Jannis Jost, Joachim Krause (Hrsg.): Jahrbuch Terrorismus 2019-2021
14.06.2023Der Fokus dieses inhaltlich sehr dichten und stringent abgefassten Bandes liege auf rechtsextremistischen Gewalttaten, so Wahied Wahdat-Hagh. Ergänzt werde dies durch Beiträge zu den aktuellen Entwicklungen von islamistischem und linkem Terrorismus. Während globale Radikalisierungsphänomene vor allem mit statistischen Methoden fassbar werden, zeigten Analysen für Europa, dass dort meist Einzeltäter*innen aus unterschiedlichsten Beweggründen und ohne feste Organisationsbindung aktiv würden, so ein Fazit des Buchs. (tt)
Eine Rezension von Wahied Wahdat-Hagh
Die Beiträge im Jahrbuch Terrorismus liefern Analysen zu individuellen Radikalisierungsphänomenen sowie Makro- und Metaanalysen, die helfen sollen, besser auf künftige Bedrohungen vorbereitet zu sein.
So beschreiben Kira Frankenthal, Olha Husieva und Moritz Jänicke die Komplexität und Wandelbarkeit des globalen Terrorismus, der ein „schwer greifbares Phänomen“ (36) darstelle. Statistische Betrachtungen ermöglichten es dennoch, Ausmaß, Erscheinungsformen und Wirkungsweisen des Terrorismus zu erkennen. So ermittelten die Autor*innen mithilfe statistischer Analysen, dass die Zahl terroristischer Vorfälle seit 2015 weltweit tendenziell zurückgehe, obwohl der Islamische Staat (IS) inzwischen global agiere Die meisten Anschläge innerhalb Europas würden von Einzeltäter*innen verübt, die linksradikal, rechtsradikal oder religiös motiviert seien und ohne Zugehörigkeit zu einer terroristischen Organisation handelten. Stefan Goertz zitiert in seinem Beitrag das Bundesamt für Verfassungsschutz und schreibt, dass seit 2004 über 84 islamistische Anschläge verübt worden seien. Er unterteilt den salafistischen Phänomenbereich in den „puristischen, politischen und dschihadistischen Salafismus“ (152). Der Verfassungsschutz komme zu dem Schluss, dass der politische Salafismus religiös legitimierte Gewalt nicht prinzipiell ausschließe. Bedrohungen gingen dabei von islamistischen foreign fighters aus. Mehrere zehntausend von ihnen würden für den Islamischen Staat und al-Qaida kämpfen. Dies würde Deutschland auf zwei Ebenen bedrohen. Zum einen könnte das taktische Niveau dieser Terrorist*innen die Polizeien in Deutschland und Europa vor neue Herausforderungen (162) stellen. Zum anderen könnten die zurückkehrenden Kämpfer*innen hierzulande weitere Personen radikalisieren. Von den zurückkehrenden Dschihadist*innen gehe daher eine massive Bedrohung für Europa aus, so sein Fazit.
Felix Heiduk geht auf die Präsenz des IS im maritimen Südostasien ein. Er konzentriert sich dabei auf Indonesien und die Philippinen als „Hotspots“ (180), in denen der IS bereits seit 2014 präsent ist. Allerdings sei die Terrororganisation zwischen 2014 und 2020 zu keinem Zeitpunkt in der Lage gewesen, „dauerhaft Territorium militärisch zu erobern“ (202), so der Autor.
