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Rezension / 17.06.2024

Philip Manow: Unter Beobachtung. Die Bestimmung der liberalen Demokratie und ihrer Feinde

Berlin, Suhrkamp 2024

Anders als der Mainstream der politikwissenschaftlichen Krisenliteratur schließt Philip Manow nicht an die gleichsam bekannten wie ineffektiven Bewältigungsstrategien an, urteilt unserer Rezensent Dirk Jörke: Mit seiner Diagnose einer durch die Überkonstitutionalisierung der Politik seit den 1990er-Jahren einhergehenden Entpolitisierung gelinge es Manow dagegen, zur Aufklärung über die gegenwärtige Krise beizutragen – auch wenn das Werk mit Blick auf die historische Einordnung der Demokratie selbst Leerstellen aufweise.

Schaut man auf die Vielzahl von Publikationen zum Thema „Krise der Demokratie“, die in den vergangenen Jahren den politikwissenschaftlichen Büchermarkt fluteten, so stellt sich rasch eine große Ermüdung ein. Immer wieder werden die gleichen Narrative über die bösen „Populisten“ bzw. die Demagogen, die das unwissende Elektorat verführten, erzählt und immer wieder findet sich auf den letzten Seiten der pastorale Appell, dass „wir“ unsere Demokratie verteidigen sollen. Zudem solle durch mehr politische Bildung das „dumme Volk“ zur Räson gebracht oder aber durch institutionelle Schutzwälle „die“ Demokratie vor ihren „populistischen“ Feinden gerettet werden. So hat Herfried Münkler (2022) etwa vorgeschlagen, alle Bürgerinnen und Bürger durch ein verpflichtendes Medientraining gegen Fake-News zu „immunisieren“ und Armin Schäfer und Michael Zürn (2021) erhoffen sich die Rettung der Demokratie durch eine „Förderung von Ambiguitätstoleranz“. Beispiele für die Forderung nach Schutzwällen sind etwa die aktuelle Diskussion zur Absicherung des Verfassungsgerichtes vor falschen Übernahmen oder aber auch Colin Crouchs (2021) Bekenntnis zum europäischen Supranationalismus als Barriere gegen eine vermeintliche Mehrheitstyrannei auf nationaler Ebene.

Von derartigen sowohl blauäugigen wie bisweilen dezidiert antidemokratischen Bewältigungsstrategien hebt sich das neue Buch des Siegener Politikwissenschaftlers Philip Manow wohltuend ab. Bereits in zwei früheren Publikationen von ihm ließen sich die Vorzüge einer zunächst einmal distanzierten Betrachtungsweise der gegenwärtigen politischen Auseinandersetzungen nachlesen. So hat Manow in „Die Politische Ökonomie des Populismus“ in vergleichender Perspektive auf den Globalisierungsdruck sowie die jeweiligen sozialstaatlichen Rahmenbedingungen als wesentlichen Faktoren der Genese „populistischer“ Revolten hingewiesen. In „(Ent-)Demokratisierung der Demokratie“ wurde man nicht nur auf die Paradoxien einer Entfesselung vermeintlich demokratischer Partizipation, sondern auch auf die Wiederkehr des „Pöbeldiskurses“ aufmerksam gemacht, beides wichtige Korrekturen des öffentlichen wie auch der politikwissenschaftlichen Debatte.

Mit „Unter Beobachtung“ bleibt Manow dieser Linie einer politikwissenschaftlichen Aufklärung treu. Die Kernthese besteht darin, dass der „Populismus“ weniger die Demokratie bedrohe, als dass er ein Effekt – Manow schreibt von einem „Gespenst“ (26) – einer ganz spezifischen Ausprägung der Demokratie sei, nämlich das, was gemeinhin als „liberale Demokratie“ bezeichnet, wenn nicht beschworen wird. Diese „liberale Demokratie“ stelle – so die zentrale These Manows – jedoch eine Erfindung der jüngeren Zeit dar. Insbesondere mit dem Epochenumbruch von 1989 lasse sich nicht nur eine deutliche Steigerung der Rede von der „liberalen Demokratie“ in Öffentlichkeit und Politikwissenschaft, sondern auch eine rasante Zunahme europäischer Länder mit Verfassungsgerichten beobachten, die mit Normenkontrollkompetenzen ausgestattet sind. Letzteres bedeute eine Schwächung demokratisch gewählter Parlamente zugunsten einer juristischen Elite von Verfassungsinterpreten. Hinzu komme der gerade seit den 1990er-Jahren stetig voranschreitende Prozess der europäischen Supranationalisierung, der durch seine „Überkonstitutionalisierung“ (Dieter Grimm) zentrale Bereiche weitgehend entpolitisiert habe.

