Aurel Croissant, Tanja Eschenauer-Engler und David Kuehn: Dictators' Endgames
Was passiert, wenn Massenproteste ein autoritäres Regime ins Wanken bringen – und wer entscheidet am Ende über dessen Sturz oder Fortbestand? In solchen „Endspielen“ liegt die entscheidende Macht meist bei der Militärführung, die rational zwischen Loyalität, Seitenwechsel oder Putsch abwägt. Mit einem Entscheidungsmodell und einem Datensatz aus 40 Fällen – von Belarus bis Tunesien – analysieren Aurel Croissant, Tanja Eschenauer-Engler und David Kuehn auch Abweichungen vom erwarteten Muster. Rezensent Christian Gläßel lobt „Dictators’ Endgames“ als analytisch stringentes und empirisch sorgfältig ausgearbeitetes Buch.
Eine Rezension von Christian Gläßel
Rund zwei Drittel der Weltbevölkerung leben aktuell in autoritären Regimen.[1] Das bedeutet, dass über fünf Milliarden Menschen ihre Regierung nicht durch freie und faire Wahlen abwählen können. In Autokratien und Diktaturen finden abweichende Meinungen generell wenig Gehör – und wenn, dann von einer Seite, die man sicher nicht auf sich aufmerksam machen möchte: nämlich Polizei und Geheimdienste, deren Aufgabe es ist, jede Form der Systemkritik und des öffentlichen Aufbegehrens bereits im Keim zu ersticken. Umso bemerkenswerter sind deshalb jene Ausnahmesituationen, in denen sich trotz aller Gefahren und Risiken so viele Menschen zu Protesten versammeln, dass das ganze Regime ins Wanken gerät. Doch welchen Verlauf nehmen solche Massendemonstrationen – und vor allem warum?
Aurel Croissant, Tanja Eschenauer-Engler und David Kuehn liefern in ihrem Buch „Dictators‘ Endgames“ die bislang systematischste Antwort auf diese Frage. Ausgangspunkt ihrer Analyse ist die Beobachtung, dass solche politischen Endspiele nicht etwa vom Volk auf der Straße oder dem Regime selbst entschieden werden, sondern vom Militär – genauer gesagt von dessen Führung. Drei Szenarien sind laut den Autor*innen möglich: (1) Die Militärführung bleibt dem Regime treu und schlägt die Proteste nieder. (2) Sie verweigert dem Regime die Gefolgschaft und wechselt auf die Seite der Protestierenden. (3) Sie putscht und übernimmt selbst die Macht.
Die gesellschaftlichen Folgen dieser Entscheidungen könnten kaum gegensätzlicher sein. Sie reichen von staatlichem Terror bis zu einem demokratischen Neuanfang. „Dictators‘ Endgames“ kommt damit eine besondere Bedeutung zu, nicht nur als theoretisch fundierte Erklärung militärischer Entscheidungslogik, sondern auch als analytisches Werkzeug zur systematischen Erfassung möglicher Umbruchsituationen wie zuletzt in Belarus, Iran, Myanmar und im Sudan.
Theoretisches Modell zur Erklärung militärischer Führungsentscheidungen
Was geschieht, wenn Massenproteste ein autoritäres Regime an den Rand des Zusammenbruchs bringen? Warum setzen manche Militärführungen auf brutale Repression, während andere die Seite wechseln oder sich gar selbst an die Macht putschen? Um diese Fragen zu beantworten, entwickeln Croissant, Eschenauer-Engler und Kuehn ein schlankes, aber erklärungsstarkes entscheidungstheoretisches Modell, das die Militärführung als zentralen politischen Akteur begreift, der verschiedene Handlungsoptionen anhand der zu erwartenden Kosten und Nutzen abwägt. Handlungsleitend für die Militärführung sei stets das Ziel, die organisationalen Interessen des Militärs und die eigenen Privilegien zu maximieren. Repression, ein Seitenwechsel oder ein Staatsstreich sind dementsprechend kein Ausdruck ideologischer Überzeugungen oder historischer Zufälle, sondern Ergebnis rationaler Abwägungen.
