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Interview / 13.10.2025

Osterberg-Kaufmann und Mohamad-Klotzbach: „Wir müssen unser Verständnis von Demokratie pluralisieren, denn Menschen verstehen darunter weltweit ganz unterschiedliche Dinge“

„Das Problem ist, dass die globale Dimension dieser Umstrittenheit in der Demokratieforschung lange Zeit wenig beachtet wurde." Bild von stokpic via Pixabay.

Norma Osterberg-Kaufmann und Christoph Mohamad-Klotzbach forschen seit Jahren zu globalen Verständnissen von Demokratie. Nun haben sie mit anderen Wissenschaftler*innen das Buch „The Sciences of the Democracies“ verfasst. Darin fordern sie, unser Verständnis von Demokratie grundsätzlich zu pluralisieren. Im Interview sprechen sie über nicht-westliche demokratische Praktiken, politische Selbstwirksamkeit und wieso ein reiner Verteidigungsmodus „die Demokratie“ nicht retten wird. 

Frau Osterberg-Kaufmann, Herr Mohamad-Klotzbach, Sie beide befassen sich unter anderem mit der Pluralität von Demokratieverständnissen auf der Welt. Verstehen Menschen unter dem Begriff der „Demokratie“ überall ungefähr das Gleiche?

Osterberg-Kaufmann: Demokratie bedeutet weltweit definitiv nicht dasselbe, denn Menschen verstehen unter diesem Begriff zum Teil recht unterschiedliche Dinge. Man muss sich stets vor Augen führen, dass „Demokratie“ ein latentes und „wesensmäßig umstrittenes“[1] Konzept ist. Das bedeutet, dass Demokratie, zum Beispiel im Gegensatz zu naturwissenschaftlichen Phänomenen, nicht direkt beobachtbar ist und es sehr unterschiedliche, zum Teil sogar widersprüchliche Auffassungen darüber gibt, was damit gemeint ist. Was „Demokratie“ bedeutet und wie sie ausgestaltet wird, bleibt stets umkämpft.

Das Problem ist, dass die globale Dimension dieser Umstrittenheit in der Demokratieforschung lange Zeit wenig beachtet wurde. Obwohl gut dokumentiert ist, dass Menschen auf der Welt widersprüchliche Vorstellungen vom Konzept der Demokratie haben, gehen weite Teile der Forschung - beispielsweise bei der Erforschung von Demokratieunterstützung - häufig implizit von einem westlich geprägten, liberal-prozeduralen Demokratiemodell aus. Dieses Verständnis folgt der „Polyarchie“[2]-Definition von Robert Dahl, die sich insbesondere auf repräsentative Elemente der Demokratie bezieht. Im Mittelpunkt stehen die aus freien und fairen Wahlen hervorgegangenen Repräsentant*innen, die gegenüber ihren Wähler*innen rechenschaftspflichtig sind und wieder abgewählt werden können. Doch das Demokratieverständnis der Menschen in vielen nicht-westlichen Ländern weicht von dieser Vorstellung ab.

Wir möchten daher anders ansetzen und nachvollziehen, welche Vorstellungen von Demokratie Menschen überhaupt haben. Es geht uns um die empirisch vorliegenden Demokratieverständnisse der Bevölkerungen: Wir möchten wissen, an was die Leute denken, wenn wir sie zu Demokratie befragen, ohne ihnen vorher schon erzählt zu haben, was sie dafür halten sollen. Wie wichtig ein solches bottom-up-Verfahren ist, zeigt beispielsweise die Forschung von Saskia Schäfer, Mutmainna Syam und Lian Gogali,[3] die das Demokratieverständnis in einer indonesischen Dorfgemeinschaft untersuchen und dabei herausgefunden haben, dass die Akteurinnen vor Ort das indonesische Wort für Demokratie „demokrasi“ gar nicht benutzen, weil sie den Begriff mit der Autorität der Zentralregierung assoziieren und negativ bewerten. Dies ist nur eines von vielen Beispielen, das zeigt, dass es nicht ausreicht, Menschen zu fragen, wie sie zu „der Demokratie“ stehen.

Sie betonen die Pluralität von Demokratievorstellungen. Gibt es Ihrer Auffassung nach trotzdem einen allgemeingültigen Kern der Demokratie als gemeinsamen Nenner, der allen Demokratiekonzeptionen zugrunde liegt?

