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Die Europäische Union demokratischer gestalten. Nationale Parlamente stärken oder eine EU-Staatsbürgerschaft einführen?

18.10.2018
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Wilhelm Johann Siemers, Dipl.-Politologe

Die Europäische Bürgerinitiative hat sich bislang als eher schwaches Beteiligungsinstrument gezeigt. Im Oktober 2016 diskutierten Mitglieder des Europäischen Parlaments und Expert*innen in einer Euranet Plus Live-Debatte, wie sie gestärkt werden könnte. (Foto: euranet_plus / Wikimedia Commons)Die Europäische Bürgerinitiative hat sich bislang als eher schwaches Beteiligungsinstrument gezeigt. Im Oktober 2016 diskutierten Mitglieder des Europäischen Parlaments und Expert*innen in einer Euranet Plus Live-Debatte, wie sie gestärkt werden könnte. (Foto: euranet_plus / Wikimedia Commons).

 

Schon die Titel der beiden Bücher – „Reshaping the European Union“ (Klaus Weber / Henning Ottmann) und „Europe Reset: New directions for the EU“ (Richard Youngs) – weisen in der Frage, wie sich die Europäische Union in Zukunft ändern sollte, um demokratischer legitimiert zu sein und positiver von ihren Bürger*innen betrachtet zu werden, in unterschiedliche Richtungen. Klaus Weber und Henning Ottmann sehen das Demokratiedefizit der EU in der institutionellen Machtkonzentration der Europäischem Kommission, des Europäischen Parlaments und des Europäischen Gerichtshofs begründet – sie arbeiten ohne entsprechende Legitimation durch die Wähler*innen. Die beiden Wissenschaftler von der Ludwig-Maximilians-Universität München möchten zwar die EU-Institutionen unangetastet lassen, wollen allerdings den politischen Entscheidungsprozess, die Gesetzgebung und die Rechtsprechung ändern. Sie plädieren dafür, dass die nationalen Parlamente der EU-Mitgliedstaaten die dominante Rolle in der EU spielen. Deshalb möchten sie den Europäischen Rat und den Ministerrat stärken und im Gegenzug die Macht der Europäischen Kommission reduzieren. „An important aspect shall be the endeavour to strengthen the democracy within the EU by reducing the power of the Commission and by increasing the power of the national parliaments and their representatives within the EU.“ (435) Ihr Hauptargument für die Stärkung der nationalen Parlamente ist, dass es momentan keine europäische Staatsbürgerschaft und damit keinen europäischen „demos“ (24) gibt. Aus Sicht der Autoren besitzen nur die nationalen Parlamente eine ausreichende Legitimation und Verantwortlichkeit gegenüber den Wähler*innen.


Mehr direkte Bürgerbeteiligung

Der Politikwissenschaftler Richard Youngs von der englischen Universität Warwick setzt an diesem Punkt an: Die Demokratiekrise in der Union sieht er in der fehlenden Beteiligung der EU-Bürger*innen bei der Gestaltung der Gemeinschaftsinstitutionen und der europäischen Politik. Er möchte nicht den Umweg über die Legitimation der nationalen Parlamente gehen, sondern eine europäische Staatsbürgergesellschaft aufbauen, die er „euro-civismo“ (103) nennt. Mit mehr direkter Bürgerbeteiligung möchte er das staatsbürgerliche Fundament der EU-Institutionen stärken. „The central thread of this book is the contention that this new source of integrative fuel must and can be found in empowering European citizens to map a new future for EU cooperation.“ (IX) Bisher hätten die EU-Politiker*innen direkte Bürgerbeteiligung immer gezielt auf Distanz gehalten, so der Wissenschaftler. Offen bleibt allerdings, ob mit dieser Partizipation auch eine Stärkung des Europäischen Parlaments einhergehen sollte.


