Skip to main content
Rezension / 21.03.2025

William Partlett: Why the Russian Constitution Matters. The Constitutional Dark Arts

Oxford, Hart/Bloomsbury 2024

William Partlett analysiert die Verfassung als „the forgotten foundation of Russian authoritarianism since 1993“. Die Praxis zeige, dass diese als Blaupause für einen zentralisierten Staat diente, der den demokratischen Wettbewerb aushöhlte und eine personalistische Präsidialautokratie formte. Die Analyse lehnt die Klassifizierung Russlands als semipräsidentielles Regierungssystem ab. Dem sei „eine breite Rezeption zu wünschen“, so Petra Stykow. Sie kritisiert hingegen den Gebrauch von Fantasy-Begriffen wie „constitutional dark arts“ oder „Frankenstaat“ zur Erforschung nicht-demokratischer Dynamiken, dies überschatte die sachlichen Argumente.

Eine Rezension von Petra Stykow

Im publizistischen Mainstream und in der öffentlichen Meinung wird Wladimir Putin – meist unter Verweis auf seine Verstrickungen mit den Geheimdiensten – für das Scheitern der Demokratisierung Russlands verantwortlich gemacht. Dieses Narrativ ist jedoch ebenso unterkomplex wie sein Gegenstück, die umstandslose Ableitung des modernen russländischen Autoritarismus aus den jahrhundertealten, gesellschaftlich tief verwurzelten Traditionen des Landes. Um die Entstehung und Konsolidierung einer personalistischen Präsidialautokratie im postsowjetischen Russland adäquat erklären zu können, müssen vielmehr eine Reihe weiterer Faktoren und deren Wechselwirkungen in den Blick genommen werden, darunter auch die in der Verfassung verankerten politischen Spielregeln.

“The Constitution […] does not give rise to any serious question as to its conformity with the principles of a democratic State governed by the rule of law and respectful of human rights”[1] – so urteilte die Venedig-Kommission des Europarates über Russlands Verfassung kurz nach ihrer Annahme durch ein Referendum im Dezember 1993. Diese Prinzipien, die auch heute noch in ihrem Text enthalten sind, werden aber in einem Maße verletzt, dass einige Forscher sie als typisches Beispiel einer „sham constitution“ ansehen, die in der politischen Praxis bedeutungslos ist.[2] Solchen Interpretationen widerspricht William Partlett, Associate Professor an der Melbourne Law School, mit seinem Buch „Why the Russian Constitution Matters“ entschieden. Putins Herrschaft beruhe zwar – mit Max Weber gesprochen – auch auf traditioneller und charismatischer Legitimität, von primärer Bedeutung sei aber die rational-legale Begründung seiner Herrschaft durch die Verfassung. Sie stelle „the forgotten foundation of Russian authoritarianism since 1993“ (2-3) dar, da sie das Präsidentenamt mit den Instrumenten eines zentralisierten Staates ausstatte, mit deren Hilfe er die demokratischen Elemente außer Kraft setzen könne.

Ein strukturell-normativer Ansatz für die Verfassungsanalyse

In der Vergleichenden Regierungslehre herrscht seit drei Jahrzehnten die Auffassung vor, dass der Präsident Russlands zwar über ungewöhnlich umfassende konstitutionelle Kompetenzen verfüge, es sich aber dennoch um eine prinzipiell demokratieverträgliche Variante des Semipräsidentialismus handele, da die Regierung sowohl von der Legislative als auch dem Präsidenten abhänge (präsident-parlamentarisches Regierungssystem). Partlett weist diese typologische Einordnung zurück. Sie beruhe auf einem methodisch fehlerhaften „Checklisten-Ansatz“, der sich auf seine wenigen Definitionsmerkmale konzentriere, einzelne Regelungen isoliert betrachte und damit das institutionelle Gesamtarrangement verkenne.