Osterberg-Kaufmann: Auch wenn wir die Universalisierung des liberal-prozeduralen Demokratieverständnis mit seinem Fokus auf Parteienwettbewerb und Wahlen kritisieren, sind wir nicht der Auffassung, dass der Begriff der Demokratie mit völlig beliebigen Inhalten gefüllt werden kann. Um die eurozentrische Verengung, aber auch das Abgleiten in Beliebigkeit zu vermeiden, schlagen wir vor, zunächst einen Schritt zurückzutreten. Statt Institutionen und Praktiken, die wir empirisch vorfinden, gleich als demokratisch oder undemokratisch zu klassifizieren, geht es aus unserer Sicht darum zu fragen, welchem Grundprinzip diese Institutionen und Praktiken dienen. So kann man beispielsweise fragen, was eigentlich das Prinzip hinter freien und fairen Wahlen ist und wird dann eventuell zu dem Schluss kommen, dass auch so manche Stammesversammlung dasselbe Prinzip verfolgt. Aus unserer Sicht könnte dieses zentrale Prinzip politische Selbstwirksamkeit lauten.[4]

Mohamad-Klotzbach: Es ist im Grunde das alte „government of the people, by the people, for the people” von Abraham Lincoln, das den „normativen Kern der Demokratie“[5] gut zusammenfasst. Auf die Frage, welche Institutionen dieses Prinzip am besten umsetzen und ob ihm vorhandene Institutionen gerecht werden, fallen die Antworten aber global sehr unterschiedlich aus.

Sie haben sich unterschiedliche Ableitungen dieses Grundprinzips in einer Studie anhand der Fälle Singapur, Ghana und Irland genauer angeschaut.[6] Was haben Sie dabei herausgefunden?

Osterberg-Kaufmann: Singapur wird meistens als elektorale Autokratie eingestuft, also als ein System, in dem zwar Wahlen stattfinden, diese aber mitnichten frei und fair sind. Die Regierungspartei PAP argumentiert, dass man im Sinne der Asian-Values-Debatte,[7] stattdessen auf deliberative und konsultative Verfahren setze, die viel besser geeignet seien, die kommunitaristischen asiatischen Vorstellungen über gesellschaftliches Zusammenleben umzusetzen. Wenn man sich diese Verfahren aber genauer anschaut, stellt man sehr schnell fest, dass ihr eigentliches Hauptziel ist, die oppositionellen Positionen klein zu halten. Politische Selbstwirksamkeit wird auf diese Weise sicherlich nicht erzielt[8] und die Menschen in Singapur nehmen dies auch entsprechend wahr. Aus anderen Studien wissen wir beispielsweise auch, dass die Bürger*innen Singapurs ein relativ substanzielles Demokratieverständnis aufweisen. Das heißt, sie verbinden Demokratie weniger mit bestimmten Verfahren als vielmehr mit bestimmten Politikergebnissen. Im Falle Singapurs werden vor allem Wohlstand und Sicherheit von den Bürger*innen mit Demokratie gleichgesetzt, das ist sicherlich ein sehr pragmatischer Zugang.[9] Daher muss man stets kritisch hinterfragen, was genau wir eigentlich messen, wenn Studien feststellen, dass die Singapurer*innen eine hohe Zustimmung zur Idee der Demokratie aufweisen.[10]

