Skip to main content
Interview / 04.11.2024

Daniel Ziblatt im Interview: „Die USA drohen in eine Minderheitsherrschaft abzugleiten“

Trump und die alterwürdigen Founding Fathers: Ist die Minderheitsherrschaft schon in der Verfassung angelegt? Foto: The White House via Wikimedia Commons.
Trump und die alterwürdigen Founding Fathers: Ist die Minderheitsherrschaft schon in der Verfassung angelegt? Foto: The White House via Wikimedia Commons.

Die Harvard-Professoren Steven Levitsky und Daniel Ziblatt sind überzeugt: Die amerikanische Demokratie ist in Gefahr, doch diese liegt nicht in der berüchtigten "Tyrannei der Mehrheit", sondern in einer Minderheitenherrschaft. Im Interview erklärt Ziblatt, wie die politischen Institutionen in den USA dafür sorgen, dass eine Partei, die weniger Wählerstimmen gewonnen hat, dennoch die politische Macht übernehmen kann und wie eine radikalisierte Republikanische Partei dieses Demokratiedefizit des amerikanischen Systems strategisch ausnutzt.

Nachdem Sie in Ihrem vorletzten Buch Wie Demokratien sterben die länderübergreifenden Mechanismen herausgearbeitet haben, durch die Demokratien im 21. Jahrhundert zugrunde gehen, konzentrieren Sie sich in Ihrem neuen Buch Die Tyrannei der Minderheit auf die Besonderheiten der Krise der amerikanischen Demokratie. Woran machen Sie diese Krise fest?

Die Organisation Freedom House veröffentlicht jedes Jahr einen Index, der den Zugang zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten misst. Im Jahr 2014 lagen die USA mit 92 von 100 Punkten etwa gleichauf mit Deutschland, Kanada und Großbritannien. Heute liegen die Vereinigten Staaten mit 83 Punkten auf dem Niveau von Rumänien und zwei Punkte hinter Argentinien. Dies verdeutlicht, dass es in den USA zwar keine tiefgreifende demokratische Regression wie beispielsweise in Ungarn gab, aber dennoch ein Rückgang der Demokratie zu verzeichnen ist. Dies ist umso bemerkenswerter, weil die bisherige politikwissenschaftliche Forschung relativ robust zeigt, dass alte und reiche Demokratien gegen einen demokratischen Kollaps immun sein sollten.

Die Ursachen für den Rückgang der Demokratie in den USA sind klar. Die wichtigste Ursache ist sicherlich, dass die Republikanische Partei verlernt hat, das erste Grundprinzip der Demokratie zu respektieren, nämlich Wahlniederlagen zu akzeptieren. Donald Trump hat seine Niederlage gegen Joe Biden nie öffentlich eingestanden und stattdessen eine Kampagne gestartet, um das Wahlergebnis zu kippen. Aber nicht nur Trump, sondern große Teile seiner Partei, weigerten sich, das Wahlergebnis zu akzeptieren.

Hinzu kommt, dass die Republikaner auch gegen das zweite Grundprinzip demokratischer Politik verstoßen: die Gewährleistung einer friedlichen Machtübergabe. Der republikanische Flirt mit der Gewalt gipfelte im Aufstand des 6. Januar 2021, als Trump seine Anhänger dazu aufforderte, zum Kapitol zu marschieren, um die Bestätigung des Wahlergebnisses zu verhindern. Hinzu kommen Einschüchterungsversuche gegen Wahlhelfer*innen, Wahlkreismanipulationen sowie Anstrengungen, den Menschen das Wählen zu erschweren. Wenn sich in einem Zweiparteiensystem aber eine Partei so deutlich von der Demokratie abwendet, wie es die Republikaner getan haben, leidet darunter zwangsläufig die Demokratie als solche.

In ihrem Buch laufen zwei Argumentationsstränge zur Erklärung der Krise der US-Demokratie zusammen: Der erste Strang betrifft den demografischen Wandel der amerikanischen Gesellschaft und die Radikalisierung der Republikanischen Partei. Der zweite Strang bezieht sich auf die Verfassung und die politischen Institutionen. Lassen Sie uns zunächst über die Republikaner sprechen. Wie hängt ihre Radikalisierung mit der Demografie des Landes zusammen?

