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Rezension / 29.01.2025

Wolfgang Merkel: Im Zwielicht. Zerbrechlichkeit und Resilienz der Demokratie im 21. Jahrhundert

Frankfurt am Main, Campus 2023

Wie steht es um die Demokratie als Herrschaftsform und welchen Herausforderungen sieht sie sich gegenüber? Wolfgang Merkel, bis zu seiner Emeritierung Direktor am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), zieht in diesem Buch Bilanz seiner theoretischen und empirischen Auseinandersetzung mit dem Thema. Das Ergebnis ist für Mounir Zahran eine ebenso umfassende wie differenzierte Analyse, die auf Nüchternheit statt Aufgeregtheit setzt und deutlich macht: Trotz ihrer Blessuren und Gefährdungen sollte die Resilienz liberaler Demokratien nicht unterschätzt werden.

Eine Rezension von Mounir Zahran

Den Krisendiagnostikern, die gerade im politischen Feuilleton der Leitmedien den Ton angeben, sei gesagt: Weder die Demokratie noch die Krise gibt es im Singular. Man sollte meinen, dass es dieser recht offenkundigen Erkenntnis nicht an Evidenz und vor allem nicht an unmittelbarer Plausibilität mangelt. Doch die Bereitschaft, Pluralität und interne Heterogenität ernst zu nehmen, scheint – im Feuilleton wie in Teilen der Wissenschaft – bemerkenswert gering. Betrachtet man die brasilianische oder die israelische Demokratie, so meint man dann, eine generelle Krise der Demokratie zu beobachten. Die Krise eines einzelnen demokratischen Systems wird dann schnell zu der Krise der Demokratie insgesamt ausgerufen. Der Sprung vom Konkreten zum Allgemeinen erfolgt hier reflexhaft und bleibt intellektuell unredlich; möglicherweise, weil ein differenziertes Bild manch zugespitzter These den Wind aus den Segeln nehmen würde.

Der Demokratieforscher Wolfgang Merkel, bis zu seiner Emeritierung Direktor am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), erinnert daran, dass die Rede von einer „Demokratiekrise“ nicht ohne ein konzeptionelles Referenzsystem auskommt – ein System, das je nach Region stark variieren kann (147). Dass süd- und lateinamerikanische Demokratien vor ganz anderen Herausforderungen stehen als die Demokratien in den skandinavischen Ländern, werde allzu gerne ausgeblendet. Kein Wunder also, dass sich Merkel mit seinem Buch Im Zwielicht nun zu einer klärenden Intervention genötigt sieht. Es ist nicht weniger als eine Bilanz seiner demokratietheoretischen und empirischen Auseinandersetzungen mit dem Thema seit 1989: „Sie reflektieren den theoretischen wie empirischen Stand der Demokratieforschung von heute. Sie bilden ein Panorama der Probleme, mit denen Demokratien zurzeit konfrontiert sind“ (17).

Merkel, lange Zeit skeptisch gegenüber Krisendiskursen, kann sich der wachsenden Skepsis über den Zustand real existierender Demokratien nicht mehr entziehen. Auch bei ihm scheint sich eine gewisse Ernüchterung über die Zukunftsfähigkeit der Demokratie einzustellen. Neuere Publikationen, die vom Verfall und Niedergang der Demokratie sprechen, hält er allerdings für buchmarktgetrieben und nicht evidenzbasiert. Fragen nach dem Leben oder Tod der Demokratie seien ohnehin nicht konstruktiv, so Merkel. Weitaus sinnvoller sei es, zu fragen, wie liberal, offen und partizipativ Demokratien angesichts gegenwärtiger Herausforderungen bleiben oder werden können (35).

Ein Beitrag zur Versachlichung des Demokratiediskurses

Merkel macht von Beginn an klar: Sein Buch ist keine Provokation, sondern ein Beitrag zur Versachlichung. Im Zwielicht ist ein glattgeschliffenes Werk, frei von Zuspitzungen und ohne das Bedürfnis, mit ‚hot takes‘ die Debatte aufzurühren. Aber ist das schlimm? Wohl kaum. Merkel liefert eine nüchterne Analyse, die nicht auf Aufgeregtheit, sondern Substanz setzt. Neben dem Anspruch, Nüchternheit in die Debatte zu bringen, geht es auch darum, populäre Annahmen zu dekonstruieren.

Beispielsweise werden die 1970er Jahre immer wieder als „Goldenes Zeitalter der Demokratie“ beschrieben. Dies mag für eine bestimmte Gruppe an Bürgern (!) zutreffen, gelte aber nur sehr bedingt für Frauen und ethnische Minderheiten, so Merkel. Die insbesondere der Diagnose der Postdemokratie innewohnende Behauptung, die Demokratien befänden sich seither in einem eindeutigen Rückschritt, sei daher schlichtweg falsch. Gegenüber dem vermeintlichen „Goldenen Zeitalter der Demokratie“ seien stattdessen enorme grundrechtsliberale Fortschritte festzustellen. Es „kann überhaupt kein Zweifel bestehen, dass etwa die USA, Frankreich oder Deutschland im 21. Jahrhundert weit demokratischer sind, als sie es im 20. Jahrhundert je waren“ (150).

