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Judith Butler: Die Macht der Gewaltlosigkeit. Über das Ethische im Politischen

14.06.2023
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Autorenprofil
Prof. Dr. Volker Stümke
Berlin, Suhrkamp 2023

Judith Butler analysiert unsere gegenwärtige Zeit als „von Gräueltaten und sinnlosem Sterben“ geprägt. Sie stellt daher zwei zentrale Fragen: Wie können wir diese Gewalt verstehen und was können wir tun, um sie zu überwinden? Dabei definiert sie Gewalt weitreichend, einschließlich struktureller Formen, und lehnt die Klassifizierung bestimmter gefährdeter Gruppen sowie die Überhöhung staatlicher Gewalt ab. Stattdessen betont sie die Bedeutung innovativer und subversiver Widerstandsformen sowie die universelle Vernetzung aller Menschen. Das Buch wurde von Volker Stümke rezensiert. (nb)


Eine Rezension von Volker Stümke

Dieses Buch, das vier Vorlesungen seit 2016 mit Vor- und Nachwort zusammenbindet, hat sich mir erschlossen, indem ich es von hinten gelesen habe. „Wir leben in einer Zeit zahlloser Gräueltaten und sinnlosen Sterbens“ (225) – diese das Postskriptum einleitende (und leider allzu wahre) Beobachtung, die durch Verweise auf Geflüchtete, Femizide und Polizeigewalt plausibiliert wird, evoziere Butler zur Folge zwei Rückfragen: Wie kann diese Gewalt erfasst und wie kann sie überwunden werden? Zur Erfassung rekurriert Butler auf einen weiten Gewaltbegriff: Die Gewalt habe systemischen Charakter, was schon daraus ersichtlich werde, dass sie teilweise politisch bewusst verschleiert oder verharmlost werde (228). Sie umfasse zudem nicht nur direkte Körperverletzung, sondern auch strukturelle Formen (232). Und sie werde vor allem an Frauen und an Transgenderpersonen verübt.

Nun könnte es naheliegen, zur Überwindung dieser Gewalt auf die Definition besonders gefährdeter Gruppen abzustellen, aber diese Strategie weist Butler zurück. Denn solche Klassifizierung bliebe erstens im paternalistischen Denken verhaftet und würde die Staatsgewalt zum politischen Retter erheben (233). Damit würden zugleich zweitens die politischen Widerstandsformen dieser Gruppen nivelliert, die – im Vergleich zu einem herkömmlichen Beharren auf der Zuständigkeit der Staatsgewalt – innovativ und subversiv seien (234 f.). Mobiltelefone und der „stehende Mann“, der dem öffentlichen Redeverbot in der Türkei folgte, es aber zugleich schlicht durch seine körperliche Präsenz kritisierte, sprechen eine andere Sprache als Verhaftungen. Drittens schließlich bestehe die Gefahr, dass damit Täter*innen wie Opfer individualisiert würden, während doch gerade die Protestformen auf die universelle Vernetzung aller Menschen rekurrierten (239). Alle Menschen seien aufeinander verwiesen und alles Leben gleichermaßen wichtig – diesen Gedanken hatte Butler in den vorangegangenen Kapiteln als Gleichheit der Betrauerbarkeit entfaltet.