Dem setzt er einen „strukturell-normativen“ Ansatz entgegen. Dieser zeichnet sich in seiner strukturellen Dimension dadurch aus, dass die politischen Spielregeln aufeinander bezogen werden. Wie Partlett plausibel argumentiert, wird die konstitutionell verankerte Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament im „Kleingedruckten“ der Verfassung dadurch wieder aufgehoben, dass der Präsident befugt ist, ein Misstrauensvotum der Staatsduma zu ignorieren und diese gegebenenfalls sogar aufzulösen, sollte sie von diesem Instrument Gebrauch machen. Damit sei ein Kernkriterium des Semipräsidentialismus nicht erfüllt (25-26).

Die normative Dimension seines Ansatzes leitet der Autor aus zwei konkurrierenden Verfassungstraditionen ab (Kapitel 1): Die Tradition des „balanced state“, die ursprünglich auf die Verfassungen der britischen Kolonien in Nordamerika zurückgehe, setzt demnach auf Gewaltenteilung, um politischen Pluralismus zu ermöglichen und despotischer Machtausübung vorzubeugen. In der „centralised state tradition“ hingegen wird die Macht zentralisiert, um den Wettbewerb partikularer Interessen beizulegen – notfalls auch durch Zwang. Nationale Einheit und gesellschaftliche Harmonie erscheinen hier als übergeordnetes Staatsziel, das mit „antipolitischen“ Mitteln gesichert werden soll.

Die zentralistische Tradition, die sich in den Verfassungen konstitutioneller Monarchien und staatssozialistischer Einparteiregime im 19. und 20. Jahrhundert nachvollziehen lässt, ist Partlett zufolge seit den 1980er Jahren durch populistische autoritäre Regime im postsowjetischen Raum, Afrika und Lateinamerika sowie in Ungarn und der Türkei wieder aufgegriffen worden (Kapitel 9). Demokratische Garantien und der Schutz individueller Rechte, die sich der „balanced state tradition“ verdanken, werden dort in eine Verfassung eingebettet, die ihrer inneren Logik nach dem Modell des zentralisierten Staates folgt. Solche „hybriden“ Verfassungsdesigns würden irreführend damit begründet, dass (nur) ein „starker“ Staat Demokratie, individuelle Rechte und effektives Regieren garantieren könne. Tatsächlich aber unterminierten sie jedoch sowohl Demokratie als auch Governance. Partlett bezeichnet die entsprechende Argumentation bzw. politische Praxis als „constitutional dark arts“ und Russlands Verfassung als „a classic example of the hybrid constitutional text of the constitutional dark arts” (59).

Russlands „monarchischer Präsidentialismus“

In einem kurzen Durchgang durch die Verfassungsgeschichte des Landes (Kapitel 2) führt der Autor die russländische Tradition des zentralisierten Staates auf Peter I. zurück. Sie sei von den Bolschewiki fortgeführt worden und auch die antisowjetische Dissidentenbewegung, die Anfang der 1990er Jahre eine Allianz mit Boris Jelzin einging, habe nicht mit ihr gebrochen. Vielmehr habe sie ihrerseits antipolitische Vorstellungen gehegt, sich auf universelle Menschen- und Bürgerrechte fokussiert und die Judikative als ebenso effektiven wie ausreichenden Schutz gegen eine übermäßige Machtkonzentration angesehen. Die demokratische Bewegung hätte daher die institutionelle Ausgestaltung einer gewaltenteiligen Staatsorganisation vernachlässigt, auch wenn in den Jahren 1991 bis 1993 ein Verfassungsentwurf ausgehandelt wurde, der einige Elemente eines „balanced state“ enthielt. Nachdem Jelzin jedoch im Spätherbst 1993 seinen Konflikt mit der Legislative mit militärischer Gewalt gelöst hatte, griffen er und seine Berater – so Partlett – zur „dunklen Verfassungskunst“ und modifizierten den Entwurf einseitig zugunsten der Machtkonzentration beim Präsidenten. So seien von der Tradition des „balanced state“ letztlich nur das Demokratiepostulat und der Katalog politischer Rechte übriggeblieben, während die institutionelle Architektur des politischen Systems von der Logik des „centralised state“ geprägt sei.