Aaron Kunze beschreibt, wie arabische Regime wie Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Jordanien sowie Ägypten gemeinsam mit den USA den IS militärisch bekämpften. Lokale islamische Gelehrten hätten diesen Kampf des breiten staatlichen Bündnisses mit ihrem religiösen Diskurs unterstützt. Vor diesem Hintergrund geht Kunze in seinem Beitrag der Frage nach, „warum und wie“ (211) die arabischen Regierungen den IS bekämpft haben. In Ägypten und in Saudi-Arabien seien sich „die islamischen Institutionen einig, dass der IS nichts mit dem Islam zu tun habe“ (234). Die wissenschaftliche Institution al-Azhar beschreibe die „Muslimbruderschaft und den IS als zwei Seiten von ein und derselben Münze, die sich gegenseitig unterstützen“ (235). Beide Organisationen würden von den Gelehrten der al-Azhar als brutal bezeichnet. Kunze übt dabei aber auch Kritik an den Regierungen der genannten Staaten: Da die islamischen Institutionen in Ägypten und in Saudi-Arabien von den Regierungen kooptiert seien, könne der öffentliche religiöse Diskurs über den IS auch „als Instrument zur Stärkung autoritärer Resilienz gewertet werden“ (236). Nämlich dort, wo ein Feindbild aufgebaut werde, um politische Gegner mit dem IS gleichzusetzen.
Britt Ziolkowski geht in ihrem Beitrag auf die Kampfbeteiligung von Frauen im IS ein. Es gebe zahlreiche Hinweise darauf, dass sich Frauen bereits zu Zeiten Mohammeds am Dschihad beteiligt hätten. Wenn es um ihre Einbeziehung gehe, sei der „IS eine der flexibelsten dschihadistischen Organisationen“ (269). Ihre Einbindung in den Dschihad werde innerhalb des IS aber auch kontrovers diskutiert. Der IS habe ebenfalls Phasen der Organisierung von State-Building gehabt, wo seine Vorstellungen zu Geschlechterrollen eher zum Ausdruck gekommen seien, als es um die Gestaltung der angestrebten Gesellschaftsordnung ging. Frauen würden bei Kampfhandlungen als Selbstmordattentäterinnen eingesetzt, weniger bei infanteristischer Kampfführung: „Mit Ausnahme von Selbstmordattentaten“ (286) gäbe es für weibliche Beteiligung in diesem Bereich keine Belege.
Marit-Theres Beumler untersucht die schiitischen Milizen in Nahost und urteilt, dass die Nutzung dieser Milizen eine Strategie sei, „welcher sich der Iran schon seit Jahren“ (243) bediene. Der Iran und Syrien „spielten eine wichtige Rolle der Ausrüstung, Finanzierung und Ausbildung der Miliz“ (244). Die Hisbollah nutze neben konventionellen Kampfhandlungen immer wieder Terroranschläge als „taktisches Mittel ihrer Kriegsführung“ (246). Seit ihrer Gründung 1982 sei es der Hisbollah gelungen, ein militärischer und sozio-politischer Akteur zu werden. Dabei habe der Iran seinen „geostrategischen Einfluss im Nahen Osten“ (247) erheblich ausgeweitet. Zudem sei es dem Iran in den letzten Jahren mithilfe der Milizen gelungen, den eigenen Einfluss auf den Irak und Syrien zu erweitern. Es gäbe zwar keine genauen Zahlen, aber es könne davon ausgegangen werden, dass „der Iran in diesen Ländern mit über 150.000 Soldaten“ (256) vertreten sei. Es bleibe offen, ob der Iran seinen Einfluss in Irak und in Syrien ähnlich wie in Libanon ausbauen könne, denn all dies sei für das Land mit erheblichen Aufwand verbunden. „Allein der finanzielle und logistische Aufwand für die zahlreichen proiranischen Kämpfer ist immens,“ (258) schreibt Beumler.
Christian Hermann erklärt in seinem Beitrag, dass die meisten terroristischen Gruppen nicht durch eine militärische Niederlage endeten sondern weil entweder die Führungsgruppe getötet werde oder die Organisation sich einem „politischen Prozess“ (413) anschließe. In Bezug auf die Aktivitäten des IS im Irak konstatiert Hermann, dass die Bundesregierung sich für eine Fortführung des Anti-Terrorkampfes einsetzen solle, beispielsweise wenn es um die Ausbildung der Sicherheitskräfte und Peschmerga-Einheiten oder um die „militärische und nachrichtendienstliche Zusammenarbeit“ (416) gehe.