Um die Radikalisierung der Republikaner richtig zu deuten, ist es zunächst entscheidend zu verstehen, dass die Wähler*innen, die diese in sehr großen Teilen rechtsradikale Partei unterstützen, eine Minderheit darstellen. Dass etwa 30 Prozent der Bevölkerung rechtsradikal wählen, ist im internationalen Vergleich nichts Außergewöhnliches. In den USA liegt dieser Anteil aufgrund des Zweiparteiensystems höher, dennoch bleiben sie in der Minderheit. Aus meiner Sicht lässt sich dieses rechtsradikale Wähler*innen-Potenzial als eine Gegenreaktion auf die wachsende politische, wirtschaftliche, rechtliche und kulturelle Macht nichtweißer Amerikaner*innen und den demografischen Wandel verstehen. Es handelt sich um einen autoritären Backlash gegen die demokratische Inklusion von Minderheiten.

Um diese Entwicklung in den USA zu verstehen, muss man einen Blick in die Geschichte werfen: Die amerikanische Gesellschaft ist in den letzten 60 Jahren diverser geworden und hat sich in Richtung einer multiethnischen Demokratie entwickelt. Dies begann im Zuge der Bürgerrechtsbewegung mit der Verabschiedung des Civil Rights Act von 1964, der Afroamerikaner*innen rechtlich gleichstellte, und des Voting Rights Act von 1965, der die gleiche Beteiligung von Minderheiten bei Wahlen garantieren sollte. Ich würde bestreiten, dass die USA vor Verabschiedung dieser Gesetze überhaupt eine „echte“ Demokratie waren. Auch wenn es weiterhin massive Probleme mit strukturellem Rassismus gibt, haben sich die USA seitdem massiv verändert: Der Anteil der Weißen an der US-Bevölkerung sank von 88 Prozent im Jahr 1950 auf 58 Prozent. Die Zahl gemischter Ehen stieg ebenso stark an wie der Anteil der Amerikaner*innen, die sich als multiethnisch verstehen. Die Zahl nicht-weißer Kongressmitglieder hat sich in den letzten vier Jahrzehnten mehr als vervierfacht.

Doch der Aufstieg der multiethnischen Demokratie und das Bröckeln der rassistischen „Rassenhierarchie“ haben die Wahlchancen der Republikanischen Partei verringert. Dazu muss man wissen, dass die Republikanische Partei die Bürgerrechtsreformen der 1960er-Jahre zwar unterstützte, sich dann aber sehr schnell von ihnen distanzierte. Als Richard Nixon Ende der 1960er-Jahre erkannte, wie viele Vorbehalte es unter Weißen gegen die Gleichstellungspolitik gab, positionierte er die Republikaner als Verfechter einer konservativen Politik, die Wähler*innen ansprach, die sich gegen die Auflösung der überkommenen „Rassenhierarchie“ wandten. Dies waren insbesondere christliche Weiße in den Südstaaten, die einst die Demokratische Partei gewählt hatten, sich nun aber von ihnen abwandten, weil sie die Demokraten als „Partei der Schwarzen“ abstempelten.

Diese Strategie war zunächst elektoral erfolgreich und führte dazu, dass die Republikaner seit 1964 bei jeder Präsidentschaftswahl die Mehrheit der weißen Stimmen erhielten. Diese Stimmen reichten lange Zeit aus, um häufig den Gesamtsieg davonzutragen, doch die geschilderten demografischen Entwicklungen änderten das. 1980 hatte Ronald Reagan 55 Prozent der weißen Stimmen erhalten und damit einen Erdrutschsieg eingefahren. 32 Jahre später gewann Mitt Romney mit 59 Prozent einen sogar noch größeren Anteil der weißen Stimmen, verlor aber die Wahl. Das zeigt: Die Basis der Republikanischen Partei ist bis heute weiß und christlich geblieben, aber Amerika hat sich verändert.