Allerdings unterlässt es Manow an dieser Stelle der Argumentation, auf den Zusammenhang der supranationalen Verrechtlichung mit der Durchsetzung eines neoliberalen Wirtschaftsmodells einzugehen. Vielmehr wendet er sich dezidiert dagegen, „alle Krisen unserer Zeit pauschal einem wirtschaftlichen Neoliberalismus zuzurechnen“ (22). Doch gerade das Zusammenwirken von Überkonstitutionalisierung und Neoliberalismus dürften für die gegenwärtigen politik-ökonomischen wie politik-kulturellen Spaltungstendenzen in und zwischen den Mitgliedsländern der Europäischen Union verantwortlich sein, werden dadurch doch Gewinner und Verlierer produziert, etwa auf den Arbeits- und Wohnungsmärkten. Claus Offe (2016) spricht mit Blick auf die Wirtschaftsordnung der EU entsprechend von einer „Neoliberalisierungsmaschine“.

Das zeigt sich nicht zuletzt in den als sakrosankt geltenden vier Grundfreiheiten (freier Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr), über deren Durchsetzung in den Mitgliedsländern der Europäische Gerichtshof wacht wie die „Nächtliche Versammlung“ in Platons „Nomoi“ über die Gesetzestreue in Magnesia. Von besonderer demokratieschädlicher Bedeutung ist dabei Artikel 63 im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, in dem die Kapitalverkehrsfreiheit, auch mit Blick auf Drittstaaten, festgeschrieben ist.

Sehr aufschlussreich ist hingegen Manows Analyse des Machtgewinns nationaler Verfassungsgerichte durch die Schützenhilfe des Europäischen Gerichtshofs, was zu einer erheblichen Machtverschiebung in den nationalen Arenen zu Lasten der Parlamente und der Regierungen geführt habe (125ff.). Vor diesem Hintergrund sei es dann auch verkürzt, die Bemühungen von gewählten Regierungen wie in Polen und Ungarn, die Macht ihrer Verfassungsgerichte einzuschränken, mit Angriffen auf „die“ Demokratie gleichzusetzen. Was dabei angegriffen werde, so die These von Manow, sei vielmehr ein spezifisches institutionelles Setting, welches eben als „liberale Demokratie“ bezeichnet werde, sich aber durch die Zunahme von demokratiebegrenzenden Elementen auszeichne. Der „Populismus“ sei entsprechend als Versuch einer Repolitisierung, vielleicht sogar, auch wenn das nur zwischen den Zeilen angedeutet wird, einer „Redemokratisierung“ zu deuten, der sich gegen den „Paternalismus des >liberalen< Projektes“ (168) zur Wehr setzt.

Manows Analyse ist ebenso erhellend wie provokativ, wodurch sie sich vom politikwissenschaftlichen Mainstream abhebt. Zudem ist das Buch voll mit klugen Beobachtungen, etwa die zu den politikverengenden Effekten von „Schwellenwerten und Kennziffern“ (168), zu den in den Sozialwissenschaften weitverbreiteten „Verschwörungstheorien zweiter Ordnung“ (142), zur politischen Wirkmächtigkeit politikwissenschaftlicher Bezeichnungen und Redeweisen oder auch zur Notwendigkeit der Historisierung unserer Demokratiekonzepte (9ff.). Manow verspricht vor diesem Hintergrund eine „wirkliche Historisierung von Standpunkten und Überzeugungen“ (30).

Nicht von ihm historisiert wird jedoch die Demokratie als solche, also die Möglichkeit, dass die Demokratie, sei es die von Manow bevorzugte elektorale oder aber die liberale, vielleicht insgesamt historisch überholt sein könnte. Die Demokratie hat sich in den uns bekannten Formen erst seit Ende des 18. Jahrhunderts entwickelt, zuvor war sie über mehrere Jahrhunderte hinweg in Europa schlichtweg nicht existent. Und es könnte sein, dass sie irgendwann wieder aufhört zu existieren und die „liberale Demokratie“ nicht mehr als ein Übergangsphänomen darstellt. Zumindest bestehen gegenwärtig wenig Anzeichen dafür, dass die Rückeroberungsversuche, die von den liberalen Eliten als „populistisch“ denunziert werden, angesichts der vielfältigen „negativen Sperrklinkeneffekte“ (Selk 2023) erfolgreich sein könnten. Dennoch – oder vielleicht auch gerade deswegen, wie man bei Manow lernen kann – wächst der Widerstand gegen die liberalen Entpolitisierungen.  Das jedoch eröffnet Möglichkeiten für autokratische Entwicklungen mit scheindemokratischen Wahlen, nicht nur in den viel gescholtenen osteuropäischen Staaten, sondern auch in jenen Ländern, die ihren „liberalen Werte“ verteidigen oder, nur scheinbar paradox ausgedrückt, gerade indem sie ihre „liberalen Werte“ verteidigen.


Literatur

  • Crouch, Colin (2021): Postdemokratie revisited, Berlin: Suhrkamp.
  • Münkler, Herfried (2022): Die Zukunft der Demokratie, Wien: Brandstätter Verlag.
  • Offe, Claus (2016): Europa in der Falle, Berlin: Suhrkamp.
  • Schäfer, Armin/ Zürn, Michael (2021): Die demokratische Regression, Berlin: Suhrkamp.
  • Selk, Veith (2023): Demokratiedämmerung. Eine Kritik der Demokratietheorie, Berlin: Suhrkamp.

 

DOI: https://doi.org/10.36206/REZ24.3
CC-BY-NC-SA
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