Dirk Jörke / Oliver Nachtwey (Hrsg.): Das Volk gegen die (liberale) Demokratie. Populismus als Krisensensor
In diesem Band wird der aktuelle Diskurs um einen (vermeintlichen?) Antagonismus zwischen dem populistischen, strikt majoritären Verständnis von Demokratie und der liberalen Demokratie aufgegriffen. Neben theoretischen Hinführungen zum Phänomen des Populismus und Erörterungen über dessen Erscheinungsformen und Funktion als Krisensensor finden sich mehrere empirisch ausgerichtete Beiträge, etwa über die ungarische Fidesz-Partei, über Pegida und die AfD. Aus den Analysen ist die implizite Warnung herauszulesen, die Kritik der Populisten und ihrer Anhängerschaft nicht zu ignorieren.
Populismus ist in Deutschland wie in Europa in aller Munde – und ein Sammelband über den (vermeintlichen?) Antagonismus zwischen dem populistischen, strikt majoritären Verständnis von Demokratie und der liberalen Demokratie ist auch wissenschaftlich auf der Höhe des Diskurses, denn genau dieser Gegensatz wird auch in etlichen Forschungsarbeiten der jüngeren Zeit intensiv diskutiert. Vor diesem Hintergrund kann dieser Leviathan-Sonderband schon allein deshalb als ausgesprochen wertvoll bezeichnet werden.
Die Herausgeber haben sich dafür entschieden, zwei empirisch angelegte Abschnitte von zwei weitgehend ideengeschichtlichen beziehungsweise theoretischen Abschnitten umschließen zu lassen. Der erste Teilabschnitt dient dementsprechend als gedankliche, theoretische Hinführung zu dem schillernden, nicht selten als „Chamäleon“ titulierten Phänomen des Populismus – denn um nichts anderes geht es natürlich bei der Erwähnung des „Volkes“ im Titel des Bandes. Dass der moderne Populismus nicht allzu viel mit dem antiken „Demagogentum“ zu tun hat, wird dabei zunächst von Michael Sommer anschaulich dargestellt, bevor John P. McCormick sogleich den Finger in die Wunde aktueller Krisenerscheinungen der modernen Demokratie legt. Schon mit diesem Beitrag wird ein positives Charakteristikum des gesamten Bandes deutlich – er ist kein aufgeregter „Anti-Populist“, vielmehr geht es den Herausgebern wie den Autoren ganz offensichtlich um eine nüchterne Betrachtung des Phänomens. Eine solche kann eben die Augen auch nicht vor den offensichtlichen Schwächen, ja Defekten der modernen Massendemokratie verschließen – oder sollte es eher heißen, der „mehrheitsdemokratisch legitimierten Elitenherrschaft“? Etwas weniger im Mainstream der Diskussion befindet sich schließlich der dritte Beitrag des ersten Abschnitts, in dem sich Tobias Müller in anspruchsvoller Weise mit einer Schrift Jean-Claude Michéas befasst.