Wenn eine Partei strategisch kaum in der Lage ist, Mehrheiten zu gewinnen, würde man doch erwarten, dass sie gerade in einem Zweiparteiensystem in die Mitte rückt und moderatere Positionen einnimmt. Warum scheint das genaue Gegenteil zu passieren?

Hier kommt der zweite Strang unserer Erklärung ins Spiel: Die entscheidende Frage lautet, wie es möglich ist, dass eine radikalisierte Republikanische Partei, die nur eine große Minderheit repräsentiert, überhaupt regelmäßig an die Macht kommt. Unsere Antwort ist eindeutig: Der Grund liegt in der amerikanischen Verfassung und in der Funktionsweise der politischen Institutionen der Vereinigten Staaten. Die Angst vor der „Tyrannei der Mehrheit“ (Alexis de Tocqueville) ist den politischen Institutionen der USA so tief eingeschrieben, dass sie parteipolitische Minderheiten begünstigen. Die Folge: Die USA drohen in eine Minderheitsherrschaft abzugleiten – eine undemokratische Situation, in der eine Partei, die weniger Wählerstimmen als ihre Konkurrenten gewonnen hat, dennoch die Kontrolle über die entscheidenden Hebel der Macht bekommt.

Besonders undemokratisch ist, dass besonders eine Partei von der Bevorteilung der Minderheit profitiert: nämlich die Republikaner. Denn sie sind heute ganz klar die Partei spärlich besiedelter Räume und Bundesstaaten, die in der US-Politik besonders überrepräsentiert sind. Nur zur Erinnerung: Seit 1992 hat die republikanische Partei zwar nur ein einziges Mal die Mehrheit der Stimmen auf nationaler Ebene (popular vote) gewonnen, doch aufgrund der indirekten Wahl des Präsidenten durch das Wahlkollegium (Electoral College) ging der republikanische Kandidat dreimal als Sieger hervor.

Diese Verzerrung des Mehrheitswillens zugunsten der Republikaner hat dazu geführt, dass sich die Republikanische Partei nie mäßigen und neuen Wählerschichten öffnen musste. Da sie Wahlen gewinnen und Macht ausüben kann, ohne landesweit eine Mehrheit der Wähler*innen hinter sich zu bringen, gibt es für sie keinen Grund, sich den demografischen Realitäten des Landes anzupassen. Im Gegenteil: Als Vertreterin ihrer radikalisierten weißen, christlichen Kernwählerschaft wurde die Partei immer extremer.

Sie hatten die verzerrenden Effekte des Wahlkollegiums schon angesprochen. Welches sind die wichtigsten Institutionen, die dafür sorgen, dass das demokratische Grundprinzip der Mehrheitsherrschaft in den USA teilweise außer Kraft gesetzt ist?

Das Wahlkollegium ist sicherlich der wichtigste Pfeiler der Minderheitsherrschaft. Zum einen vergeben fast alle Bundesstaaten ihre Wahlmännerstimmen nach dem „Winner takes it all“-Prinzip. Zum anderen besteht darin, wie erwähnt, ein leichtes Übergewicht zugunsten ländlicher Regionen, weil sich die Zahl der Wahlmänner pro Bundesstaat aus der Summe der Abgeordneten des Repräsentantenhauses sowie des Senats ergibt, wo ländliche Regionen massiv überrepräsentiert sind.

Die Schieflage im Senat ist dann auch der zweite wichtige Pfeiler der Minderheitsherrschaft. Hier hat Kalifornien mit seinen fast 40 Millionen Einwohner*innen genauso zwei Senator*innen wie Wyoming mit etwas mehr als einer halben Million Einwohner*innen. Dünn besiedelte Staaten, die zusammen weniger als 20 Prozent der US-Bevölkerung ausmachen, können zusammen eine Senatsmehrheit bilden. Aufgrund der Stärke der Republikaner in diesen Bundesstaaten hätten die Demokraten bei den Wahlen 2020 beispielsweise fünf Prozent mehr Stimmen als die Republikaner gewinnen müssen, um den Senat zu kontrollieren.