Neben dem islamistischen Terrorismus wird in diesem Band schwerpunktmäßig auf Gewalttaten aus dem Bereich des Rechtsextremismus eingegangen.
Norman Siewert analysiert die apokalyptischen Narrative von Rechtsextremisten. Diese prägten das politische Denken eines breiten Spektrums der extremen Rechten als „dynamische Radikalisierungstreiber“ (73) und Mobilisierungsfaktoren und stellten ein Integrationsmoment im heterogenen ideologischen Spektrum dieser Bewegungen dar. Dabei schädigten diese durch endzeitliche Vorstellungen geprägten Erzählungen „die politische Kultur in der liberalen Gesellschaft“ (75). Dies zeige sich an den Wahlerfolgen der AfD und in der aktuellen Dimension rechtsextremistischer Gewalt. So befänden sich nicht nur die extremen Rechten und die Islamist*innen in einer Eskalationsspirale, so dass sich der Begriff einer „kumulativen“ (76) Radikalisierung durchsetzt. Auch linksextremistische Bewegungen seien indes nicht frei von kulturpessimistischen Motiven. Bewegungen wie diese polarisierten die Gesellschaft. Die liberale Demokratie sei hierdurch bedroht, wenn es schwerer werde, Konsens herzustellen und den Pluralismus zu garantieren.
Armin Pfahl-Traughber weist darauf hin, dass erst 2011 bekannt geworden sei, dass der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) über Jahre hinweg Menschen mit Migrationshintergrund ermordet hat. Er spricht von der „Fixierung auf eine besonders brutale Form von rechtsextremistischer Gewalt“ (89) und darüber, dass die Brutalität der rechtsterroristischen Bewegung nicht angemessen wahrgenommen worden sei. Pfahl-Traughber stellt in seinem Beitrag daher einerseits Einzeltäter*innen sowie andere vergleichbare Gruppen dar und analysiert diese in einem systematischen Vergleich. Dadurch würden Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit dem NSU deutlich. Diese terroristische Gruppe bestand aus drei Personen, die der ostdeutschen Neonazi-Szene entstammten. Sie radikalisierten sich „handlungsbezogen und ideologisch und verfügten über Sprengstoff und Waffen“ (95) und gingen 1998 in den Untergrund, bevor sie 2000 ihre Mordserie begannen. Diese zeichnete sich durch eine besondere Brutalität und eine niedrige Hemmschwelle aus. Es bestehe eine Kontinuität der NSU-Ideologie zum früheren Terrorismus aus dem Bereich des Neonazismus. Im Vergleich wird die Oldschool Society unter die Lupe genommen. Diese habe ein hohes Mitteilungsbedürfnis aufgewiesen und sei sogar auf Facebook aktiv gewesen, so dass von der „dümmsten Terrorgruppe“ (97) die Rede war. Die Gruppe Freital, um ein weiteres Beispiel aus der Studie zu nennen, wollte zunächst unter anderem durch Patrouillen für vermeintliche „Ordnung und Sicherheit“ sorgen. Im September 2015 verübte die Gruppe einen Angriff mit Sprengsätzen auf ein Projekt für Geflüchtete. Die Mitglieder dieser Terrorgruppe wurden verhaftet und zu „Freiheitsstrafen zwischen vier und zehn Jahren verurteilt (98). Rechtsextremistische Gewalttaten bewegten sich „nach wie vor auf einem hohen Niveau“ (119). Nicht alle rechtsextremen Gewalttäter*innen seien zuvor Mitglied in einer rechtsextremistischen Organisation gewesen, sondern hätten sich teilweise durch diskursive Einflüsse und persönliche Kontakte „selbstständig“ radikalisiert. Diese sogenannten „Lone Wolfs“ „zeichnet[en] sich durch eine besonders hohe Gewaltintensität aus, welche bis zum gezielten Mord reicht“ (120). Pfahl-Traughber kommt zum Schluss, dass, da die AfD als innerparlamentarische Kraft fremdenfeindliche Auffassungen vertrete, sich die anderen Rechtsextremist*innen nun noch schärfer positionierten und „dies längerfristig gesehen zum Anstieg der Extremismusintensität in diesem politischen Lager führen [dürfte]“ (120).