Mohamad-Klotzbach: In Ghana und Irland kann man unterschiedliche Strategien sehen, politische Selbstwirksamkeit im demokratischen Kontext auszuleben. Die Stärken der ghanaischen Demokratie liegen eindeutig in ihrer Zivilgesellschaft. Manche Beobachter*innen sprechen sogar von einer „monitory democracy“[11], die sich dadurch auszeichnet, dass es sehr viele Mechanismen gibt, die die Ausübung politischer Macht beobachten und beschränken. Wahlen sind dabei ein wichtiger Aspekt der Demokratie, aber nicht der alles entscheidende Faktor. In Irland hatten wir lange eine politische und gesellschaftliche Blockade, die dazu führte, dass das System der Parteiendemokratie nicht in der Lage war, kontroverse Fragen, wie die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe, zu bearbeiten. In den 2010er-Jahren setzte man dann stark auf Bürger*innenräte, in denen die gelosten Teilnehmer*innen miteinander diskutierten und Vorschläge erarbeiteten. In Kombination mit Elementen direkter Demokratie fand man dank dieser institutionellen Innovationen nicht nur breit akzeptierte Kompromisse, sondern erhöhte auch das Vertrauen in den politischen Prozess. Das sind Beispiele, die zeigen, dass politische Selbstwirksamkeit auf unterschiedliche Weise hergestellt werden kann. Das ist auch deshalb so wichtig, weil wir empirisch wissen, dass das Gefühl der Selbstwirksamkeit in den meisten Demokratien seit Jahren stetig sinkt und teilweise sogar ein Ohnmachtsgefühl bei den Bürger*innen verbreitet ist. Dies ist sicherlich ein wichtiger Faktor, weshalb sich populistische Parteien in fast allen Demokratien im Aufwind befinden.

In diesem Zusammenhang wird in der Öffentlichkeit und Politikwissenschaft viel über eine „Krise der Demokratie“ gesprochen. Neben dem Aufstieg des Populismus ist ein anderes Krisensymptom, das deutlich weniger Aufmerksamkeit bekommt, die gut dokumentierte Diskrepanz zwischen einer grundsätzlichen Zustimmung zur Demokratie in der Bevölkerung und einer großen Unzufriedenheit mit real existierender Demokratie bei vielen Menschen. Stecken hier auch unterschiedliche Begriffsverständnisse dahinter?

Osterberg-Kaufmann: Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Demokratiekonzeption und Krisenwahrnehmung ist sehr wichtig:[12] Was einigen als demokratische Handlung, vielleicht sogar als Vitalisierung der Demokratie gilt, interpretieren andere als undemokratisch und als etwas, was zum Niedergang der Demokratie beiträgt. Beispielsweise würden Radikaldemokrat*innen die Besetzung einer belebten innerstädtischen Straße durch Demonstrierende, um beispielsweise auf den Klimawandel aufmerksam zu machen, als einen hochgradig demokratischen Akt ansehen. Anhänger*innen einer liberalen Demokratievorstellung könnten den gleichen Protest als undemokratische Anmaßung verstehen, der die Bewegungsfreiheit der Verkehrsteilnehmer*innen verletzt.

Ein Großteil der politikwissenschaftlichen Krisendiagnosen der Demokratie fokussiert sich vor allem auf die Angebotsseite. Dabei schaut man dann auf den institutionellen Zustand der Demokratie und führt als Krisenfaktoren beispielsweise die Globalisierung, gesellschaftliche Polarisierung, sozioökonomische Ungleichheit oder kulturelle Wandlungsprozesse an. Worüber wir hingegen zu wenig wissen, ist die Nachfrageseite, also was Bürger*innen unter Demokratie verstehen und welche Konsequenzen aus diesen unterschiedlichen Verständnissen folgen. Etwas zugespitzt: Die angesprochene Entfremdung der Bürger*innen von der real-existierenden Demokratie begann Öffentlichkeit und Wissenschaft erst dann zu interessieren, als sich die vorhandenen Einstellungen in Wahlverhalten umsetzten und es zu einer unübersehbaren Abwendung von der repräsentativ-liberalen Demokratie, ihren Institutionen und Akteuren kam.

Lassen Sie uns über das Buch „The Sciences of the Democracies“ sprechen, an dem Sie beide als Autor*innen beteiligt sind und hinter dem ein größeres Projekt steckt. Welches Ziel verfolgt dieses Projekt?

Osterberg-Kaufmann: Das Projekt, das wir gemeinsam mit anderen Demokratiewissenschaftler*innen dort skizzieren, zielt darauf ab, unser Verständnis von Demokratie grundsätzlich zu pluralisieren, indem es die verschiedenen Bedeutungen von Demokratie, die sich über Zeit, Raum, Sprache, Kultur und auch Spezies hinweg finden lassen, sammelt, beschreibt und anschließend vergleicht und analysiert. Vor diesem Hintergrund kritisieren wir die Dominanz der liberal-prozeduralen Demokratiekonzeption und plädieren für eine Öffnung der Demokratie auch für marginalisierte Demokratievorstellungen sowie für eine Dezentrierung, Dekolonialisierung und Demokratisierung der Demokratieforschung selbst. Wir sehen das Projekt in der Tradition von Wissenschaftlern wie Arne Næss, Richard McKeon und Stein Rokkan, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, also kurz bevor sich das liberal-prozedurale Paradigma endgültig durchsetzte, versuchten, verschiedene Bedeutungen und Verständnisse von Demokratie auf der Welt zusammenzutragen. Es braucht mehr Wissen über globale Demokratieverständnisse, denn: „The more you know about democracies, the more you can be a democrat of some kind.”[13]