Im Ergebnis einer eingehenden Verfassungsanalyse (60-70) kommt der Verfasser zu dem Ergebnis, dass die Machtkonzentration beim Präsidenten aus einer Kombination zweier Modelle präsidentieller Macht resultiert: Zum einen werde das Staatsoberhaupt – in Anlehnung an das seinerseits von der monarchischen Tradition geprägte Verfassungsdesign der Fünften Französischen Republik – als ein mit umfassenden nicht-exekutiven Kompetenzen ausgestatteter „Hüter der Verfassungsordnung“ („guardian“) konzipiert. Zum anderen verfüge der Präsident als „Manager“ über die Befugnisse eines Exekutivchefs, was auf die US-amerikanische Verfassung verweise. Keines der beiden Modelle stelle für sich genommen eine Gefahr für die Demokratie dar: Ein Präsident als Hüter der Verfassung ohne Managementbefugnisse könne das politische Tagesgeschäft nicht ohne die Unterstützung der parlamentarischen Mehrheit dominieren; ein Präsident als Chef der Exekutive wiederum werde durch die von ihm unabhängige Legislative eingehegt. Problematisch sei erst die Kombination beider Designs. Sie schaffe einen „monarchischen Präsidentialismus“ (crown-presidentialism), da sie den Präsidenten als eine Institution etabliere, die sowohl außerhalb als auch oberhalb des gewaltenteiligen Systems stehe („outside and above“, 63). Dies verschaffe ihm nahezu unbegrenzte Macht.

Die Begründungen für diese Designentscheidung, die im Umfeld Jelzins formuliert und von vielen Liberalen in Russland wie auch westlichen Beobachtern geteilt wurden, fasst Partlett wie folgt zusammen: Erstens sichere die Zentralisierung der politischen Macht die innenpolitische Stabilität, die für die Implementierung der tiefgreifenden Wirtschaftsreformen und für den Bestand des von separatistischen Bestrebungen bedrohten Staates dringend erforderlich sei. Zweitens sei der Präsident in letzter Instanz dem Volk als Souverän verantwortlich, da er direkt gewählt werde („popular accountability“). Drittens beugten die konstitutionell verbrieften Grundrechte und demokratischen Spielregeln einer exzessiven Machtkonzentration vor, weil sie rechtsstaatliches Handeln vor nationalen und internationalen Gerichten einklagbar machten („legal accountability“, 70-73). Anhand seines Analyserasters argumentiert der Autor in den folgenden Kapiteln (Kapitel 4-7), dass diese Argumente durch die Verfassungswirklichkeit widerlegt werden.

„Constitutional dark arts“ von Jelzin bis Putin

Jelzin, so Partlett, habe als „personal president“ agiert. Er habe sich aggressiv auf die umfassenden Kompetenzen des Staatsoberhauptes als Hüter der Verfassung gestützt und sich einseitig und unkooperativ gegenüber den anderen Schlüsselinstitutionen durchgesetzt. Damit gelang es ihm zwar, die drängendsten Probleme anzugehen, aber der Staat wurde massiv geschwächt. Statt einer Demokratie habe sich ein Zustand des „pluralism by default etabliert, der durch systemische Korruption, ineffiziente Regierungsführung und Rechtsmissbrauch geprägt war. Dass Jelzin 1996 trotz seiner extrem niedrigen Popularitätswerte für eine zweite Amtszeit wiedergewählt wurde, belege die Dysfunktionalität von Wahlen als Mechanismus zur Gewährleistung der Rechenschaftspflicht des Präsidenten gegenüber dem Volk.  Auch die „legal accountability“ des Präsidenten blieb schwach, da sich nur eine Minderheit der (Verfassungs-)Richter dem Ideal des „balanced state“ verpflichtet fühlte. Internationale Akteure wiederum hielten sich mit Kritik zurück, weil sie hofften, die Integration des Landes in das internationale Rechtssystem werde allmählich gewaltenhemmende Wirkungen zeitigen.