Der dritte Pfeiler ist der Oberste Gerichtshof, dessen Richter*innen von einem Präsidenten ernannt werden, der die Direktwahl verloren haben kann, und die in ihren Ämtern von einer Senatsmehrheit bestätigt werden, die nur eine Minderheit der Bevölkerung repräsentiert. Hinzu kommt, dass es keine Alters- oder Amtszeitbegrenzung bei den obersten Richter*innen gibt. Einmal ernannt, können sie also bis an ihr Lebensende Recht sprechen und damit demokratische Mehrheiten einschränken oder gar blockieren.

Viertens ist das Instrument des Senatsfilibusters zu nennen. Diese Institution erlaubt es 40 (von insgesamt 100) Senator*innen, Abstimmungen zu verhindern. Einst wurde dieses Mittel nur in Ausnahmefällen eingesetzt, weil es voraussetzte, dass ein Senator durch stundenlange Dauerreden die Abstimmung verhinderte. Inzwischen hat sich die Praxis aber verändert und der Filibuster wurde zur Alltagsroutine, die bloß angemeldet zu werden braucht, sodass für die Verabschiedung aller wichtigen Gesetze de facto mindestens 60 der 100 Stimmen im Senat nötig sind.

Jede dieser Institutionen ist für sich genommen schon problematisch. In ihrem Zusammenspiel machen sie es politischen Mehrheiten unheimlich schwer, ihre Interessen politisch umzusetzen. Dies zeigt sich auch, wenn man sich die Einstellungen der US-Bevölkerung in wichtigen Sachfragen ansieht. Bei vermeintlich so kontroversen Fragen wie dem Abtreibungsrecht, der Waffenkontrolle oder der Erhöhung des Mindestlohns gibt es relativ stabile progressive Mehrheiten, doch die Kluft zwischen dem Mehrheitswillen und den politischen Resultaten ist enorm.

Viele dieser „Pfeiler der Minderheitenherrschaft“ ergeben sich aus der amerikanischen Verfassung, über die sie schreiben: „Viele von Amerikas überlieferten politischen Institutionen sind nicht demokratisch; tatsächlich wurden sie nicht für eine Demokratie geschaffen“. Wie ist es zu erklären, dass die amerikanische Verfassung, die als Meilenstein der Demokratiegeschichte gilt, im Vergleich mit Verfassungen anderer Demokratien so wenig demokratisch ausfällt?

Man darf nicht vergessen, dass die Verfassung aus dem 18. Jahrhundert und damit aus einer vordemokratischen Zeit stammt. Als sie verfasst wurde, gab es nirgendwo eine moderne Demokratie mit gleichen Rechten und allgemeinem Wahlrecht. Wie Sie richtig sagen, waren die Gründerväter zwar Anhänger der Republik, aber die Idee der Demokratie - verstanden als Selbstherrschaft des Volkes - war ihnen suspekt, weshalb sie Institutionen bevorzugten, die das Volk einhegen und zügeln sollten.

Man tut der Staatskunst der Gründerväter, die 1787 in Philadelphia zum Verfassungskonvent zusammenkamen, keineswegs Unrecht, wenn man feststellt, dass die Verfassung als ein großer Kompromiss aus ganz unterschiedlichen Interessen entstand und in erster Linie das Ziel verfolgte, die konkreten Probleme der Staatsgründung zu lösen. Nehmen Sie beispielsweise die Zusammensetzung des Senats mit zwei Stimmen pro Staat, unabhängig von dessen Größe. Das war ein Zugeständnis an die kleineren Staaten sowie an die Sklavenhalterstaaten, die sichergehen wollten, dass ihre Interessen gewahrt bleiben. Alexander Hamilton und James Madison waren strikt gegen diese Gleichstellung von Staaten, weil sie argumentierten, dass Menschen und nicht Territorien repräsentiert werden sollten. Auch das Wahlkollegium war ein Kompromiss, der angenommen wurde, nachdem alle anderen Vorschläge gescheitert waren und der sich ironischerweise ausgerechnet an der „Wahl“ des Kaisers im Heiligen Römischen Reich durch die Fürsten und Fürsterzbischöfe orientierte.

