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/ 12.06.2013
Navid Kermani

Iran. Die Revolution der Kinder

München: C. H. Beck 2001; 262 S.; geb., 19,43 €; ISBN 3-406-47399-7
Journalistisch gehaltene Sachbücher brauchen, um den Weg über den Ladentisch zum Leser zu finden, einen peppigen Titel. Ein ähnliches Kalkül hatte wohl der Autor vor Augen. Mit seiner Interesse weckenden These über die revolutionären Kinder des Irans spannt Kermani die Leserschaft unnötig lange auf die Folter. Erst im dritten Kapitel verblüfft der Islamwissenschaftler mit einer Feststellung, die den Leser aufhorchen lässt. "Am 23. Mai 1997 wurde der als Außenseiter angetretene Sejjed Mohammad Ch...
Navid Kermani

Iran. Die Revolution der Kinder

München: C. H. Beck 2001; 262 S.; geb., 19,43 €; ISBN 3-406-47399-7
Journalistisch gehaltene Sachbücher brauchen, um den Weg über den Ladentisch zum Leser zu finden, einen peppigen Titel. Ein ähnliches Kalkül hatte wohl der Autor vor Augen. Mit seiner Interesse weckenden These über die revolutionären Kinder des Irans spannt Kermani die Leserschaft unnötig lange auf die Folter. Erst im dritten Kapitel verblüfft der Islamwissenschaftler mit einer Feststellung, die den Leser aufhorchen lässt. "Am 23. Mai 1997 wurde der als Außenseiter angetretene Sejjed Mohammad Chatami mit rund 70 Prozent der Stimmen, einer Wahlbeteiligung von fast 90 Prozent und gegen den entschlossenen Widerstand fast des gesamten Staatsapparates, der den Gegenkandidaten Ali Akbar Nateq Nuri favorisiert hatte, zum Präsidenten Irans gewählt. Daß die Stimmen der Jugendlichen und Frauen für den überraschenden Wahlausgang verantwortlich waren, konnte man sämtlichen Analysen entnehmen. Aber unterhielt man sich in den Wochen nach der Wahl mit Iranern, wurden einem zahllose Belege dafür geliefert, dass Chatami seinen Erfolg auch denen zu verdanken hat, die ihn gar nicht wählen durften: den Kindern." (64 f.) Doch so recht untermauern kann der in Deutschland als führender Iran-Experte geltende Kermani seine Aussage über die besondere Rolle der Kinder nicht. Vereinzelte Gesprächsstichproben mit den Jugendlichen von Intellektuellen sind zwar interessant, müssen aber nicht repräsentativ sein. "Mit Zehnjährigen diskutierte ich die Kabinettsbildung und staunte, daß einzelne Politiker oder auch Autoren anspruchsvoller soziologischer oder religiöser Schriften wie Popstars verehrt wurden, einschließlich des Starposters über dem Jugendbett." (65) Nur ein kleines Kapitel widmet der Publizist wirklich den jungen Menschen. Es sind Studentinnen und Studenten, welche die Lügen der Staatsobrigkeit satt haben. Auch wenn Kermani die Rolle der Jugend nicht sehr deutlich darlegt, arbeitet er dennoch wichtige Punkte der Gesellschaft im Iran heraus. Die Mehrheit des iranischen Volkes habe die Verquickung von Religion und Staat als Staatsdoktrin der Islamischen Republik längst hinter sich gelassen. Diese gesellschaftliche Erosion bleibe nicht ohne Auswirkung auf das politische System des Landes. Dieses besteht aus einem kleinen Zirkel von Politikern und Geistlichen, die stets die Monopolisierung der Macht im Sinne haben. Die Wahl Chatamis zum Staatspräsidenten sieht Kermani als Protest der Bevölkerung gegen das politisch-religiöse Establishment. Die hervortretenden Reformkräfte seien Reaktionen auf den gesellschaftlichen Wandel. Sogar die staatlich indoktrinierten Hörfunk- und Fernsehanstalten, und dies hätte der Autor noch hinzufügen können, versagten bei der politischen und religiösen Homogenisierung der iranischen Bevölkerung, auch in einer Situation, in der fast alle reformorientierten Presseorgane geschlossen wurden. Realistisch schätzt Kermani den Einfluss Chatamis gegenüber dem Revolutionsführer Chameneí ein. "Trotz des starken Mandats von seiten der Bevölkerung sind die Befugnisse des Präsidenten beschränkt. Schon der Verfassung nach bildet die Regierung nur eines von mehreren Machtzentren innerhalb des Staates. Über ihr steht der Revolutionsführer mitsamt seinen Büros im ganzen Land." (81) Dessen Geheimdienst sei für die anhaltenden Verhaftungen und Ermordungen von Intellektuellen und kritischen Geistlichen verantwortlich und nur ganz vorsichtig wage der Staatspräsident Kritik an der höchsten Instanz des Landes. Insgesamt beschreibt Kermani die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen im Iran in leicht lesbarer Form. Nur führt der Titel den Leser auf eine falsche Fährte, denn die Revolution der Kinder steht im Iran noch bevor. Inhalt: 1. Herbst 1996: Der Staat zertritt den aufkeimenden Widerstand; 2. Reform der Religion: Die schiitische Geistlichkeit beginnt umzudenken; 3. Der Zweite Chordâd: Sejjed Mohammad Chatami wird zum Präsidenten gewählt; 4. Ajatollah Fußball: Die Gesellschaft geht der Politik voran; 5. Die üblichen Verdächtigen: Die Verbrechen des iranischen Geheimdienstes kommen zur Sprache; 6. Das große iranische Staatstheater: Die Islamische Republik feiert ihr zwanzigjähriges Bestehen; 7. Die Kinder entlassen ihre Revolution: Irans Studenten proben den Aufstand; 8. Die Angst der Wächter: 24 Generäle schreiben einen Brief an Präsident Chatami; 9. Die offene Gesellschaft...: Das Unsagbare wird sagbar; 10. Der verleugnete Lehrer: Gott ist mit den Geduldigen: Ein Besuch bei den Montazeris in Ghom; 11. ...und ihre Feinde: Die Revolution richtet sich selbst; 12. Der Tod des Dichters: Huschang Golschiri stirbt, als er nicht mehr um sein Leben fürchten muß.
Wilhelm Johann Siemers (SIE)
Dipl.-Politologe, Journalist, Redakteur der Sprachlernzeitschrift vitamin de, Florenz.
Rubrizierung: 2.63 Empfohlene Zitierweise: Wilhelm Johann Siemers, Rezension zu: Navid Kermani: Iran. München: 2001, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/14004-iran_16780, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 16780 Rezension drucken
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