Anders als Jelzin habe sich Putin in seinen ersten beiden Amtsperioden als „managerial president“ verstanden, der die Kompetenzen beider Typen präsidentieller Macht für sich beanspruchte. Das von ihm zwischen 2000 und 2008 geschaffene legal-bürokratische Institutionensystem ermöglichte ihm einerseits gewisse Erfolge bei der Stabilisierung der Wirtschaft und der Ausgestaltung des Rechtssystems, entzog sich andererseits aber teilweise seiner Kontrolle. Viele Bürger wandten sich an das Verfassungsgericht und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Abgesehen davon, dass Putin sich an die in der Verfassung verankerte Beschränkung auf zwei Amtszeiten halten musste, führte dies jedoch nicht zu einer effektiven Einhegung seiner Macht auf dem Rechtsweg. Auch der Mechanismus der „popular accountability“ sei weiter geschwächt worden, weil Wahlen zunehmend manipuliert wurden. Gleichzeitig erlangte Putin eine hohe Popularität, die zu einer wichtigen Machtressource wurde. Die Verbindung von rational-legalen mit persönlichen, das heißt charismatischen und traditionellen, Formen der Herrschaftslegitimation ermöglichte es ihm Partlett zufolge, die Politik zu dominieren.

In Dmitri Medwedew sieht der Autor einen „constrained president“: Zwar habe der temporäre Nachfolger Putins (2008-2012) seine Kompetenzen als Verfassungshüter genutzt, um ein ambitioniertes Modernisierungsprogramm zu starten. Dass dieses in seinen wesentlichen Dimensionen scheiterte, habe daran gelegen, dass Medwedew seine Manager-Kompetenzen mit Premierminister Putin teilen musste. Die vielfältigen eigenständigen (außen-)politischen Initiativen Medwedews zeigten aber auch, dass die konstitutionell verbrieften rational-legalen Kompetenzen des Amtes durchaus von Bedeutung seien. Anders als die meisten Beobachter der russländischen Politik hält Partlett ihn daher nicht für eine Art Marionette Putins. Dass er sein Amt nach nur einer Wahlperiode wieder verlor, sei letztlich darauf zurückzuführen, dass es ihm nicht gelungen sei, ein informelles Unterstützungsnetzwerk aufzubauen. Wahlen wurden in dieser Zeit weiter manipuliert, während die Spielräume nationaler und internationaler Gerichte enger wurden.

Mit der Rückkehr Putins ins Präsidentenamt (seit 2012) seien die rational-legale Autorität des Amtes und die nicht-legale persönliche Macht der Person wieder zusammengeführt worden. Dies habe ihn zu einem „imperial president“ gemacht, der das politische System ungehindert zu einer weitgehend geschlossenen Autokratie umbauen und auf Konfrontationskurs mit dem Westen gehen konnte. Die Verfassungsrevision 2020 bedeutet keinen grundsätzlichen Wandel des Regimes, so Partlett. Vielmehr zementierte sie die bis dahin schleichend vollzogene subkonstitutionelle Machtkonzentration, indem sie die Kompetenzen des Präsidenten in den beiden Dimensionen des Verfassungshüters und des Managers stärkten. Zudem wurde eine „neo-imperiale Version“ der Identität Russlands festgeschrieben. Das Land wandte sich explizit vom internationalen Menschenrecht ab, und die nationale Gerichtsbarkeit übernahm legitimatorische Funktionen für die bestehende Herrschaftsordnung. Gleichzeitig sei selbst der Anschein einer Verantwortlichkeit des Präsidenten gegenüber der Bevölkerung weitgehend zerstört worden, indem die Amtszeitbeschränkung für Putin aufgehoben wurde.

Die Bedeutung der Verfassungsreform sieht Partlett darin, dass sie das auf den Präsidenten – sowohl institutionell wie personell – zentralisierte Herrschaftssystem als notwendige Voraussetzung für die Sicherung der Existenz Russlands als Staat und internationale Großmacht kodifizierte. Daraus folgte unter anderem, dass Putins Entscheidung zugunsten des vollumfänglichen Krieges gegen die Ukraine nicht diskursiv legitimiert werden musste: Er konnte sie, so der Autor, unilateral, „antipolitisch“ und ohne öffentliche Debatte treffen, weil sie sich scheinbar zwangsläufig aus der konstitutionell verankerten imperialen Lesart der Geschichte Russlands und seiner „zivilisatorischen Identität“ ergab (148-149).