Ausgehend von der Diagnose, dass das, was unter dem Schlagwort „Krise der Demokratie“ verhandelt wird, mit einem strukturellen Mangel an Demokratie in unserer aller Leben zu tun hat, möchten wir mit dem Buch eine möglichst breite und möglichst global geführte Debatte unter Einbeziehung von Bürger*innen und Demokratiewissenschaftler*innen über die Frage initiieren, was wir eigentlich meinen, wenn wir von Demokratie sprechen.

Sie schreiben, dass es sehr viele und sehr unterschiedliche demokratische Praktiken gibt, die wir im Westen gar nicht kennen oder gar nicht als demokratisch interpretieren. Haben Sie Beispiele dafür?

Osterberg-Kaufmann: Das Beispiel aus Indonesien hatte ich schon genannt, es gibt viele weitere Formen der Organisation des menschlichen Zusammenlebens, die man als demokratische Praktiken lesen kann, auch wenn das Wort „Demokratie“ von den handelnden Akteuren vielleicht gar nicht genutzt wird. Schließlich existieren sehr viele Kulturen, die ihr Zusammenleben kollektiv organisieren, ohne sich dabei begrifflich oder ideell auf die altgriechische Polis zu beziehen. In unserem Buch sehen einige Autor*innen demokratische Praktiken auch bei nicht-humanen Spezies, also beispielsweise in der Pflanzen- und Tierwelt. 

Mohamad-Klotzbach: Es gibt ein Buch des Verhaltensforschers Thomas Seeley mit dem Titel „Bienendemokratie“[14], das untersucht, wie Bienen kollektive Entscheidungen, etwa zur Nahrungssuche, treffen. In anderen Bereichen wie den Ingenieurswissenschaften ist es gang und gäbe, sich Dinge in der Tierwelt abzuschauen. Beispielsweise programmieren Neurowissenschaftler*innen und Bioinformatiker*innen Flugroboter nach Vorbild der Neuronen, die im Gehirn einer Honigbiene für das Sehen und die Orientierung zuständig sind.[15] Weshalb sollten sich nicht auch Demokratieforscher*innen Inspiration aus der Tierwelt holen?

Insbesondere seit den Erfolgen rechtspopulistischer und rechtsradikaler Parteien gibt es auch aus der Politikwissenschaft die Forderung, gerade in solchen Zeiten müsse die Demokratieforschung dabei helfen, „die Demokratie“ zu verteidigen. Laufen Sie mit Ihrem Ansatz nicht Gefahr, den Begriff der Demokratie zu verwischen und sie so unfreiwillig zu untergraben?

Osterberg-Kaufmann: Natürlich gibt es diese Kritik, aber wir sind der Auffassung, dass es statt der Bewahrung des Status quo einer demokratischen Evolution, also einer Weiterentwicklung, bedarf. Wenn wir in die westliche Demokratiegeschichte blicken, hat der Demokratiebegriff schon mehrere umfassende Bedeutungswandlungen erlebt. Demokratie war in der Antike ausschließlich kleinräumig und direktdemokratisch denkbar. Vergleichbare Formen politischer Ordnung – Versammlungen auf Dorf- oder Stadtstaatebene – gab es nicht nur in Athen, sondern an unterschiedlichen Stellen des Mittelmeerraums sowie in Afrika und Indien. Erst ab dem 18. Jahrhundert kam das Modell der großräumigen und daher repräsentativen Demokratie überhaupt in die Welt. Wieso sollte man davon ausgehen, dass sich Demokratie nicht weiter verändern wird?[16] Natürlich wird die Ausweitung des Demokratiediskurses über den westlichen Kontext hinaus und die damit einhergehende Inklusion von marginalisierten Demokratieverständnissen zu Konflikten und einem Veränderungsdruck auf unser bisheriges Bild von Demokratie führen. Ich betrachte das aber als eine begrüßenswerte und notwendige Weiterentwicklung.