Konföderation mit begrenzter Supranationalität

Weber und Ottmann analysieren umfangreich und auf dem neusten Forschungsstand die institutionellen Schwächen der EU und zeichnen auch ihre historische Fehlentwicklung nach: Für sie ist die EU kein föderaler Staat und die Europäische Kommission keine Regierung. Auch der Vertrag von Lissabon ist keine Verfassung für die europäischen Staaten, sondern sagt nur etwas über die „Verfasstheit“ (27) der EU aus. Beide Autoren plädieren für eine Konföderation mit begrenzter Supranationalität, in der die Nationalstaaten mit ihren Parlamenten die wesentliche Rolle spielen. „In other words, the EU is not able to replace the well-designed European nation state. Again, this statement does not preclude that a certain degree of supranationality of the EU appears to be necessary.“ (67) Die übergeordneten Ziele einer solchen EU wären die Sicherung des Friedens zwischen den europäischen Staaten, den Wohlstand durch wirtschaftliche Integration zu gewährleisten und die außenpolitische Verhandlungsmacht der EU im globalen Maßstab zu stärken.

Gerichtshof als Motor der Integration

Weber und Ottmann sehen die momentane Ausgestaltung der EU-Institutionen kritisch: Ihnen fehle es an Legitimation, Rechenschaft und Zuständigkeit. So sei das Europäische Parlament nur teilweise legitimiert und die Kommission verfüge nicht über das Monopol der Gesetzesinitiative. Außerdem habe der Europäische Gerichtshof (EuGH) sein Mandat missbraucht und mit seinen Urteilen die verfassungsrechtliche Hoheit der EU-Mitgliedstaaten verletzt. Der EuGH habe dadurch Fakten einer autonomen europäischen Rechtsordnung geschaffen und sich als Motor der europäischen Integration etabliert. Dagegen wenden sich die Autoren: „However, the EU member states have never accepted the supremacy of Union law over national in the EU Treaties. There is no justification for a hierarchical legal order in the EU from European level to the national level and for the autonomy of the European legal order.“ (181 f.)

Nationale Parlamente als Gesetzgeber

Beide Autoren haben eine klare Vorstellung davon, wie sich die EU-Institutionen verändern sollten: Die nationalen Parlamente in den Mitgliedstaaten sollten zu Hauptgesetzgebern werden. „In order to overcome the democratic deficit in the EU, the main actor of future EU law-making should be national parliaments as has been demanded for many years.“ (417) Daher plädieren sie dafür, den Europäischen Rat und den Ministerrat mit mehr Macht auszustatten. Die Aufgabe der Europäischen Kommission sehen die Wissenschaftler als untergeordnete Verwaltung des Europäischen Rates. Die Kommission sollte nicht mehr über das Monopol verfügen, Gesetze zu initiieren. Stattdessen würde sie Gesetzesvorschläge an das Europäische Parlament und eine Kammer von Parlamentariern aus den EU-Mitgliedstaaten (Chamber of National Parliamentarians) weiterleiten. Auch der Europäische Gerichtshof hätte kein Recht mehr, sich in das Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten einzumischen. „The ECJ must refrain from making law. Making EU law is task of the national parliaments via Chamber of National Parliamentarians in cooperation with the national governments and the European Parliament.“ (415) Das demokratietheoretische Argument der Autoren für die Aufwertung des Europäischen Rates und des Ministerrates ist, dass nur die Parlamentarier der EU-Staaten als Mitglieder dieser beiden Institutionen das Mandat der Wähler*innen haben. Ein europäisches Wahlvolk und eine europäische Staatsbürgergesellschaft werde es wegen der Vielfalt in Europa möglicherweise erst in einigen Jahrzehnten geben. „Reshaping the EU implies that the most powerful future EU institutions should be the European Council and the Council since these institutions are representatives of the EU member states.“ (403)

Standardmodell der EU gescheitert

Weitere Jahrzehnte auf eine europäische Staatbürgergesellschaft zu warten, möchte Richard Youngs nicht. Auch er sieht die Misere der EU in der Ausgestaltung ihrer Institutionen. Ihr Hauptkonstruktionsfehler sei der fehlende Einfluss der Bürger*innen. Bisher habe die Europäische Kommission wenig getan, um deren Mitbestimmung und Mitgestaltung in der EU zu ermöglichen. Auch die Idee der Subsidiarität habe keine Fortschritte gebracht, um das Verhältnis zwischen Bürger*innen und Politiker*innen zu verbessern. „The principle of subsidiarity – taking decisions at the closest practicable level to citizen – has been present in EU politics for more than 20 years and has clearly not succeeded in shoring up the Union´s legitimacy.“ (139) Auch die Europäische Bürgerinitiative, die seit 2012 Bürger*innen erlaubt, Petitionen zur EU-Reform einzureichen, habe wenig Wirkung entfaltet. Das Standardmodell der EU, die Zentralisierung der Legislative und Exekutive bei der Europäischen Kommission und dem Europäischen Parlament sowie die Pro-EU-Rechtsprechung des EuGHs, sei gescheitert. Der Wille zur radikalen Veränderung fehle der EU, so der Autor. Deshalb schlägt er vor, die europäischen Bürger*innen an der Ausgestaltung der EU-Institutionen und ihrer Politik stärker zu beteiligen.