Im Zentrum des Analysemodells steht ein mehrstufiger Entscheidungsprozess. Die Militärführung müsse sich dabei zwei aufeinander bezogene Fragen stellen: Soll das Militär dem Regime die Treue halten oder sich davon abwenden? Und wenn es sich abwendet: Ist ein Seitenwechsel zur Opposition oder ein Staatsstreich vorteilhafter?
Das Modell lösen die Autor*innen mithilfe des spieltheoretischen Prinzips der Rückwärtsinduktion. Das heißt, sie beginnen mit der zweiten Entscheidungsebene, die sich darauf reduziert, in welchem Verhältnis der Nutzen eines Seitenwechsels (𝑦) zur Erfolgswahrscheinlichkeit eines Putschversuches (𝑞) steht. Wäre beispielsweise 𝑦 größer als 𝑞, würde sich die militärische Führung im Zweifel für einen Seitenwechsel und gegen einen Putschversuch entscheiden, weil das Risiko eines gescheiterten Coups zu hoch ist.
Ob es überhaupt zu einem Bruch mit dem Regime kommt, entscheide sich jedoch auf der ersten Ebene des Models – das heißt in der ersten Entscheidungsphase. Hier vergleiche die Militärführung den Nutzen loyalen Verhaltens (x) mit dem erwarteten Nutzen einer Defektion – gewichtet mit der Wahrscheinlichkeit (p), dass sie auch nach dem Regimewechsel im Amt verbleiben kann. Es kommt folglich insbesondere darauf an, ob das Militär der Meinung ist, dass es die „Rendite“ seiner Entscheidung überhaupt realisieren kann.
Ausgehend vom Modell leiten die Autor*innen mehrere Hypothesen zu empirischen Einflussfaktoren ab, die jeweils einem der vier zentralen Parameter (x, y, p, q) und damit einer der beiden Entscheidungsebenen zugeordnet sind. Politische Privilegien und materielle Zuwendungen erhöhten beispielsweise den Nutzen loyalen Verhaltens (x) und damit die Wahrscheinlichkeit, dass die Armee dem Regime die Treue hält. Auch askriptive Rekrutierungsmuster, wie etwa ethnische oder religiöse Bevorzugung bei Postenvergabe und Beförderung, gälten als repressionsfördernd, weil die so ins Amt gelangten Generäle im Fall eines Regimewechsels ebenso mit einer Entlassung rechnen müssten (p).
Dagegen zögen Militärführungen für die Entscheidung zwischen einem Seitenwechsel und einem Putsch andere Faktoren heran. Ein Seitenwechsel werde wahrscheinlicher, wenn unbelastete zivil-militärische Beziehungen bestünden und sich das Militär nicht an Menschenrechtsverletzungen beteiligt habe. In solchen Fällen könnten Generäle auf eine wohlwollende Behandlung durch eine neue Regierung hoffen (y). In Ländern mit ausgeprägter Putschtradition hingegen steige die wahrgenommene Erfolgschance eines erneuten Coups (q) und damit die Attraktivität, die Macht selbst zu übernehmen.
Die Stärke des Modells liegt in seiner Klarheit, Systematik und Anschlussfähigkeit. Es macht Entscheidungsprozesse nachvollziehbar, die sonst als chaotisch oder rein kontextabhängig erscheinen. Der analytische Preis dieser Stringenz liegt in bewusst gewählten Vereinfachungen – etwa in der Annahme eines einheitlich handelnden Militärakteurs oder der vollständigen Konzentration der Handlungsmacht bei der Militärführung. Mögliche Versuche des Regimes, während der Proteste aktiv auf die Entscheidung des Militärs einzuwirken, sowie der internationale Kontext bleiben im theoretischen Modell weitgehend unberücksichtigt. Diese und andere Faktoren ließen sich jedoch in zukünftiger Forschung problemlos in das formale Modell integrieren. Auch die Zuordnung empirischer Einflussfaktoren zu jeweils einem Modellparameter ist empirisch nicht immer trennscharf möglich. Gleichwohl benennen die Autor*innen diese Begrenzungen offen, und gerade durch diese methodische Transparenz leistet das Buch einen wichtigen Beitrag zu einer theoriebasierten, vergleichenden Erforschung von Diktaturen in existenziellen Krisensituationen.