Mohamad-Klotzbach: Dies gilt nicht nur beim Blick hinaus in die Welt. Angesichts des Aufstiegs nationalistischer und populistischer Strömungen in quasi allen liberaldemokratischen Systemen, sollte man sich nicht in einem Verteidigungsmodus verschanzen, sondern kritisch reflektieren, woher diese Unzufriedenheit kommt und ob man ihr nicht mittels einer Vertiefung der Demokratie beikommen kann. Schließlich beobachten wir seit dem Ende der 1990er Jahre einen Rückgang der Demokratiezufriedenheit und Schwankungen im Hinblick auf das Vertrauen in die Demokratie. Dies zeigten auch die Bände von Pippa Norris[17] und Brigitte Geißel[18] zu den „critical citizens“ bzw. den kritischen Bürger*innen in den westlichen Demokratien. Die Entkopplung von politischen Entscheidungsträger*innen und den Bürger*innen wurde von Colin Crouch[19] in den 2000ern mit seiner „Postdemokratie“-These prominent vertreten. Dies waren alles empirische und theoretische Befunde, die bereits früh den Finger in die Wunde der liberal-repräsentativen Demokratie legten, die ihren Versprechen zunehmend nicht mehr gerecht wurde und lauter werdenden Forderungen nach einer Demokratisierung der liberalen Demokratie gegenüberstand. Die politische Situation in westlichen Demokratien, wie wir sie jetzt erleben, hat ihren Ursprung in diesen Entwicklungen – verstärkt durch die ökonomischen, politischen, sozialen und ökologischen Krisen der letzten rund zwanzig Jahre.   

Der Politikwissenschaftler Veith Selk hat in seinem Buch „Demokratiedämmerung“[20] prognostiziert, dass der eingeläutete Niedergang der Demokratie zu einer Paradigmenkrise der Demokratietheorie und schließlich zu ihrem Verfall als akademischer Disziplin führen werde. Auch Sie diagnostizieren ein Ende des bisherigen demokratischen Paradigmas, sehen in einer pluralisierten und demokratisierten Demokratieforschung aber sogar einen entscheidenden Schlüssel für eine rosige demokratische Zukunft. Haben Sie einen optimistischen Gegenentwurf zu „Demokratiedämmerung“ vorgelegt und wie sehen Sie das Verhältnis von Demokratieforschung und Demokratie?

Osterberg-Kaufmann: Ich denke, dass Veith Selk und wir durchaus ähnliche Diagnosen haben, daraus aber unterschiedliche Schlüsse ziehen. Selk zeichnet in seinem Buch die Suchbewegungen, die innerhalb der Demokratietheorie stattfinden, nach und sieht ein post-demokratisches Paradigma am Horizont aufscheinen. Wir plädieren hingegen für eine Öffnung der gegenwärtigen paradigmatischen Verengung auf die liberal-prozedurale Demokratie, denn: Wenn wir ernstnehmen, dass Demokratie ein „wesensmäßig umstrittenes“ Konzept ist, dann kann es auch nicht das eine Paradigma geben, auf das sich die Demokratieforschung als „normale Wissenschaft“ im Sinne des Wissenschaftsphilosophen Thomas Kuhn bezieht. Wir sehen die Demokratie nicht an ihr Ende gekommen, sondern betonen ihr Weiterentwicklungs- und damit auch ihr Überlebenspotenzial.

Mohamad-Klotzbach: Generell müssen wir als Wissenschaftler*innen aufpassen, dass wir Krisennarrative nicht übereilt reproduzieren und den Abgesang der Demokratie nicht zu leichtfertig anstimmen. Wir sprechen beispielsweise zu selten darüber, dass die Idee der Demokratie, verstanden als System zur Herstellung politischer Selbstwirksamkeit, weiterhin enorm hohe Zustimmung findet. Das Versprechen der Demokratie ist für sehr viele weiterhin sehr attraktiv, aber es gibt eben unterschiedliche Vorstellungen, was genau daraus folgt, und dies muss gesellschaftlich offen und informiert verhandelt werden.