Das Buch eignet sich aufgrund genau solcher Passagen auch hervorragend als unvoreingenommene Einführung sowohl in die Demokratietheorie als auch empirische Demokratieforschung. Denn der Autor greift eine Vielzahl von Fragen auf, die in ihrer Perspektivenvielfalt beeindrucken. Die Fragen sind konsequent relational angelegt: Demokratie wird in ihrem Verhältnis zu zentralen Themenfeldern wie Staat, Grenzen, Zeit, Kapitalismus, Krieg, Umwelt, Pandemien, Deliberation, Wissenschaft, Moral und Resilienz betrachtet.

Für eine „demokratiekonforme“ Krisenbearbeitung

Um die Entscheidungslogik von Demokratien klarer herauszustellen, zieht Merkel Autokratien als Vergleichsfolie heran. Dabei lässt sich unabhängig von den einzelnen Themenfeldern eine immer wiederkehrende Beobachtung machen: In Autokratien fallen Gesetzgeber und Gesetzesadressaten auseinander. Hingegen zeichnen sich Demokratien dadurch aus, dass die Gesetze von denen gemacht werden, auf die sie angewendet werden. Gesetzgeber und Gesetzesadressat sind ein und dieselbe Personengruppe. Diese Verbindung zu bewahren, ist für Merkel ein wesentlicher Maßstab demokratischer Qualität, gerade in Zeiten der Krise.

Krisen, so Merkel, bringen jedoch die Versuchung mit sich, demokratische Prozesse zugunsten vermeintlich effizienter Lösungen abzukürzen: „Wenn dies der Fall ist, muss sich der Zeittakt politischer Entscheidungen an das Tempo der Märkte, der Pandemien und Klimaprojektionen anpassen, also sich zu einer »krisenkonformen Demokratie« wandeln? Oder aber muss eine demokratische Politik darauf dringen, die Krisen »demokratiekonform« zu verhindern oder zu bearbeiten“ (118)?

Merkel drängt zu letzterem: Demokratische Entscheidungsprozesse benötigen Zeit, parlamentarische Debatten sind unabdingbar. In der „Stunde der Exekutive“ reduziert sich die politische Handlungsmöglichkeit zu häufig auf einen einzigen vermeintlich alternativlosen Weg, Demokratien zeichnen sich aber gerade durch das Offenhalten von Alternativen aus. Dass Demokratien bei der Lösung von Herausforderungen ihre eigenen Prinzipien unterlaufen und sich damit ungewollt neue, größere Herausforderungen schaffen, ist für Merkel besonders bedenklich. Diese Selbstuntergrabung demokratietheoretischer Ansprüche hält er für eine der zentralen Herausforderungen gegenwärtiger demokratischer Systeme.

Für Merkel liegt das Alleinstellungsmerkmal von Demokratie daher nicht in einer besonderen Problemlösungskompetenz. Diese ist nicht exklusiv demokratisch – auch Autokratien wie Singapur, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Katar oder China zeigen, dass sie komplexe Herausforderungen bewältigen können. Was Demokratien von Autokratien unterscheide, ist nicht das ‚Ob‘ der Problemlösung, sondern das ‚Wie‘ der Entscheidungsfindung. Nur in demokratischen Systemen können sich die Bürger*innen noch als Mitautoren ihrer Gesetze verstehen.

Ein anspruchsvoller Begriff „demokratischer Resilienz“

Gerade in Zeiten von Krisen – sei es im Klimaschutz oder in der Pandemiepolitik – warnt Merkel vor der Versuchung, Entscheidungsprozesse abzukürzen und einer dezisionistischen Logik zu folgen, bei der das schnelle Ergebnis über allem steht. Denn das eigentliche Wesen der Demokratie liege in ihrer prozeduralen Qualität: in der Offenheit der deliberativen Auseinandersetzung und der Möglichkeit, Entscheidungen anzufechten und zu korrigieren. Im Streben nach Effizienz und Ergebnissen dürften Demokratien diesen Kern nicht preisgeben, auch wenn der Druck, einfach durchzuregieren, oft groß ist.

Die Resilienz einer Demokratie misst sich für Merkel nicht an ihrer reinen Systemstabilität, sondern daran, ob sie ihre zeitintensiven demokratischen Entscheidungsprozesse auch in Krisensituationen aufrechterhalten kann. Entscheidend ist dabei weniger die unmittelbare Lösung von Problemen als deren „demokratieschonende Bearbeitung“ (17). Die eigentliche Gefahr sieht Merkel in einer autoritären Ungeduld, die bei jeder neuen Herausforderung droht, demokratische Verfahren zu unterlaufen.