Multi-methodisches Forschungsdesign mit Erkenntnisgewinnen auf Makro- und Mikroebene
Die im theoretischen Teil entwickelten Hypothesen werden im Buch sowohl quantitativ als auch qualitativ-vergleichend überprüft. Die empirische Analyse folgt damit einem multi-methodischen Design, das deskriptive Statistiken und Regressionsanalysen (Kapitel 3) mit vertiefenden Fallstudien (Kapitel 4–6) so kombiniert, dass sich die Stärken beider Ansätze ideal ergänzen. Die methodische Umsetzung liefert dabei sowohl Erkenntnisse zu übergreifenden Mustern auf der Makroebene, das heißt über Zeit und Raum, als auch tiefere Einsichten in die situativen Bedingungen einzelner Entscheidungsprozesse auf der Mikroebene.
Grundlage ist ein von Croissant, Eschenauer-Engler und Kuehn erhobener Datensatz, der alle Regimeendspiele weltweit zwischen 1946 und 2014 erfasst. Auch wenn dieser bereits in früheren Arbeiten der Autor*innen Verwendung fand, schmälert das keineswegs seinen Wert. Der Datensatz umfasst insgesamt 40 Fälle, zu denen jeweils eine Vielzahl relevanter Kontextinformationen und Charakteristika dokumentiert wurde.
Seine besondere Stärke liegt in der operativen Präzision, mit der zwischen jenen Massenprotesten unterschieden wird, die tatsächlich die Bedingungen eines Endspiels für ein gegebenes Regime erfüllen, und solchen, die analytisch gesondert betrachtet werden sollten. Diese Trennschärfe verdankt sich einer klaren und eng gefassten Definition. Ein Fall gilt demnach nur dann als Endspiel, wenn vier Kriterien gleichzeitig erfüllt sind: (1) Eine vornehmlich friedliche Form der Massenmobilisierung, (2) die sich gegen das autoritäre Regime richtet, (3) sich weder durch die Polizei noch durch politische Zugeständnisse beenden lässt, (4) und damit eine existenzielle Bedrohung für das diktatorische Regime des Landes darstellt.
Die statistischen Auswertungen im dritten Kapitel bieten erste Evidenz für zentrale Aussagen der Theorie. Dies gilt insbesondere für die erste Entscheidungsebene und die damit verbundene Frage, ob das Militär repressiv eingreift oder sich vom Regime abwendet. Einige Hypothesen, etwa zum Einfluss askriptiver Rekrutierung oder zur materiellen Einbindung des Militärs, finden dabei deutliche Unterstützung. Andere Ergebnisse bleiben weniger eindeutig, was auch an der begrenzten Fallzahl und den daraus resultierenden Einschränkungen bei Modellwahl und Kontrollstruktur liegen mag. Diesen Umstand thematisiert das Buch offen. Auf der zweiten Entscheidungsebene, und der Frage ob das Militär sich auf die Seite der Protestierenden schlägt oder selbst die Macht mit Hilfe eines Putsches an sich reißt, greift die Analyse angesichts nur 23 einschlägiger Fälle auf deskriptive Auswertungen zurück, die die theoretischen Erwartungen des Modells durchweg unterstützen.
Mindestens ebenso aufschlussreich wie der quantitative Teil des Buches sind die qualitativ-vergleichenden Fallstudien. In den Kapiteln 4 bis 6 untersuchen die Autor*innen Endspiele aus unterschiedlichen Episoden vor, während und nach der Dritten Demokratisierungswelle. Sie leisten damit weit mehr als bloße Illustrationen. Dabei finden alle 40 im Datensatz erfassten Endspiele Berücksichtigung; in zwölf Fällen erfolgt eine vertiefte Analyse. Die Fallanalysen folgen dabei einer einheitlichen Struktur und einem theoriegeleiteten Narrativ, das nicht nur die Reichweite des Modells aufzeigt, sondern auch dessen Grenzen auslotet.