Eine Verfassung für Russland nach Putin

Partlett verfolgt mit seiner Interpretation der Verfassungsgeschichte die These, dass der konstitutionell festgeschriebene „monarchische Präsidentialismus“ die autoritäre Ausübung der politischen Macht in Russland zumindest begünstigt. Das Gleiche gelte für viele weitere nicht-demokratische Regime, die er als Fälle eines „populistischen Autoritarismus“ klassifiziert und in Kapitel 9 diskutiert. Auf der Grundlage seiner Erkenntnisse formuliert er Empfehlungen für die Ausarbeitung einer neuen russländischen Verfassung (Kapitel 8) und für die „Erneuerung“ des globalen demokratischen Konstitutionalismus (Kapitel 10).

Der Autor geht davon aus, dass der „monarchische Präsidentialismus“ in Russland auch nach dem Ausscheiden Putins aus dem Amt seine Verfechter finden werde. Gleichwohl sei nicht auszuschließen, dass sich dann ein Möglichkeitsfenster für eine grundlegende Verfassungsreform öffne, da Putins Machtfülle auch auf seiner großen informellen Autorität beruhe, über die ein neuer Präsident (noch) nicht verfügen werde. In einem solchen Fall käme es darauf an, diskursiv und institutionell mit der Tradition des „centralised state“ zu brechen und an die des „balanced state“ anzuknüpfen, die auf politischen Pluralismus und Gewaltenkontrolle statt auf Antipolitik und gesellschaftliche Harmonie setzt (170-178).

Wenn man an einem direkt gewählten Präsidenten festhalten wolle, so Partletts Empfehlung, müsse dieser als Staatsoberhaupt konzipiert werden, das die Einheit der Nation verkörpere, während die Tagesgeschäfte einer Regierung zu übertragen seien, die von der Legislative effektiv kontrolliert werde. Alternativ wäre ein Wechsel zu einem parlamentarischen Regierungssystem zu erwägen – was in der Exil-Opposition tatsächlich diskutiert wird –, aber auch dies würde wohlüberlegte Designentscheidungen erfordern, denn auch hier lauern Gefahren: Einerseits könnte zu viel Macht in die Hände des Premierministers gelegt werden, womöglich noch verstärkt durch Regelungen, die die parlamentarische Mehrheitsbildung begünstigten. Andererseits könnten aber auch nicht-majoritäre Spielregeln unerwünschte Effekte haben, wie etwa das Verhältniswahlrecht: Es könnte zu instabilen Koalitionsregierungen führen, was wiederum die Regierungsperformanz beeinträchtigen und die Zentralregierung zugunsten der subnationalen Ebene entmachten würde. Partlett schlägt daher vor, auch die Alternative eines ausbalancierten parlamentarischen Systems in Betracht zu ziehen, das Steffen Ganghof als „Semi-Parlamentarismus“ bezeichnet. Ähnlich wie in Australien und Japan wird hier die Gewaltenteilung innerhalb der bikameralen Legislative erzeugt, was eine Machtkonzentration in einer auf eine einzelne Person zugeschnittenen Institution verhindert.[3]

Der internationalen Gemeinschaft empfiehlt Partlett, sich mit Interventionen in die Verfassungsgebung zurückzuhalten, da ihr dazu die Legitimität fehle und sie zudem Gefahr laufe, die Debatte zugunsten eigener Prioritäten zu verzerren oder negativ zu beeinflussen. So habe sich die internationale Kritik an den Verfassungsreformen 2020 zu sehr auf die Festschreibung des Rückzugs Russlands aus völkerrechtlichen Verpflichtungen konzentriert, während den institutionellen Veränderungen zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden sei. Indem die internationale Debatte den Eindruck erweckt habe, Russland müsse die westliche bzw. europäische Demokratie „einholen“ oder gar „kopieren“, seien zudem die Fehler der spätsowjetischen Dissidenten- und Menschenrechtsbewegung wiederholt worden. Der Autor betont, dass das Land über eine eigene demokratische Tradition verfüge, an die bei der Arbeit an einer neuen Verfassung angeknüpft werden könne, insbesondere an den etatistischen Liberalismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts (165-167, 175-178).

