Parlamente und Parteiendemokratien unter Druck
In fast allen europäischen Ländern hat sich in den zurückliegenden Jahrzehnten die Parteienlandschaft aufgrund von gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen fragmentiert. Dies ist auf der einen Seite ein Zeichen dafür, dass Parteiensysteme in Demokratien in der Lage sind, neue politische Interessen und Weltanschauungen aufzugreifen. Auf der anderen Seite erringen insbesondere populistische und extreme Parteien vermehrt Parlamentsmandate, deren Vertreter*innen aktiv gegen eine pluralistische Demokratie arbeiten. Dies deutet darauf hin, dass die bisher etablierten Parteien mit ihren Lösungsangeboten, Strukturen und Arbeitsweisen bestimmte Bedürfnisse der Wählerschaft nicht mehr befriedigen können. Häufig genannte Defizite von Parteien sind die mangelnde Unterscheidbarkeit ihrer Programme, strukturelle Probleme, wie sinkende Mitgliederzahlen und die Überalterung ihrer Mitgliedschaft oder mangelnde Anpassung an eine moderne Organisationsweise (zum Bei-
spiel Digitalisierung) – und nicht zuletzt Zweifel an ihrer Problemlösungskompetenz. Parteien treffen gleichwohl als kollektive Akteure politische Entscheidungen und setzen diese in für alle verbindliche Beschlüsse von Parlamenten und Regierungen um. Die genannten Defizite können also spürbare Auswirkungen auf das Leben aller Bürger*innen haben, wenn etwa langfristigen Problemen wie den Folgen des Klimawandels oder der sinkenden Biodiversität nicht mit effektiven, gesellschaftlich konsensfähigen Maßnahmen begegnet wird. – Oder, wenn die Parteien im Parlament nicht mehr in der Lage sind, mittelfristig stabile Regierungsbündnisse zu schmieden (Segmentierung) und somit die Funktionsfähigkeit von Regierungssystemen eingeschränkt wäre. Deshalb ist es für das demokratische Gemeinwesen dringend erforderlich, sich mit den Bedingungen, Strukturen und Defiziten von Parteiarbeit und Parteiendemokratie auseinanderzusetzen.
Die Politikwissenschaft befasst sich mit den verschiedenen krisenhaften Phänomenen im Rahmen ihrer Forschung zum Vergleich von Parteiensystemen, zu einzelnen Parteien oder -typen. Sie reflektiert, häufig interdisziplinär mit der Rechtswissenschaft, die Rolle und die Funktionen von Parteien und deren rechtliche Rahmenbedingungen, wie beispielsweise das Parteiengesetz. Forschung zur innerparteilichen Willensbildung ist neben der Koalitionsforschung ein weiteres wesentliches Forschungsfeld in diesem Bereich. Wie kommen Entscheidungen über Personal, Programme und Koalitionsoptionen sowohl inner- wie zwischenparteilich zustande?
Das Machtvakuum in der CDU, infolge der langen Kanzlerschaft Angela Merkels, und auch die Führungskräfteprobleme in den Parteien der westlichen Demokratien haben die Schwierigkeiten bei der Personalrekrutierung und die mangelnde Diversität innerhalb der Parteien offengelegt. Sie erfordern einen genauen Blick zum Beispiel auf die Kandidatenaufstellung der Parteien, innerparteiliche Beteiligungsverfahren oder auch Möglichkeiten des parteilichen Engagements für Nichtmitglieder. Insbesondere auf kommunaler Ebene ist bereits ein eklatanter Personalmangel bei politischen Ämtern zu beobachten, womit die Handlungsunfähigkeit der politischen Selbstverwaltung drohen kann. Populistische und extreme Parteien unterscheiden sich nicht nur durch ihre politischen Forderungen, Handlungsweisen und Narrative von den freiheitlichen Parteien. Sie weisen auch andere innerparteiliche Strukturen und Vorgehensweisen auf. Für ihre Einordnung als Akteure der Willensbildung ist es wichtig, sie zu verstehen.
Dabei sollte sowohl darüber nachgedacht werden, was eigentlich unter dem Begriff ‚Partei‘ zu verstehen ist als auch über gesellschaftliche Konfliktlinien (cleavages), die die Parteien aufgreifen müssen. Die Veränderungen der klassischen Rechts-Links- oder Stadt-Land-Achse werfen Fragen darüber auf, wie die programmatischen Angebote nun systematisch unterschieden werden können. Konservative Politikelemente finden sich zum Beispiel auch bei eher als liberal angesehenen Parteien, wie den Grünen, wieder. In der europäischen Dimension parlamentarischer Entscheidungsfindung spielen die Parteienfamilien eine wichtige Rolle, die diese verschiedenen Orientierungen, die auch quer zu den bisher etablierten Cleavages verlaufen, bündeln. Die meisten politisch-ökonomischen Fragen sind nicht auf nationaler, sondern auf einer höheren Ebene, meist innerhalb der EU, zu lösen. Ein europäisches Parteiensystem hat sich bisher jedoch nicht herausbilden können.
In Wahlkampfzeiten, sei es bei Landes-, Bundes- oder Europawahlen, erleben wir unterdessen die neuen Strategien des politischen Meinungskampfes. Das Plakatekleben und der Straßenwahlkampf haben zwar (noch) nicht ausgedient, aber der moderne Online- und Kampagnen-Wahlkampf verändert zunehmend den Parteienwettbewerb. Die Wahl der Themen stellt sich heute immer kurzlebiger, brisanter und getriebener dar. Der Bundestagswahlkampf 2021 galt gar als besonders inhaltsleer. Parteien müssen es daher schaffen, auf der einen Seite mit dieser Aufmerksamkeitsökonomie umzugehen und gleichzeitig fundierte und professionell-fachliche Lösungsangebote für die drängenden politischen Fragen unserer Zeit zu finden.
Wie weitgehend Parteien im vorpolitischen Raum und in der Durchsetzung von politischen Entscheidungen auch mit anderen Institutionen des öffentlichen Lebens personell verwoben sind, ist eine weitere wichtige Frage mit Blick auf die Gewaltenteilung. Verwaltung, Medien oder Verbände sollen durch ihre politische, aber überparteiliche Haltung helfen, soziale Konflikte zu lösen und die Schnittstelle zu Parteiorganisationen darzustellen. Funktionieren diese Mechanismen auch dann noch, wenn Positionen nach Parteibuch vergeben werden?
Parlamente und Parteiendemokratien unter Druck
Forschungseinrichtungen und Think Tanks
Institut für Deutsches und Internationales Parteienrecht u. Parteienforschung (PRUF)
Institut für Parlamentarismusforschung (IParl)
Weiterführende Links
gegneranalyse.de
Monitoring und Debatten vom Zentrum Liberale Moderne zu Kanälen, die sich als Gegenmedien zur medialen Öffentlichkeit bezeichnen.