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Valentin Martin Heimerl: Paritätische Aufstellung von Kandidaten für Bundestagswahlen. Eine verfassungsrechtliche Untersuchung

01.09.2023
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Autorenprofil
Anastasia Pyschny, M.A.
Berlin, Duncker & Humblot 2023

Wie kann der Frauenanteil im Bundestag erhöht werden? Sind gesetzliche Vorgaben hierzu zulässig? Schließlich wurden zwei Paritätsgesetze, die eine alternierende Besetzung der Landeslisten mit Männern und Frauen vorsahen, in Brandenburg und Thüringen für verfassungswidrig erklärt. Valentin Heimerl untersucht ,„inwiefern bundesgesetzliche Vorgaben mit dem Ziel einer paritätischen Besetzung des Bundestags verfassungsrechtlich Bestand haben“ können. Unsere Rezensentin lobt die „geradlinig herausgearbeitete Problematik“ und die auch für Nicht-Jurist*innen „verständliche Prüfung des Sachverhalts“. Und hat dennoch weitere Fragen. (tt)


Eine Rezension von Anastasia Pyschny

Das Thema der Dissertation von Valentin Martin Heimerl war und ist brisant: Die Geschlechterverteilung im Zuge der Kandidat*innenaufstellung. Da der Frauenanteil im Deutschen Bundestag beständig unter dem der männlichen Abgeordneten liegt, wird seit mehreren Jahren darüber nachgedacht, wie dieser Anteil erhöht werden könnte. Die Einführung eines Paritätsgesetzes, das vorsieht, Landeslisten abwechselnd mit Männern und Frauen zu besetzen, wurde nicht nur öffentlich diskutiert, sondern war für die Kandidat*innennominierungen auf Landesebene – in Brandenburg und Thüringen – bereits vorgesehen. Beide Gesetze wurden allerdings im Jahr 2020 für verfassungswidrig erklärt, obgleich ihre „verfassungsrechtliche Zulässigkeit nicht einheitlich beurteilt“ wurde (17).

Vor diesem Hintergrund überprüft Heimerl auf knapp 200 Seiten „inwiefern bundesgesetzliche Vorgaben mit dem Ziel einer paritätischen Besetzung des Bundestags verfassungsrechtlich Bestand haben könnten“ (18). Zu diesem Zweck zeigt er zunächst die mit einem Paritätsgesetz verbundenen Ziele und Kritiken auf, bevor er in mehreren, aneinandergereihten Statistiken, das Geschlechterverhältnis bei Kandidaturen und Mandaten auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene darstellt. Aus diesen Daten zieht er zwei Schlüsse: Erstens komme der parteiinternen Kandidatur für die Geschlechterverteilung im Bundestag eine „zentrale Funktion“ zu, da sie als „Flaschenhals“ fungiere (51). Zweitens lasse sich feststellen, dass Frauen zu einem größeren Anteil in den Bundestag und die Landtage gewählt wurden, als es ihrem Anteil an allen Kandidierenden entsprach. Letzteres spreche „eher gegen als für eine deutliche strukturelle Benachteiligung von Frauen“ (52). Heimerl schlussfolgert dies auch für die Kandidat*innenaufstellung innerhalb der Parteien: Vor allem auf eine Listenkandidatur hätten Frauen gegenüber Männern nach Datenlage „deutlich höhere Chancen“ (57). Weibliche Unterrepräsentation im Bundestag läge folglich nicht an einer strukturellen Benachteiligung von Frauen, sondern eher an „einem deutlich geringeren Frauenanteil unter den Parteimitgliedern“ im Vergleich zu Männern (ebenda).

Nach der Darstellung der satzungsrechtlich äußerst unterschiedlichen Bestimmungen zu Geschlechtervorgaben innerhalb der deutschen Parteien geht Heimerl auf bestehende gesetzliche Regelungen in Frankreich, Belgien und Irland ein. Diese würden zeigen, dass für einen erfolgreichen Ansatz gesetzlicher Paritätsvorgaben zwei Faktoren maßgeblich seien: „die Rahmenbedingungen des konkreten Wahlsystems“ und „ein wirksamer Durchsetzungsmechanismus“, wie zum Beispiel die in Belgien existierende Befugnis der Wahlbehörde, unzureichende Kandidat*innenlisten abzuweisen (75). Vor dem Hintergrund des deutschen Wahlsystems betrachtet der Tübinger Jurist paritätische Gesetzesregelungen in Deutschland ausschließlich für die Besetzung von Listenplätzen, weil dafür – im Gegensatz zur Nominierung der Wahlkreiskandidat*innen – „der bestehende Normbestand“ nicht verändert, sondern lediglich ergänzt werden müsste (90). Weitgehend offen bleibt an dieser Stelle leider die Frage, warum für Heimerl grundlegendere Änderungen des Wahlrechts für die Etablierung eines Paritätsgesetzes per se nicht in Betracht kommen. Schließlich wurden die Paritätsgesetze in Frankreich und Belgien – wie im Buch aufgezeigt wird – sogar von Verfassungsänderungen begleitet. Des Weiteren wurde in Deutschland lange Zeit über die verfassungsrechtlich notwendig gewordene Reform des Wahlrechts diskutiert, sodass paritätische Regelungsvorschläge in diesen Diskurs hätten integriert werden können. Durch das gedankliche Ausklammern tiefgreifender Reformen, beschränkt sich die verfassungsrechtliche Prüfung Heimerls auf die zwischen Männern und Frauen alternierende Besetzung der Landeslisten nach dem so genannten Reißverschlussprinzip. Dabei handelt es sich allerdings − wie er eigens anmerkt − nur um „einen Teil der Mandate“, die „für sich betrachtet noch keine paritätische Zusammensetzung des Parlaments garantieren“, aber einen „wesentlichen Beitrag“ dazu leisten würden (93).