Dies zeigt im Übrigen auch, dass die ursprüngliche Intention eine Bevorzugung der kleinen Bundesstaaten war. Erst als die Asymmetrie zwischen der Größe der Bundesstaaten und der Urbanisierung zunahm, wurde daraus ein Ungleichgewicht zugunsten der ländlichen Staaten, das sich dann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts endgültig zu einem parteipolitischen Ungleichgewicht zugunsten der Republikaner entwickelte. Nur so ist es zu erklären, dass die Republikanische Partei heute eine Wahl verlieren und trotzdem den Präsidenten stellen kann.

Donald Trump hat bei den Wahlen 2020 unter Schwarzen und Latinos mehr Stimmen erhalten als 2016. In aktuellen Umfragen konnte er den Abstand weiter verringern, auch wenn Harris insgesamt sowohl bei den Schwarzen als auch bei den Latinos deutlich führt. Gleichzeitig umgarnt J. D. Vance als republikanischer Vizepräsidentschaftskandidat mit seiner scharfen Kritik an der neoliberalen Globalisierung offen die Arbeiter*innen. Sehen wir hier nicht den Versuch der Republikaner, sich neue Wählergruppen zu erschließen?

Diese aktuellen Umfragedaten deuten in der Tat in diese Richtung. Insbesondere unter jungen schwarzen Männern scheint die Bereitschaft, einen Republikanischen Kandidaten zu wählen, größer zu sein als bei früheren Präsidentschaftswahlen. Auch wenn das bei dieser Wahl einen autoritären Kandidaten wie Trump stärken würde, wäre es grundsätzlich eine gute Entwicklung, wenn beide Parteien darum kämpfen, eine Mehrheit der landesweiten Stimmen zu erringen.

Dennoch würde ich dafür plädieren, die Wahl abzuwarten, um keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Zum jetzigen Zeitpunkt erscheint es zwar möglich, dass Trump bei einem Wahlsieg die Mehrheit der Wählerstimmen erhält, wahrscheinlicher erscheint mir jedoch, dass Trump, sollte er Präsident werden, zwar weniger Wählerstimmen als Harris erhält, es aber dennoch für eine Mehrheit im Wahlkollegium reicht. Sollte er auch diese nicht bekommen, wird er mit hoher Wahrscheinlichkeit den Wahlprozess attackieren und das Ergebnis nicht akzeptieren.

Die neoliberale Wende der demokratischen Partei, die klaffende soziale Ungleichheit und die deutliche Schieflage zugunsten der Reichen in der US-Politik kommen in Ihrem Buch nicht vor. Glauben Sie, dass ökonomische Faktoren bei der Erklärung der Krise der Demokratie in den USA keine Rolle spielen?

Ich bin schon der Auffassung, dass auch ökonomische Faktoren eine Rolle spielen. Ich denke, die Krise der amerikanischen Demokratie speist sich aus mindestens drei Faktoren: erstens dem kulturellen Backlash gegen die multiethnische Demokratisierung, zweitens der großen ökonomischen Ungleichheit und dem Einfluss des Geldes in der Politik und drittens technologischen Entwicklungen wie Social Media. Wenn man die Radikalisierung der Republikanischen Partei verstehen will, scheint mir aber der kulturelle Backlash der wichtigste Faktor zu sein. Schaut man sich die Gründe für die Wahlentscheidungen der US-Amerikaner*innen an, bleibt die Einstellung gegenüber Vielfalt und Fragen von Ethnizität der beste Prädiktor für die Wahl von Trump. Die „racial conservatives“ sind weiterhin die wichtigste Gruppe innerhalb der republikanischen Wählerschaft.

Welche institutionellen Reformen bräuchte es aus Ihrer Sicht, um Mehrheiten zu stärken?

In unserem Buch machen wir zahlreiche Reformvorschläge. Der Grundgedanke hinter all diesen Vorschlägen ist, dass es in den USA für politische Mehrheiten leichter werden muss, an die Macht zu kommen und ihre politischen Interessen durchzusetzen. Entweder Amerika demokratisiert seine Institutionen und wird so zu einer echten multiethnischen Demokratie, oder es wird gar keine Demokratie mehr sein.