Allerdings warnt er ebenso vor einem blinden Festhalten an bestehenden Prozessen. Resilienz bedeutet für ihn nicht, starr an Althergebrachtem zu verharren, sondern den demokratischen Charakter von Verfahren zu bewahren, während sich diese an neue Herausforderungen anpassen: Nicht die Prozesse als solche gelte es zu bewahren, sondern ihren demokratischen Charakter. Wie diese Anpassungen, Reformen und Innovationen konkret aussehen sollen, lässt Merkel leider offen. Wichtig sei nur, dass diese Reformen demokratische Prinzipien und nicht Effizienz als Maßstab nehmen.

Eine besonders anspruchsvolle Form demokratischer Resilienz sei nämlich, „wenn sich solch neue Verfahren den veränderten Handlungsbedingungen »anpassen« und den essenziellen Prinzipien der Demokratie weiter und vielleicht sogar besser Geltung verschaffen“ (360).

Für die Wiederentdeckung des demokratischen Staates

Für Merkel ist aber auch klar: Demokratie lebt nicht allein von inklusiven Beteiligungsmöglichkeiten und fairen Entscheidungsprozessen. Am Ende des demokratischen Prozesses muss auch Veränderung stehen. Eine solche Erwartung ist an Bedingungen geknüpft, die in den letzten Jahrzehnten zunehmend erodiert seien. Durch die Globalisierung und die Stärkung supranationaler Organisationen wie der EU seien zentrale Entscheidungsbefugnisse auf Ebenen verlagert worden, die sich demokratisch legitimierten Mehrheiten entziehen. Dadurch würden insbesondere Umverteilungsfragen zunehmend in den Hintergrund rücken. Diese fehlende Responsivität demokratischer Institutionen führe dazu, dass sich Demokratien „schrittweise in eine Oberklassen-Oligarchie verwandeln“. Ein System also das „lediglich formal durch allgemeine und freie Wahlen legitimiert wird“ (185). Merkels Antwort auf diese Entwicklung ist die „Wiederentdeckung des Staates […] sowohl in der realen politischen Welt als auch in der Demokratietheorie und der Demokratieforschung“ (72).

Dieser Vorschlag leuchtet ein, denn eine realpolitische Alternative zum Nationalstaat ist nicht in Sicht. Nicht nur hat die Schwächung des Nationalstaates zu einem Abbau demokratischer Steuerungsfähigkeit geführt, Wahlen haben dadurch auch mit Blick auf die Politikgestaltung an Effektivität eingebüßt. Sinkende Wahlbeteiligungen in allen Demokratien weltweit zeugen davon. Bürger*innen erleben zunehmend, dass politische Veränderungen auf demokratischem Wege kaum noch erreichbar scheinen.

Umfassender Einblick in Demokratietheorie und Demokratieforschung

Im schlimmsten Fall könnte die Frustration über die Handlungsunfähigkeit demokratischer Systeme in politische Gewalt oder die Wahl autokratischer Parteien kippen, die politische Erwartungen auf Veränderung in den Augen der Wähler*innen glaubhafter vermitteln können. Die einzige Lösung, so Merkel, liege in der Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit des demokratischen Staates. Gelinge dies, könne der demokratische Staat seine „handlungsstrategische Überlegenheit“ im Wettbewerb mit Autokratien erneut beweisen (73). Denn Legitimität und Fortbestand der Demokratie sei nur durch die Erfüllung der Erwartung zu sichern, dass wirksame politische Veränderungen durch demokratische Entscheidungsprozesse weiterhin möglich sind.

Am Ende der Lektüre von Merkels Buch hat die Leserschaft einen ebenso umfassenden wie differenzierten Einblick in die Demokratietheorie und die empirische Demokratieforschung erhalten. Was bleibt als Fazit? Die Instrumente zur Bewältigung aktueller Herausforderungen wie Migration, Globalisierung, Pandemien und Klimakrisen müssen nicht neu erfunden werden – sie sind bereits vorhanden. Dazu zählen Mechanismen wie internationale Kooperationen, deliberative Entscheidungsprozesse, demokratische Institutionen zur Konfliktbewältigung sowie die Fähigkeit zur institutionellen Innovation und Anpassung. Diese Instrumente sind keine bloßen policy-Inhalte, sondern tief in der demokratischen Struktur verankert und von der Demokratieforschung vielfach untersucht. Merkel zeigt, wie leicht diese Werkzeuge in Krisensituationen übersehen oder unterschätzt werden.   



DOI: 10.36206/REZ25.6
CC-BY-NC-SA
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