Maik Fielitz, Karolin Schwarz und Matthias Quent stellen fest, dass der rechtsextreme Terrorismus spätestens seit 2019 eine Herausforderung für die Sicherheit der liberalen Demokratie weltweit darstelle. „Vom neuseeländischen Christchurch bis ins US-amerikanische El Paso Poway, vom norwegischen Baerum bis nach Halle hinterließ der rechte Terror eine Blutspur“ (127) und ihm so über 80 Menschen zum Opfer fielen. Die Motivation der Täter*innen sei gleichgeblieben, aber die „Verwertungstechniken von Rechtsterroristen im digitalen Kontext“ (144) haben sich fundamental geändert. Eine digitale Subkultur sei die treibende Kraft des Rechtsterrorismus geworden. In dieser „hyperaktiven Subkultur“ (136) werde über Memes, Videos und Insiderwitze diskutiert. Frauenhass und toxische Männlichkeit bildeten unter anderem den gemeinsamen Nenner. Neonazis nutzten den Autoren zufolge sowohl öffentlich zugängliche Imageboards und Telegram-Kanäle als auch geschlossene Foren. Die Präventionsarbeit gegen die rechtsextremistischen digitalen Plattformen stecke in „Kinderschuhen“. (145) Sozial isolierte Menschen seien dafür anfällig, sich in digitale Communities zurückzuziehen. Rechtsextreme Inhalte und Gewaltkommunikation haben ein gewisse Normalität im Netz erreicht.
Linda Schlegel analysiert die Faktoren, die die „Radikalisierung begünstigen können“ (294). Sie geht der Frage nach, wie die Gesellschaft widerstandsfähiger gegen Radikalisierung und Terrorismus werden kann. Es gehe um die systematische Erforschung individueller und organisatorischer Faktoren, die, beeinflusst von gesellschaftlichen Faktoren, im Kontext von Extremismus Resilienz generieren können. Dabei wird innerhalb der Resilienzforschung die „Annäherung durch Kohäsion und kollektive Identität“ (298) erforscht. Schlegel konstatiert, dass die Gesamtgesellschaft drei Schritte vollziehen müsse, um ihre Widerstandsfähigkeit gegen Extremismus zu entwickeln: „Kontakt, Vertrauen, gemeinsame Identität“ (306). Die psychosoziale Resilienz gegen den Terrorismus müsse international aufgestellt sein, um effektiv zu sein, so ein Fazit des Beitrags.
Harald Bergsdorf blickt auf die Rote Armee Fraktion (RAF) zurück und kommt zum Fazit, dass der Terror und die Propaganda der RAF die Bundesrepublik zwar erschüttert, „aber in ihrer Substanz und Existenz nie gefährdet“ (388) hätten.
Martin Eikhoff beleuchtet die Frage, inwieweit die hiesige Bevölkerung sowie die medizinischen Dienste auf eine „notfallmedizinische Versorgung nach einem terroristischen Anschlag“ (349) vorbereitet seien. Er kommt zum Ergebnis, dass der „Status quo für die Bewältigung von Terroranschlägen ungeeignet“ (372) sei. Das medizinische Personal müsse weit mehr auf mögliche terroristische Anschlagsszenarien vorbereitet werden.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Jahrbuch inhaltlich dicht und stringent verfasst ist und einen sehr guten Überblick über die Problematik des Terrorismus und über die Möglichkeiten seiner Bekämpfung bietet.