktion von Erzählungen. Verweist schon jede Form der Gemeinschaftsbildung auf eine zugrundeliegende Erzählung oder sollte man stärker differenzieren nach der Art der jeweiligen (ein- oder ausschließenden) Gemeinschaft? Dass die virulenten populistischen, nationalistischen, rechtsextremen oder tribalistischen Narrative und Verschwörungsideologien Gemeinschaftsbedürfnisse bedienen und auch aufgegriffen werden, dürfte evident sein. Allerdings ist Han überzeugt, dass diese vermeintlichen Sinn- und Identitätsangebote in der „postnarrativen Zeit mit zunehmender Kontingenzerfahrung jedoch keine starke Bindekraft“ entwickeln (11).
Die Stärke des Essays beruht nun gerade darauf, dass Han die begrenzte Bindekraft der narrativen Surrogate nicht primär auf den Verlust letztlich individueller Kompetenzen des Erzählens respektive Zuhörens zurückführt. Den wesentlichen Krisentreiber sieht er vielmehr in den Folgen einer zunehmenden Mediatisierung der Kommunikation unter Abwesenden.

Im Zuge der Digitalisierung werde die „Wirklichkeit […] selbst informations- und datenförmig“ und der Weltbezug scheine primär durch den Zugriff auf und die Verfügung über Informationen vermittelt (22). Dieses Selbstverständnis ist – ebenso wie die landläufige Rede von der „Informationsgesellschaft“ – paradox, denn damit, Han beruft sich hier auf Luhmann, wird die Differenz von Wissen und Information verwischt. Darüber hinaus erzeuge die Informationsflut eine Abfolge von Momentaufnahmen, die nichts erzählen (37). Was immer – so heißt es ganz ähnlich bei Luhmann (1996) – Gegenstand von Information werden kann, wird damit zugleich als kontingent markiert, weil jede Information, sobald sie informiert hat, ihre Qualität als Information verliert. Dieser schnelle Verfallscharakter von Informationen, deren Aufmerksamkeitsreiz nur in der Überraschung bestehe, fragmentiere Zeit und lasse kein reflektierendes Verweilen zu (37).

Eine ähnliche Funktionslogik konstatiert Han bei der Verwendung digitaler Plattformen wie Twitter, Facebook, Instagram, TikTok oder Snapchat. Am „Nullpunkt der Erzählung angesiedelt“ (39) werden von ihnen Lebensereignisse additiv aneinandergereiht und als bloße Informationen behandelt. Während Erzählungen auf der selektiven Verknüpfung von Ereignissen beruhen würden, verhindere schon das technische Dispositiv der digitalen Plattformen eine reflexiv-narrative Verarbeitung des Gelebten. Wenn hier Erzählformate zugelassen seien, dann müssten sie datenbankkonform gestaltet werden; im Effekt „wird Leben in Datensätze“ überführt und in der Tendenz eine „Totalprotokollierung des Lebens“ verfolgt (40). Besonders deutlich werde der Kontrast zum Erzählen bei Anwendungen des Self-Tracking, die über Sensoren diverse Körpervorgänge registrieren würden, um auf Basis derart quantifizierter Daten zur „Self-Knowledge through Numbers“ zu führen (41). Das sei – so Han – reine Schimäre: Zahlen erzählen nichts und aus den Korrelationen von Daten entstehe kein Bild des Selbst.

Zu den pathologischen Phänomenen der digitalisierten Kommunikation zählt Han auch die zunehmende Bedeutung von Visualisierungen. „Wir nehmen die Wirklichkeit fast ausschließlich durch den digitalen Bildschirm wahr“ (69). Vor allem die Handhabung des Smartphones verändere den Weltbezug. Posten, Liken und Sharen seien konsumistische Praktiken, die von der Wirklichkeit des Anderen abschirmen und stattdessen ein imaginäres Spiegelbild konstruieren würden, das letztlich einem sich ausbreitenden Narzissmus zur Geltung verhelfe (69 ff.). Im Extrem komme die Dominanz des Visuellen im Serienkonsum zum Ausdruck: „Binge Watching [„Komaglotzen“] lässt sich zum Wahrnehmungsmodus der digitalen Spätmoderne generalisieren“ (71).
Resümiert man die von Han entworfenen Deutungen der Krise der Narration, dann lassen sich einerseits eine medienkritische und andererseits eine politikkritische Perspektive hervorheben. Die Medienkritik setzt sich mit aktuellen Formen digitaler Entmündigung auseinander, die sich als dezentrales Wirken unterschiedlicher Praktiken und Interessen verstehen lassen (vergleiche Mühlhoff 2018). In der Summe erzeugten diese medialen Technologien ein Informationsregime, das wie eine „neue Herrschaftsform“ wirkt (22). Diese pauschale Diagnose Hans erinnert nicht zufällig an die in den 1960er-Jahren formulierte Kritik Herbert Marcuses des „eindimensionalen Denkens und Verhaltens“ (1969, 32), denn auch das neue Informationsregime etabliere eine smarte Herrschaft: „Die Freiheit wird hier nicht unterdrückt, sondern komplett ausgebeutet“ (23). Komplementär dazu weise die spätmoderne Gesellschaft einen Zerfall politischer Öffentlichkeiten auf. Dies vor allem, weil im neoliberalen Informationsregime Kommunikation kommerzialisiert werde und soziale Netzwerke, „die als Selbstdarstellungen das Private veröffentlichen“, Öffentlichkeit nur simulieren würden (91). Da Han jedoch an der Idee politischen Handelns im emphatischen Sinne festhält, das ein kohärentes und einschließendes Narrativ voraussetzt – beispielhaft verweist er auf den Kantianischen Universalismus (89 f.) – wird man seine Auseinandersetzung mit Phänomenen der narrativen Krise nicht als weitere Variante der Klagen über den Gemeinschaftsverlust in der orientierungslosen Informationsgesellschaft lesen dürfen. Sein Essay belegt vielmehr, dass die Mediatisierung unserer alltäglichen Kommunikationspraktiken – gleichsam hinter unserem Rücken – erhebliche politische Implikationen hat.


Literatur

  • Assmann, Aleida (2023): Was ist ein Narrativ? Zur anhaltenden Konjunktur eines unscharfen Begriffs. In: Merkur 77. Jg, Heft 889, S. 88 – 96.
  • Han, Byung-Chul (2023): Die Krise der Narration. Berlin Matthes & Seitz.
  • Luhmann, Niklas (1996): Entscheidungen in der "Informationsgesellschaft". [https://www.fen.ch/texte/gast_luhmann_informationsgesellschaft.htm; Zugriff 20.08.2023]
  • Marcuse, Herbert (1969): Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Neuwied Luchterhand.
  • Mühlhoff, Rainer (2018): Digitale Entmündigung und User Experience Design.
    Wie digitale Geräte uns nudgen, tracken und zur Unwissenheit erziehen. In: Leviathan, 46. Jg., Heft 4, S. 551 – 574.

 

CC-BY-NC-SA
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