Verfassungen als Gebrauchsanleitungen autoritärer Regime und ihre wissenschaftliche Analyse

Partletts Lesart der Verfassung von 1993 zeigt, dass sie den Präsidenten als zentrale Institution des politischen Systems konstruiert und mit ihrem „Kleingedruckten“ den autoritären Entwicklungspfad Russlands verfassungsrechtlich ermöglicht und abgesichert hat. Sie liefert „a normative blueprint for a centralised state that rejects a political system of democratic competition and deliberation“ (70).

Seine mitunter redundante Analyse ist anschlussfähig an eine politikwissenschaftliche und verfassungsrechtliche Diskussion, die in der Vergleichenden Autoritarismusforschung seit etwa einem Jahrzehnt geführt wird. Zu ihren Erkenntnissen gehört, dass moderne autoritäre Regime nicht nur deutlich stärker als ältere nicht-demokratische Herrschaftsformen auf formale Legalität bedacht sind, sondern dass Verfassungen für sie sogar mehrere Funktionen erfüllen. Indem der Autor die Beziehungen zwischen dem Präsidenten und anderen politischen Institutionen untersucht, analysiert er die Verfassung in ihrer Funktion als „operating manual“[4] für das politische System. Tatsächlich beschreibt diese „Gebrauchsanweisung“ kein semipräsidentielles Regierungssystem, da sie den Präsidenten nicht in das System der Gewaltenteilung einbindet – was die klassische Typologie jedoch voraussetzt, indem sie ihn stets als (Teil der) Exekutive betrachtet. Partlett, der diese Einordnung zu Recht ablehnt, ist nicht der erste Autor, der auf diese klassifikatorische Fehlentscheidung hinweist.[5] Da sie sich aber in der vergleichenden Forschung bis heute gehalten hat,[6] ist seiner Argumentation eine breite Rezeption zu wünschen.

Partletts terminologischer Vorschlag, das institutionelle Arrangement Russlands (und einer Reihe anderer Länder mit ähnlich konstruierten Präsidentenämtern) als „crown-presidentialism“ zu bezeichnen, ist konsistent mit seinem Ansatz, es als Ergebnis der Kombination zweier staatstheoretischer Traditionen zu deuten. Der Versuch, die bisherigen Präsidenten Russlands anhand ihres Amtsverständnisses als Verfassungshüter und/oder Manager zu beschreiben, trägt relativ weit und ist zudem informativ, auch wenn die Interpretation von drei Jahrzehnten postsowjetischer Politik damit zwangsläufig reduktionistisch ausfällt. Ob das Label „monarchischer Präsidentialismus“ in der Forschung größere Beachtung finden wird, ist aufgrund seiner scheinbaren „Griffigkeit“ nicht auszuschließen, bleibt aber abzuwarten. Einerseits wird in den einschlägigen Regionalwissenschaften schon seit längerem von „Superpräsidentialismus“ (im postsowjetischen Raum) und „Hyperpräsidentialismus“ (in Lateinamerika) gesprochen, womit der Kern des Phänomens durchaus hinreichend klar erfasst ist. Andererseits hat keiner dieser Begriffe bisher terminologisch auf die Vergleichende Politikwissenschaft ausgestrahlt, da sie nicht in die etablierte Typologie der Regierungssysteme passen. Auch Partletts Label schafft hier keine Abhilfe.

Deutlich von der Suche nach zitierfähigen Formulierungen motiviert und zudem manipulativ erscheint schließlich die Begriffsprägung der „dark constitutional arts“, die explizit als „the sinister or duplicitous use of technique“ (16) eingeführt wird. Besteht die „dunkle Verfassungskunst“ darin, dass die jeweiligen Akteure (vorgeblich oder tatsächlich) glauben, nur eine „starke Hand“ könne Demokratie, Recht und Ordnung sichern, darin, dass es ihnen gelingt, machtkonzentrierende Regeln in die Verfassung einzuschleusen, oder dass sie – oder gar andere Akteure – sich später darauf berufen, um ihre autoritären Praktiken zu legitimieren? Alle drei Verwendungen des Begriffs finden sich in der Argumentation des Autors. Damit ist er auch in analytischer Hinsicht wertlos.