Um zu gewährleisten, dass das Wahlergebnis dem Mehrheitswillen entspricht, empfehlen wir erstens das Wahlkollegium abzuschaffen und stattdessen eine nationale Direktwahl des Präsidenten einzuführen. Derzeit sind die USA die einzige Präsidialdemokratie der Welt, in der der Präsident nicht direkt gewählt wird. Zweitens sollte der Senat so reformiert werden, dass die Zahl der gewählten Senator*innen pro Bundesstaat in etwa dem Bevölkerungsanteil entspricht.

Drittens wäre es sinnvoll für die Wahl der Abgeordneten im Repräsentantenhaus statt des Mehrheitswahlrechts das Verhältniswahlrecht einzuführen, um die Sitzverteilung proportionaler zu gestalten. Viertens könnte überlegt werden, das Repräsentantenhaus zu vergrößern, indem große Staaten wie New York, Texas oder Kalifornien mehr Abgeordnete erhalten. Eine solche Vergrößerung hätte den Vorteil, dass sie ohne Verfassungsänderung beschlossen werden könnte und als Nebeneffekt das Ungleichgewicht zugunsten der kleineren Staaten im Wahlkollegium, für dessen Beseitigung die Verfassung geändert werden müsste, zumindest verringern würde. Darüber hinaus müssten fünftens der Senatsfilibuster abgeschafft und sechstens Amtszeitbegrenzungen für Richter*innen am Obersten Gerichtshof eingeführt werden. Dies würde die parlamentarische Mehrheit auf Kosten nicht-majoritärer Institutionen stärken und die Fähigkeit radikaler Minderheiten, mehrheitsfähige Politiken zu blockieren, einschränken.

Bei all dem ist mir wichtig zu betonen, dass die Stärkung der Mehrheit kein Patentrezept für alle Demokratien ist, sondern das spezifische Ergebnis unserer Analyse der Situation in den USA darstellt. Man braucht nur nach Ungarn zu schauen, um zu sehen, dass eine Demokratie auch zu majoritär werden kann und dann der Minderheitenschutz leidet.

Für viele dieser Reformen bräuchten die Demokraten die Unterstützung eben jener Republikaner, die vom Status quo profitieren? Sind diese Vorschläge daher nicht ohnehin zum Scheitern verurteilt?

Ich bin Realist und weiß, dass die Umsetzung dieser Reformvorschläge politisch schwierig ist. Aber ich halte sie nicht für unmöglich. Für die Abschaffung des Filibusters oder die Vergrößerung des Repräsentantenhauses zum Beispiel braucht man keine Verfassungsänderung. Für die anderen Vorschläge muss man aber tatsächlich an der Verfassung ansetzen und da stellt sich natürlich die Frage, warum die Republikanische Partei für Änderungen stimmen sollte, die ihr selbst schaden.

In der Geschichte der USA gab es nur 27 Verfassungsänderungen, was zeigt, wie schwierig sie durchzusetzen sind und momentan ist die parteipolitische Polarisierung enorm, was überparteiliche Initiativen noch unwahrscheinlicher macht. Trotzdem hilft ein Blick auf die Geschichte, um zu verstehen, unter welchen Bedingungen Verfassungsänderungen möglich sind. Häufig waren mächtige soziale Bewegungen entscheidend, sodass Politiker*innen kaum anders konnten als dem Druck nachzugeben. Beispiele wären die Einführung der Direktwahl der Senator*innen ab 1913 oder des Wahlrechts für Frauen auf nationaler Ebene ab 1920.

Für die gegenwärtige Situation ist aber eine andere Bedingung noch entscheidender. Verfassungsänderungen werden wahrscheinlicher, wenn unklar ist, welche Partei in welchem Maße davon profitiert. In den letzten Jahren haben die Republikaner stark von der Existenz des Wahlkollegiums profitiert, aber durch die besprochenen Verschiebungen im Elektorat könnte dieser Vorteil dieses Jahr geringer ausfallen. Sollten die Republikaner in Staaten wie Kalifornien und New York bei ethnischen Minderheiten tatsächlich besser abschneiden als sonst, diese Staaten insgesamt aber weiterhin klar an die Demokraten gehen, würden die Republikaner diese neu gewonnenen Stimmen aufgrund des Mehrheitswahlrechts „verschwenden“.