Anmerkungen:

[1] Gallie, Walter B. (1956): “Essentially Contested Concepts”, in: Proceedings of the Aristotelian Society 56, S. 167-198.

[2] Dahl, Robert A. (1989): Democracy and Its Critics, London: Yale University Press.

[3] Schäfer, Saskia/ Syam, Mutmainna/ Gogali, Lian (2025): Living together beyond liberal democracy. examples of local decision-making and managing resource extractivism in Indonesia, in: Frontiers in Political Science Volume 7 – 2025.

[4] Osterberg-Kaufmann, Norma/ Stark, Toralf/ Mohamad-Klotzbach, Christoph (2023): Conceptualizing Difference. The Normative Core of Democracy, in: Democratic Theory 10, 1, S. 72-90.

[5] Osterberg-Kaufmann, Norma/ Stark, Toralf/Mohamad-Klotzbach, Christoph (2024): Configurations of democracy - empirical and methodological insights from a comparison of Singapore, Ghana, and Ireland, in: Frontiers in Political Science 6.

[6] Mohamad-Klotzbach, Christoph/ Osterberg-Kaufmann, Norma/ Stark, Toralf (2023): Conceptualizing Difference. The Normative Core of Democracy, in: Democratic Theory 10 (1), S. 72-90.

[7] Kausikan, Bilahari (1997): Hong Kong, Singapore, and “Asian Values”. Governance That Works, in: Journal of Democracy 8, Nr. 2, S. 24-34.

[8] Osterberg-Kaufmann, Norma/ Stark, Toralf/Mohamad-Klotzbach, Christoph (2024): Configurations of democracy - empirical and methodological insights from a comparison of Singapore, Ghana, and Ireland, in: Frontiers in Political Science 6.

[9] Osterberg-Kaufmann, Norma/ Teo, Kay Key (2022): Uncoupling Conceptual Understandings and Political Preferences. A Study of Democratic Attitudes among Singapore's Highly Educated Young People, in: Pacific Affairs, S. 497-526.

[10] Osterberg-Kaufmann, Norma/ Stadelmaier, Ulrich (2020): Measuring Meanings of Democracy—Methods of Differentiation, in: Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft 14 Nr. 4.

[11] Keane, John (2011): Monitory democracy? in: Alonso, Sonia/ Keane, John/ Merkel, Wolfgang (Hg.) The future of representative democracy, Cambridge: Cambridge University Press, S. 212–235.

[12] Ercan, Selen/ Gagnon, Jean-Paul (2014): The Crisis of Democracy. Which Crisis? Which Democracy, in: Democratic Theory, 1 (2), S. 1-10.

[13] Jean-Paul Gagnon/ Abrams, Benjamin et al. (2025): The Sciences of the Democracies. London: UCL Press, S. 4. 

[14] Seeley, Thomas D. (2015): Bienendemokratie. Wie Bienen kollektiv entscheiden und was wir davon lernen können, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlage.

[15] Gagnon, Jean-Paul (2015): Non-human Democracy. our political vocabulary has no room for animals, in: The Conversation, online unter: https://theconversation.com/non-human-democracy-our-political-vocabulary-has-no-room-for-animals-51401 [letzter Zugriff: 01.10.2025].

[16] Weiß, Alexander (2015): Die Kanonisierung der westlichen Demokratietheorie. Drei Beispiele vernachlässigter nicht-westlicher Klassiker. Sim.n Bol.var, Sun Yat-sen, Bhimrao Ramji Ambedkar, in: Die Stimme des Intellekts ist leise. Klassiker/innen des politischen Denkens abseits des Mainstreams, Reese-Schäfer, Walter/ Salzborn, Samuel (Hg.). S. 55–80. Wiesbaden: Nomos.

[17] Norris, Pippa, Hrsg. (1999): Critical Citizens. Global Support for Democratic Governance. Oxford: Oxford University Press.

[18] Geißel, Brigitte (2011): Kritische Bürger: Gefahr oder Ressource für die Demokratie? Frankfurt am Main: Campus Verlag.

[19] Crouch, Colin (2008): Postdemokratie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

[20] Selk, Veith (2023): Demokratiedämmerung. Eine Kritik der Demokratietheorie, Berlin: Suhrkamp.



DOI: https://doi.org/10.36206/IV25.6
CC-BY-NC-SA