Besonders positiv hervorzuheben ist hier die Auswahl der detailreichen Fallstudien. Die Kapitel widmen sich nämlich gerade nicht nur solchen Endspielen, die das Modell gut erklären kann – wie Burma (1988), Haiti (1986) oder Tunesien (2011) –, sondern auch Fällen, in denen das Verhalten der Militärführung von den theoretischen Erwartungen abweicht – etwa in Argentinien (1982), Philippinen (1986) oder Südkorea (1987). Gerade darin liegt ein wesentlicher analytischer Mehrwert der Fallstudien. Die zentrale Frage lautet dabei stets, ob die modellierten Annahmen im konkreten Fall tragen, welche anderen Faktoren relevant waren und was sich daraus ableiten lässt. So dienen die Fallstudien zugleich als Test und als kritische Reflexion des theoretischen Ansatzes.
Über den theoriebezogenen Erkenntnisgewinn hinaus besitzen die Fallstudien auch einen eigenständigen wissenschaftlichen Wert. Sie sind als einheitlich aufgebaute, kompakte Fallrekonstruktionen konzipiert und ermöglichen einen schnellen Zugriff auf zentrale Entscheidungsdynamiken bei Regimekrisen in diktatorisch regierten Ländern. Besonders hilfreich ist zudem die Aufarbeitung empirischer Informationen zu weniger prominenten oder selten systematisch analysierten Fällen wie Madagaskar (1991) oder Sudan (1985).
Erklärungskraft, Anschlussfähigkeit und politische Relevanz
„Dictators‘ Endgames“ ist ein analytisch stringentes und empirisch sorgfältig ausgearbeitetes Buch. Es überzeugt durch einen klaren theoretischen Rahmen, ein konsequent operationalisiertes Konzept und einen neuerhobenen Datensatz, der systematische Vergleiche ermöglicht. Sprache und Aufbau sind ebenso präzise wie zugänglich. Dies macht das Buch zu einer empfehlenswerten Lektüre für Studierende, Forschende und politische Entscheidungsträger*innen gleichermaßen.
Thematische und inhaltliche Parallelen weist das Buch insbesondere zu den Arbeiten von Zoltan Barany,[2] Hicham Bou Nassif[3] und Terrence Lee[4] auf. Alle rücken militärische Entscheidungen in revolutionären Krisenphasen ins Zentrum ausgewählter Fallstudien. „Dictators‘ Endgames“ komplementiert und erweitert bestehende Ansätze – sowohl was die konzeptionelle Präzision als auch die Bandbreite der empirischen Analyse betrifft. Statt einer heuristischen Faktorenliste präsentiert es ein formalisiertes Entscheidungsmodell. Und statt mit breiten Revolutionsdefinitionen arbeitet es mit einem klar abgegrenzten Endspielkonzept.
Neben seinem Beitrag zur vergleichenden Autoritarismusforschung und zur Literatur über zivil-militärische Beziehungen liefert das Buch auch wichtige Impulse für die Analyse aktueller Protestbewegungen in autoritären Kontexten – denn auch heute entscheiden nicht selten Generäle darüber, ob ein Regime gestürzt, stabilisiert oder durch ein neues ersetzt wird.
Im Schlusskapitel skizzieren die Autor*innen konkrete Anschlussmöglichkeiten für Forschung und Praxis. Dies umfasst etwa die Rolle des Militärs in Übergangsphasen, internationalen Reaktionen auf erste Hinweise von Loyalitätsverschiebungen innerhalb des Militärapparats und mögliche politische Hebel für Reformallianzen zwischen zivilen und militärischen Akteuren. Damit bietet „Dictators‘ Endgames“ auch einen fundierten Ausgangspunkt für politische Strategien zur Unterstützung demokratischer Bewegungen und Reformen des Sicherheitssektors.
Wer verstehen will, wie Diktaturen enden, muss sich mit dem Verhalten ihrer bewaffneten Träger beschäftigen und findet in diesem Buch einen überzeugenden Versuch, dieses Verhalten in politischen Ausnahmesituationen systematisch zu erklären.
Anmerkungen:
[1] Nord, Marina et al. (2025): Democracy Report 2025: 25 Years of Autocratization – Democracy Trumped? University of Gothenburg: V-Dem Institute.
[2] Barany, Zoltan (2016): How Armies Respond to Revolutions and Why. Princeton University Press.
[3] Bou Nassif, Hicham (2020): Endgames: Military Response to Protest in Arab Autocracies. Cambridge University Press.
[4] Lee, Terence (2015): Defect or Defend: Military Responses to Popular Protests in Authoritarian Asia. Johns Hopkins University Press.