Im ersten Kapitel wird diese Gleichheit der Betrauerbarkeit über eine Kritik des Naturzustandes hergeleitet. Jene politische Fiktion, unter anderem bei Hobbes, stelle den Menschen als erwachsenen Mann dar, der selbstgenügsam lebe und agiere und sich vornehmlich mit dem Agieren der anderen Männer arrangieren müsse, was mithilfe des staatlichen Gewaltmonopols gelinge. Aber diese Erzählung verschweige nicht nur die zuvor gefallene Entscheidung über die Geschlechtszugehörigkeit, sie beginne auch nicht am Ursprung, nämlich der Abhängigkeit des Menschen von anderen Menschen (52 f.). „Jedes Individuum entsteht im Verlauf des Prozesses der Individuation. Keiner wird als Individuum geboren“ (57) und niemand könne sich aus eigener Kraft erhalten, sodass die soziale Verfasstheit des Lebens nicht nur für die ersten Lebensjahre gelte (68). Demzufolge sei auch das universelle Tötungsverbot ein Bestandteil dieser anthropologischen Egalität (76). Damit grenzt sich Butler von nationalistischen oder rassistischen Konzepten ab, für die es Ausnahmen von diesem Verbot, namentlich das der Selbstverteidigung, gebe – und damit Leben, das weniger wert sei (74 f.). Schließlich sei auch das „Selbst“ der Selbstverteidigung eingebunden in die universelle Abhängigkeit, und das widerspreche einer Profilierung dieses „Selbst“ zu Lasten anderer – ganz abgesehen vom bereits dargelegten Paternalismusvorwurf. Butlers Plädoyer gegen Ausnahmen vom Tötungsverbot könnte nun aber Abtreibungsgegner*innen in die Hände spielen. Dementgegen notiert sie, dass sie durchaus zunächst für den gleichen Wert des Lebens plädiert, aber genau diese Gleichheit von „Pro Leben“ unterlaufen werde, weil man dort den Anspruch der Frauen auf deren eigenes Leben gegenüber dem Lebensrecht des Embryos als nachrangig einstufe. Angesichts der Debattenlage in den USA ist ihre Haltung politisch überzeugend. Aber ethisch ist eine Retourkutsche erstens kein starkes Argument. Ist darüber hinaus zweitens „der Anspruch von Frauen auf ihr eigenes Leben im Namen von Freiheit und Gleichheit“ (77) nicht auch nur wieder eine Individualisierung, wodurch die erwachsene autarke Person (wie im Naturzustand) zum Paradigma erhoben wird? Und führt grundsätzlich nicht drittens die klare Betonung der ontologischen Rahmenbedingungen bei Butler dazu, dass moralische Kriterien zur Bewertung von Handlungen übersteuert werden?

Butler stärkt im zweiten Kapitel die im Gedanken der gleichen Betrauerbarkeit implizierte Haltung, „das Leben anderer bewahren zu wollen“ (89), indem sie diese psychologisch unter Bezugnahme auf Melanie Klein erläutert. Während Sigmund Freud diese Haltung vor allem als Selbstbeherrschung des Todestriebs (durch die Macht des Über-Ichs) interpretiert habe (111 f.), beschreibe Klein diese Haltung als Sympathie, die durch Identifikation ermöglicht werde (116): Wir übernehmen anderen gegenüber „die Rolle eines guten Elternteils“ (115), indem wir ihr Glück zu befördern suchten – sei es aus Dankbarkeit gegenüber den eigenen Eltern, sei es, um es besser als jene zu machen. Im Hintergrund stehe demnach das gemeinsame soziale Band, sodass das Schuldgefühl (gegenüber der eigenen Mutter) in den Dienst der Bewahrung gestellt werde (123 f.). Das Ich sei demzufolge nicht nur die Ablagerung (der Eltern), sondern auch deren Vermächtnis (128) und die Einsicht in die allgemeine Betrauerbarkeit wohne uns demnach schon immer inne.

Im dritten Kapitel wird die politische Ebene der Gewaltlosigkeit vor allem im Gespräch mit Michel Foucault und Walter Benjamin dargelegt. Weder die Gesellschaft mit ihrer Biomacht samt der ihr innewohnenden Tendenz zum Rassismus noch das Recht und die Staatsgewalt führten demnach aus der Gewaltverwobenheit heraus, weil hier nicht die Verwobenheit und die Interdependenz des Lebens im Vordergrund stehen. Das vierte Kapitel vertieft noch einmal Freuds Einstellung zum Todestrieb und zur möglichen Beherrschung desselben. Beide Kapitel runden die Grundthese dieses Buches ab, dass die Macht der Gewaltlosigkeit in der sozialen Interdependenz wurzele, die sich nicht nur kognitiv über die Einsicht in die wechselseitige Abhängigkeit allen Lebens erschließe, sondern die auch psychisch in der sympathischen Zuwendung zu anderen Menschen als Rollenübernahme elterlicher Erfahrungen verwurzelt sei. Genau diese beiden Wurzeln führen Butler zur Folge dazu, gegenwärtige Gewalt nicht zu befürworten und nicht paternalistisch übergriffig zu werden, sondern vielmehr solidarisch die Protestformen der Gewaltopfer zu unterstützen.

 

CC-BY-NC-SA
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