Zudem scheint Partlett nicht jede „Verfassungskunst“ für „dunkel“ zu halten, denn er unterstellt, dass die beiden von ihm skizzierten Verfassungstraditionen in jedem nationalen Verfassungsdiskurs anzutreffen sind und im Laufe der Zeit wechselnde Einflüsse ausüben (15 f.). Daher dürften wohl auch normativ akzeptable Kombinationen der aus ihnen abgeleiteten Designs möglich sein. Verfassungen wie die Russlands (und der Weimarer Republik) kodifizierten jedoch einen „Frankenstaat“, definiert als „when perfectly legal and reasonable constitutional components are stitched together to create a monster“.[7] Partlett verwendet hier eine Wendung, mit der in der rechtswissenschaftlichen Literatur häufig Verfassungskonstruktionen markiert werden, die nicht demokratieverträglich sind. Solche schiefen Rückgriffe auf Metaphern aus dem Fantasy-Genre – die sich gelegentlich auch in der Politikwissenschaft finden, wenn es um normativ abgelehnte Phänomene geht – erscheinen mir als wissenschaftliche Bankrotterklärung. Sie überschatten alle sachlichen Argumente durch die stilistisch und assoziativ erzeugte Aktivierung ablehnender Emotionen und implizieren, wollte man sie ernstnehmen, magische Kräfte als Erklärungsfaktoren für nicht-demokratische politische Dynamiken.


Anmerkungen:

[1] Council of Europe - European Commission for Democracy and Law (1994): Opinion on the Constitution of the Russian Federation adopted by popular vote on 12 December 1993. Opinion No. 981/2020 CDL-AD(2020)009. Strasbourg, online unter https://www.venice.coe.int/webforms/documents/?pdf=CDL(1994)011-e [letzter Zugriff: 26.12.2024].
[2] Law, David S.; Versteeg, Mila (2013): Sham Constitutions, in: California Law Review 101: 4, S. 863–952.
[3] Ganghof, Steffen (2018): A New Political System Model. Semi-Parliamentary Government, in: European
Journal of Political Research 57: 2, S. 261–281.
[4] Ginsburg, Tom (2020): Beyond Window Dressing. Constitutions in Authoritarian Regimes. In: Smith, Rogers M.; Beeman, Richard R. (Hg.): Democracy, Citizenship, and Constitutionalism. Philadelphia: University of Pennsylvania Press, S. 133–152.
[5] Zum Beispiel Holmes, Stephen (1993): Superpresidentialism and Its Problems, in: East European Constitutional Review 2 (4), S. 123–126; Hale, Henry E. (2015): Patronal Politics. Eurasian Regime Dynamics in Comparative Perspective. New York: Cambridge University Press, besonders S. 76-82; Stykow, Petra (2019): The Devil in the Details. Constitutional Regime Types in Post-Soviet Eurasia. In: Post-Soviet Affairs 35 (2), S. 122–139.
[6] Siehe etwa Sedelius, Thomas; Linde, Jonas (2018): Unravelling Semi-Presidentialism. Democracy and Government Performance in Four Distinct Regime Types, in: Democratization 25 (1), S. 136–157.
[7] Scheppele, Kim Lane (2013): The Rule of Law and the Frankenstate. Why Governance Checklists Do Not Work, in: Governance 26: 4, S. 559-562, hier S. 560.

 
DOI: https://doi.org/10.36206/REZ25.13
CC-BY-NC-SA
Neueste Beiträge aus
Demokratie und Frieden

Externe Veröffentlichungen

William Partlett / 14.05.2024

Über die Bedeutung der russischen Verfassung

Russland-Analysen

Ulli E. / 13.04.2024

Zementierung der präsidentiellen Macht – die Verfassung der Russischen Föderation

Demokratiegeschichten


Mehr zum Themenfeld Autokratien und Autokratisierung politischer Systeme