Eine besondere Dynamik könnte sich entwickeln, wenn sich die Mehrheitsverhältnisse in Texas ändern sollten. Texas stellt die zweitmeisten Wahlmänner im Wahlkollegium und ist seit Jahrzehnten ein „red state“, geht also zuverlässig an die Republikaner. In den letzten Wahlen konnten die Demokraten den Abstand auch aufgrund des demografischen Wandels kontinuierlich verringern, 2020 gewann Trump mit nur noch 6,5 Prozent Vorsprung. Sollte Texas in Zukunft mehrere Wahlen in Folge an die Demokraten gehen, müssten sich die Republikaner sehr genau überlegen, ob sie wirklich zulassen können, dass Millionen republikanischer Stimmen im Wahlkollegium nicht repräsentiert sind, oder ob sie nicht doch eine Reform des Wahlsystems unterstützen sollten. Dies wäre ein mögliches Gelegenheitsfenster für eine große überparteiliche Verfassungsreform.

Ein wichtiger Grund für die Verankerung der Minderheitsherrschaft in der amerikanischen Verfassung ist von Beginn an das Motiv des Schutzes des Privateigentums vor den Massen gewesen. Konsequenterweise schützten die nicht-majoritären Institutionen historisch weit öfter Sklavenhalter und Großgrundbesitzer als vulnerable Minderheiten wie Afroamerikaner*innen. Muss vor diesem Hintergrund nicht konstatiert werden, dass die Verfassung ihren Zweck – den Schutz des Privateigentums vor dem Zugriff der Mehrheit – hervorragend erfüllt, selbst wenn das auf Kosten der Demokratie geht?

Das ist eine ziemlich radikale These, die aus meiner Sicht bis zu einem gewissen Grad aber korrekt ist. Wissen Sie, in den Jahren und Jahrzehnten vor dem amerikanischen Bürgerkrieg gab es eine große Debatte über die Verfassung unter den Abolitionist*innen, die für die Abschaffung der Sklaverei eintraten. Einige argumentierten, die Verfassung sei ein Teufelspakt mit der Sklaverei. Schließlich erlaubte die Verfassung die Sklaverei nicht nur, sondern schützte sie auch als Institution und bevorteilte die Interessen der Sklavenhalter in der nationalen Politik. Daher vertraten einige Abolitionist*innen die Position: Wer die Sklaverei abschaffen will, muss auch gegen die amerikanische Verfassung kämpfen. Auf der anderen Seite gab es Abolitionisten wie Frederick Douglas, die an die Reformierbarkeit der Verfassung glaubten. Sie argumentierten, dass die Verfassung die Möglichkeit ihrer eigenen Demokratisierung enthalte.

Man kann nun in die Geschichte zurückblicken und sich fragen, wer Recht hatte: Einerseits haben die USA bekanntermaßen ihre Verfassung beibehalten und die Sklaverei abgeschafft. Anderseits war dafür ein fast vier Jahre andauernder Bürgerkrieg nötig. Wenn man so will, hat die Verfassung die Möglichkeit ihrer friedlichen Demokratisierbarkeit bei so einem zentralen Problem wie der Sklaverei eben nicht bewiesen. Und dies hängt ganz sicher mit dem beinahe absoluten Schutz des Privateigentums zusammen, der bis heute anhält.

Insofern ist an der Fundamentalkritik sicherlich etwas dran, gleichzeitig würde ich Frederick Douglas zustimmen und betonen, dass die Verfassung die Möglichkeit ihrer Verbesserung offenhält. Fest steht: Würden wir heute eine neue Verfassung aufsetzen, sähe sie sicherlich ganz anders aus und wäre viel besser geeignet, individuelle Freiheiten und politische Gleichheit konstitutionell zu garantieren. Aber wir haben nur die Verfassung, die wir haben, und uns bleibt daher gar nichts anderes übrig, als zu versuchen, sie zu demokratisieren.


Die Fragen stellte David Kirchner.


DOI: 10.36206/IV24.3
CC-BY-NC-SA
Neueste Beiträge aus
Demokratie und Frieden