Für den empirisch orientierten Leser ausgesprochen spannend sind jedenfalls die sechs Beiträge der folgenden beiden Abschnitte. Hier sei besonders der Beitrag von Klaudia Hanisch über die Hintergründe des Erfolgs der ungarischen Fidesz-Partei erwähnt, ein Phänomen, das vielen westlichen Betrachtern noch immer wenig verständlich ist. Hanisch macht deutlich, dass es weniger der auch von Viktor Orbán stets hervorgehobene Illiberalismus sein dürfte, der seine Wähler überzeugt hat, sondern die wirtschaftlichen und sozialen Maßnahmen zugunsten der von den Reformen der 1990er-Jahre gebeutelten Mittelschicht. Hier wird deutlich, dass unter diesem „Anti-Liberalismus“ eben nicht ausschließlich eine Ablehnung minderheitsschützender Institutionen zu verstehen ist, sondern gerade die ökonomische Seite des Liberalismus im Fokus der Populisten steht – was wiederum eine klare Zuordnung entsprechend dem klassischen Links-Rechts-Schema erschwert. In diesem Zusammenhang ist das Ergebnis der Studie von Werner Krause et al. wohl so zu lesen, dass sich die wirtschafts- und sozialpolitischen Wünsche der Wähler linkspopulistischer Parteien von jenen ihrer rechtspopulistischen Counterparts vor allem dadurch unterscheiden, dass sie noch weitaus stärker als Erstere auf eine Umverteilung und damit auf Maßnahmen zugunsten der unteren Mittelschicht und der im ökonomisch-sozialen Sinne „Armen“ einer Gesellschaft abzielen. In eine ähnliche Forschungsrichtung – auf die Motive der Unterstützer populistischer Bewegungen zielend – geht die Studie von Hans Vorländer et al. über die Pegida-Bewegung in Dresden, wobei hier, stärker noch als bei Krause et al., die sozio-kulturelle Komponente speziell des Rechtspopulismus deutlich wird.
Nicht ganz neu, aber präzise zugespitzt, sind die Überlegungen der Herausgeber im folgenden Beitrag, hinsichtlich der nur auf den ersten Blick überraschenden Wählerwanderung von sozialdemokratischen zu rechtspopulistischen Parteien, die vor allem mit der Hinwendung der Ersteren zu neoliberalen Positionen erklärt wird. Dazu passen die Ergebnisse der nachfolgend präsentierten Studie von Heinz Bude und Philipp Staab, die deutlich machen, dass es vor allem Abstiegssorgen sind, die – wie es in einem jüngst veröffentlichten Beitrag heißt – die AfD zur Partei der sich „ausgeliefert fühlenden Durchschnittsverdiener“1 macht. Dieses Gefühl des Ausgeliefertseins, so lässt sich mit der Studie von Cornelia Koppetsch feststellen, hat in Europa wie den USA viel mit der bereits erwähnten Neoliberalisierung und Globalisierung zu tun, ein Ergebnis, das auch von Martin Seeligers Untersuchung der Deutschrock-Band „Frei.Wild“ getragen wird.
Die drei abschließenden, theoretisch angelegten Beiträge lassen sich wohl gut mit der in der Forschung gegenwärtig ebenfalls intensiv diskutierten Frage nach dem Nutzen des Populismus als Krisensensor zusammenfassen. Dies, so die Autoren der drei Beiträge, Kolja Möller, Olaf Jann und Claire Moulin-Doos, sei zweifellos der Fall. Es sei wesentlich, die keineswegs immer „dünne“ oder gar absurde Kritik der Populisten, ob von links oder rechts, an „Elitenherrschaft“ und Oligarchie von der Wissenschaft, der Publizistik und der Politik nicht einfach von der Hand zu weisen. Möglicherweise schließt freilich Moulin-Doos dabei etwas über das Ziel hinaus, wenn sie mit Chantal Mouffe die gegenwärtige Herrschaftsform in den westlichen Staaten gar nicht als demokratisch, sondern als „liberale Aristokratie“ bezeichnet (308). Hier scheint doch das Kind mit dem Bade ausgeschüttet und ignoriert zu werden, dass Aristokratien klassischer Prägung in der Regel keine Wahlen durchgeführt haben und damit eben gerade nicht durch das Volk legitimiert wurden. Der impliziten Warnung aller drei Autoren hingegen, die Kritik der Populisten (und ihrer Wähler!) nicht zu ignorieren, um nicht am Ende immer größere Teile der Bevölkerungen von der liberalen, und damit pluralistischen, rechtsstaatlichen und minderheitsschützenden Demokratie zu entfremden, ist wohl nichts hinzuzufügen.
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1 Knut Bergmann / Matthias Diermeier / Judith Niehues: Die AfD: Eine Partei der sich ausgeliefert fühlenden Durchschnittsverdiener?, ZParl 1/2017: 57-75.
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