Ein solches Paritätsprinzip wäre gemäß Heimerl verfassungsrechtlich jedoch nicht tragbar, da es die Grundvoraussetzungen politischer Repräsentation, Freiheit und Gleichheit, in erheblichem Maße beeinträchtigen würde (129). Für diese Schlussfolgerung werden sukzessive − und auch für Nicht-Jurist*innen gut nachvollziehbar − mehrere Gründe herausgearbeitet. Zunächst stehe ein derart ausgestaltetes Paritätsgesetz im Widerspruch zur Wahlrechtsfreiheit, da es durch die Beeinflussung der Wahlalternativen die Wahlentscheidung der Wähler*innen, vor allem aber der Parteien und der Bewerber*innen um ein Mandat beschränke (132). Zudem werde die Freiheit der Parteien beschnitten, da sich diese gezwungen sehen könnten, „Kandidaten zu nominieren, die sie bei einer freien Entscheidung nicht oder jedenfalls auf einem deutlich schlechteren Listenplatz nominiert hätte[n]“ (137). Ferner könnten Kandidat*innen vor diesem Hintergrund weniger stark als „Aushängeschilder“ ihrer Parteien wahrgenommen werden und die Kandidat*innenauswahl gegebenenfalls zur Verfälschung des programmatischen Erscheinungsbildes der Partei führen (136 f.).

Auch den Grundsatz demokratischer Gleichheit sieht Heimerl durch paritätische Vorgaben verletzt. Das freie Mandat stellt auf die „Gesamtheit der Bürger und der Abgeordneten im Hinblick auf ihr Mandat“ ab und stehe demnach mit der dem Paritätsgesetz inhärenten Differenzierung in zwei Geschlechtergruppen im Widerspruch (141 f.). In der Anerkennung der Gesamtheit der Bürger*innen und Abgeordneten liege allerdings eine „Funktionsbedingung des Mehrheitsprinzips“ (ebenda), da die Gesamtheit der Abgeordneten nur allgemeinverbindliche Entscheidungen treffen könne, wenn jede*r von ihnen Vertreter*in des ganzen Volkes sei. Weiterhin führt Heimerl an, dass ein Paritätsgesetz die Wahlrechtsgleichheit beeinträchtige, da die Chancen der Kandidaturbewerber*innen auf einen bestimmten Listenplatz in diesem Fall vom Kriterium des Geschlechts abhängig wären. Ebenfalls eingeschränkt sei die Chancengleichheit der Parteien, da sie sich bei der Kandidat*innenaufstellung nach dem Geschlecht richten müssten und Listen – bei strenger Anwendung der Listenparität – weniger Plätze umfassen könnten, sofern einer Geschlechtergruppe weniger Bewerber*innen angehören als der anderen (149).

Aufgrund der von ihm dargestellten verfassungsrechtlichen Beeinträchtigungen kommt Heimerl zu dem Schluss, dass ein solches Paritätsgesetz nicht gerechtfertigt werden könne. Dazu eigne sich auch nicht Artikel 3 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes, wonach der Staat auf die Beseitigung bestehender Nachteile zwischen den Geschlechtern hinzuwirken habe. Diese Norm ziele auf die faktische Chancengleichheit von Männer und Frauen ab und nicht – wie es ein Paritätsgesetz anvisiere – auf die Ergebnisgleichheit. Darüber hinaus weist Heimerl darauf hin, dass mit Blick auf die Listenmandate keine Chancenungleichheit bestehe, da Frauen – wie statistisch zuvor aufgezeigt − im Vergleich zu ihrem prozentualen Anteil innerhalb der Parteien deutlich bessere Chancen auf ein Listenmandat hätten als Männer. Insofern sei die Anwendung eines Paritätsgesetzes unverhältnismäßig und würde durch die Verletzung demokratischer Freiheit und Gleichheit „das grundsätzliche Konzept repräsentativer Demokratie“ missachten (173).

Leider enden die Ausführungen Heimerls genau an dieser Stelle, an der es unter gestalterischen Gesichtspunkten interessant wird. So wird zum Schluss des Buches zwar erwähnt, dass Schritte zur „Steigerung des Engagements von Frauen“ innerhalb der Parteien „zielgerichteter“ ausfallen sollten, um im Folgenden jedoch nur einige Schlagworte, wie „familienfreundliche Sitzungszeiten“ oder „früh ansetzende Förderformate“ anzuführen (170). Wie solche Förderformate für Frauen konkret ausfallen könnten, lässt das Buch genauso offen wie die Frage nach rechtlichen Möglichkeiten, die sich nicht nur auf paritätische Vorgaben für Listennominierungen, sondern – umfänglicher und damit zielführender − auch auf die Wahl der Direktkandidat*innen beziehen könnten.

Insgesamt besticht das Buch trotz dieser Ausklammerungen durch zwei grundlegende Stärken: Die geradlinig herausgearbeitete Problematik, dass ein bundesweites Paritätsgesetz für eine alternierende Besetzung der Landeslisten gleich mehrere verfassungsrechtliche Verletzungen bedeuten würde, sowie die klare, oft zusammenfassende und auch für Nicht-Jurist*innen verständliche Prüfung des Sachverhalts.

 

CC-BY-NC-SA
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