Pakt der europäischen Bürger

Im Vordergrund seines Buches steht nicht ein detaillierter Plan, wie einzelne Institutionen und Politikbereiche gestaltet werden sollen. Er präsentiert den Leitgedanken einer europäischen Kooperation der Bürger*innen und nennt ihn „Compact of European Citizens“ (122). Eine Reihe von Bürgerversammlungen in den EU-Mitgliedstaaten sollte Ideen sammeln und Debatten anstoßen, wie eine EU aussehen könnte. Diese Vorschläge sollten von der lokale auf die nationale und dann auf die europäische Ebene gebracht werden. „The Compact would ensure citizens` voices count and that they are able to explore new and open-ended options in a proactive fashion.“ (187) Youngs Ziel ist die Etablierung einer europäischen Staatsbürgergesellschaft, er nennt sie „euro-civismo“ (101). Damit möchte er das staatsbürgerliche Fundament stärken, auf dem die EU steht. „The EU was built on weak civic foundations. […] Europe first needs to strengthen the foundations upon which integration stands.“ (197)


Bürgerbeteiligung keine Gefahr

Befürchtungen, dass Populisten direkte Partizipation ausnutzen könnten, teilt Youngs nicht. Der Anti-EU-Populismus habe gerade in der geringen Bürgerbeteiligung seine Ursache und er meint: „Deeper citizen participation would not be populism`s victory but its antithesis“ (99). Denn eine stärkere Partizipation hätte zwei Effekte: Erstens würden die Bürger*innen über die Grenzen ihres eigenen Landes hinaus sensibilisiert für die Interessen, Bedenken und Ambitionen von Bürger*innen anderer EU-Mitgliedstaaten. Zweitens sind dann die Bürger*innen besser imstande zu entscheiden, welche Rechte und Pflichten sie in der EU haben möchten. Für Youngs ist es wichtig, die fatale Logik des Mehr-oder-weniger-Europa zu verlassen, um die EU flexibel zu gestalten. Welches Ende diese offene Diskussion haben wird, vermag er nicht zu sagen. Eine breite Bürgerbeteiligung stelle keine Gefahr für die EU-Institutionen dar. „I have treated participation and legitimacy as means of improving EU powers and capacities, not of hollowing out the Union´s edifice.“ (193)


it den Bürger*innen eine bessere EU gestalten

Die beiden unterschiedlichen Bücher – bei Weber/Ottmann über eine Reorganisation der Befugnisse der EU-Institutionen, bei Youngs ein Plädoyer für einen Pakt der europäischen Staatsbürger – haben eine gemeinsame Schnittmenge: die Wähler*innen und Staatsbürger*innen in der EU. Weber und Ottmann möchten sie nur durch direkte Abstimmung über zukünftige europäische Verträge einbeziehen. Ihre Beteiligung an der Politik der Union geschehe indirekt durch die nationalen Parlamente, den Europäischen Rat, den Ministerrat, werde durch die Kammer der europäischen Parlamentarier und das Europäische Parlament gewährleistet. Eine Umwandlung der EU in einen föderalen Staat lehnen sie ab, weil die sprachliche, historische, kulturelle und ökonomische Verschiedenheit der EU-Mitgliedsländer zu groß sei. Youngs sieht in dieser Vielfalt gerade die Chance für Europa, um ins Gespräch zu kommen und durch mehr Bürgerbeteiligung eine bessere EU zu bauen, die eine große Legitimation, Verantwortung und Rechenschaft gegenüber den europäischen Staatsbürgern hat. Die EU müsse das Stigma, nur ein Projekt der europäischen Eliten zu sein, loswerden und sich den Bürger*innen Europas zuwenden.

 

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Richard Youngs
Die EU-Agenda muss von normalen Bürgern bestimmt werden
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